_
Wir beginnen mit zwei (zumindest zum Teil) deutschen Produktionen: Als erstes hätten wir da "Human Intelligence Live"(Intakt) von CHRISTOPH IRNIGERs Quintett PILGRIM. Der Schweizer Tenorsaxophonist hat an seiner Seite u.a. Dave Gisler und dessen Gitarre begeistert schon im opener "Hendrix" auf einer soliden p-b-dr-Grundlage mit Soli im Stile des Namengebers. Die 2023 live und ohne feste set-list in einem Jazzclub in Bad Meinberg aufgenommene Platte ist keine der großen Ausbrüche, sondern eher eine der feinen KlangErkundungen, wie sich z.B. bei "Secret Level" nachhören lässt. Die 13minütige KurzSuite "Seven Down Eight Up" hingegen durchlebt die Freiheiten des Jazz in allen hier beteiligten Instrumenten, hat aber auch elegische und klassisch-rhythmische Teile. Kann man so machen! 4Ähnliches lässt sich vom im Kölner "Loft" aufgenommenen "Rhythm Riot" (Jazzsick) des Trios um den Pianisten CHRISTIAN PABST sagen. Hier federt unter den KlavierLinien und dem zurückhaltend-soliden Schlagzeug (Erik Kooger) André Nendza's feiner Kontrabass. 4
Verglichen mit dem vom norwegischen SchlagzeugBerserker und den niederländischen GitarrenTerroristen sonst Gewohnten ist das, was der PAAL NILSSEN-LOVE CIRCUS WITH THE EX GUITARS zu Beginn von "Turn Thy Loose" (PNL) erklingen lässt, beinahe brav. Aber das ändert sich recht schnell und aus kurzen TonSchnipseln erwächst bald eine große, hier aber doch immer auch melodiös eingehegte (hört die erste Hälfte von "Bota Fogo"!) FreeJazzOrgie. Trompete, AltSax, Akkordeon, akustische und elektrifizierte Bässe, PNLs Schlagzeug und die The Ex-GitarrenFraktion samt der experimentellen Sängerin Juliana Venter spielen sich Schritt für Schritt in und durch die Ekstase! Inkl. "the band's new mosh pit dance piece, "Calls: Let They Free!" ". 5
QUENTIN ROLLET & JEROME LORICHON verbinden auf "Planisphère" (Prohibited) SchrillJazzBläsereien mit ElektroLärm. Rollet lässt überblasenes SaxFauchen zu einem bedrohlichen Röcheln werden und schiebt zarte MelodieLinien über indefinente Geräusche, die Lorichon u.a. einem Buchla 208 entlockt. Die Rückseite ist etwas, ähm, - nunja! - beatlastiger oder rhythmischer wäre völlig verkehrt, vielleicht: Schlag-orientierter. Obschon auch hier diverse Kunstfertigkeiten aus BlasinstrumentenMundstücken den GesamtKlang dominieren. 5
Wenn die Trompeterin Hilde Marie Holsen und Magnus Bugge (AnalogSynths) als BILAYER gemeinsam musizieren, geschieht für gewöhnlich Magisches. "Illrie" (Aurora) ist ihre zweite Kollaboration mit der ebenso abenteuerlustigen AvantStreicherin SARAH-JANE SUMMERS. Es beginnt mit fein texturiertem OberflächenLärm, in den sich nach ca. 2 Minuten eine wunderbare BratschenLinie schleicht. In "Stifølgje" (die Bezeichnungen der Stücke verweisen jeweils auf alte westnorwegische Dialektworte) greift etwas nordische Folklore und in "Aminje" verschwimmt die Violine dann zu einem zart beißenden Pfeifen. Sehr schön. 5
Auch bei "Peak Plastique" (Unsounds) gesellt sich eine Geigerin zu einem eingespielten Duo. ANNA McMICHAEL spielt hier mit Erik Griswold (p) und Vanessa Tomlinson (perc.) aka. CLOCKED OUT eine fein zwischen Minimal Music und experimenteller Avantgarde ausgependelte Musik. Schade, dass es die "nur" als download gibt. 4
SULLIVAN JOHNS "Pitched Variations" (Moving Furniture) erscheinen in der "Contemporary Series" des Amsterdamer Feinschmeckerlabels und genau da gehören sie auch hin. Wir hören lang stehende StreicherTöne, zu denen sich mal früher mal später eine zweite Stimme gesellt. Dazu treten (verfremdete) FagottSounds und sehr sparsame Elektronik (die dann am ehesten als Rückkopplung oder EndlosDelay). Dem Grunde nach bin ich von sowas ja ein großer Fan, hier befällt mich ab und an jedoch eine gewisse Langeweile. Wobei der "Bassoon Pitch" - wenig überraschend (ich liebe das Fagott!) - in seiner Verschachtelung von kurzen tiefen Stößen und in jedem Sinne höheren Erwiderungen schon sehr geil ist. 4
Aber wir waren ja eben schon mal (fast) bei Minimal Music. Dieser rechnet mancher auch das Werk von YANN TIERSEN (zumindest in Teilen) zu – ich lasse hier mal offen, ob das musikwissenschaftlich korrekt ist. Sicher ist hingegen, dass die neue Arbeit des Bretonen sehr interessant ist. Denn nach knapp 45 Minuten feinsinnlich-impressionistischer (von der zerkauten Banalität einer "Amélie" weit entfernter) KlavierTräumereien zeigt Tiersen auf "Rathlin From a Distance | The Liquid Hour" (Mute) unvermittelt sein anderes Gesicht: nachdem man die besagte Dreiviertelstunde aus der Ferne auf die bei Birdwatchern beliebte schottische Insel Rathlin gestarrt hat, beginnt nun nämlich die semi-elektronische "flüssige Stunde". Ein "Stourm" weht über den "Caledonian Canal", StreicherPatterns oszillieren um kurze BläserMelodien, die sich in ein elektronische Klopfen und Rauschen auflösen, aus dem schließlich ein beinahe clubtaugliches Stampfen, Dudeln und mechanisches Singen wird. Es pluckert eine drum-machine, SynthBässe strukturieren tief unten die scharfen Samples, "Arne" verhallt nach einem kurzen ClubSchub in einem FrauenSeufzer. Die diesen ebenfalls knapp viertelstündigen Teil bestimmende Verbindung von Beats, DreamVocals und ElektroExperiment funktioniert wirklich hervorragend. Chapeau, Monsieur Tiersen! 5
Die Verschränkung von elektronischer (Club)Musik und JazzELementen ist auch das Ziel der selbstverlegten CD "Erratic Erosion" von der Brüsseler "Neoclassical/Acoustic/Ambient/Jazz"-Formation NITE KITE. Wir hören TraumPiano-getriebenen, schmusetauglichen ElektroJazz, bei "The Dancer" mit smoothem BarSängerinnenGesang und bei "Shy Away" mit einem nett-dezenten Blubbern. Knusprige samples und wohlige SynthFlächen über zarter Schlagzeugarbeit, ein prägnanter, oft akustischer Bass – das ist alles nicht schlecht und bereitet dem stimmführenden Klavier ein schönes Lager. Im vom befreundeten Kleinkünstler Niels Boutsen aka. Stoomboot gemeinsam mit Nite Kite-Chanteuse Ruth Kennivé flämisch gesungenen "Laat Me Achter" kulminiert das Ganze in gesetzter, aber doch spannender Sepia-Filter-Ruhe. 4
DEMIAN DORELLI spielt nach "Pink Moon", der letzten, nun auch Nick Drakes erste Platte "Five Leaves Left" als "echoes on solo piano" (Ponderosa). Nick Drake ist nicht ohne Grund einer der berühmtesten "Musicians Musicians", aber diese feingliedrigen PianoArrangements seiner Songs sind hier eben doch "nur" schön und eher was für eine stilsichere Berieselung aus dem Hintergrund. 3
Anders das EMIL BRANDQVIST TRIO, das auf "Poems For Travellers" (Skip) einmal mehr (s)eine bestens austarierte Balance aus Anspruch und Gefälligkeit hinkriegt. Das vom Trommler Brandqvist angeführte KlavierTrio spielt geschickt mit den Tempi, zieht hier an, verzögert dort, lässt dem Bassisten Max Thornberg Raum für sein stringentes, aber gefühlvolles Spiel und bietet dem finnischen PianoMann Tuomas A. Turunen jede Menge Platz für mal perlende, mal auch zupackendere KlavierMomente. Träumerische Finesse für den gehobenen Genuss! 4
Für eben jenen Genuss ist auch das Porträt bestens geeignet, das die französische Mezzosopranistin EVA ZAÏCIK auf der CD "Rebelle"(Alpha) von ihrer berühmten Kollegin Célestine Galli-Marié (1837-1905) zeichnet. Jene sang u.a. die Titelpartie bei der Uraufführung von "Carmen", galt als Sinnbild einer leidenschaftlich-realistischen Darstellungsweise und wurde mit ihrem wohl relativ hohen Mezzo (Tondokumente von ihr existieren leider nicht) zu einer Art "Schubladenschild" für diese Stimmlage. Begleitet vom Orchestre National de Lille unter der Leitung von Pierre Dumoussaud singt Zaïcik sich durch ein aus Arien von u.a. Thomas, Bizet, Offenbach und Massenet bestehendes Galli-Marié-Repertoire. Stimmlich bewegt sich die Dame ja im (mir ohnehin lieberen) unteren Mezzo-Bereich, was hier durch ihre souveräne, dennoch wunderbar leichte und dem oft eher lockeren Repertoire angemessene Interpretation zu einem ganz besonderen Ohrenschmaus wird. 5
Zum Schluss noch etwas künstlerisch sicher Höchstwertiges, mit dessen tönender Umsetzung ich aber trotzdem so meine Probleme habe. Es geht um nichts Geringes als die Katalognummer 100 des verdienstvollen Labels Karlrecords, die dessen Chef für die in einem langwierigen, so arbeitsreichen wie detailversessenen AbstimmungsProzess kuratierte 2LP/2CD/DL "Selected Recordings From "Grapefruit" " reserviert hatte. Hier übersetzt das vielköpfige GREAT LEARNING ORCHESTRA Stücke aus YOKO ONOs legendärer, 1964 unter dem Titel "Grapefruit" erschienener Sammlung von Texten, Zeichnungen und PerformanceAnweisungen in Musik. Von solchen Umsetzungen gibt es bisher erstaunlich wenige (SONIC YOUTH hatten 1999 für "Goodbye 20th Century" mal das "Voice Piece For Soprano" aufgenommen) und ich verstehe nach dem Hören dieses Gesamtkunstwerks auch warum. Es ist nämlich nicht nur nicht leicht, sondern vielleicht sogar gänzlich unmöglich, den FluxusCharakter von KonzeptKunstVorgaben wie "Walk all over the city with an empty baby carriage." (City Piece), "Listen to the sound of the underground water." (Water Piece), "Boil Water" (Disappearing Piece) oder "Ride bicycles anywhere you can in the concert hall. Do not make any noise." (Bicycle Piece for Orchestra) in aural nachvollziehbare Klänge zu transferieren. Das funktioniert z.B. beim allein aus der Anweisung "Sweep." bestehenden "Sweep Piece" schon irgendwie, aber zugleich ist es auch ein wenig langweilig, sich minutenlang "KehrKlängen" auszusetzen - es fehlt schlicht der visuell-performativer Aspekt. Zumindest mir. "Usually a clock is placed on the center of the stage and audience is asked to wait until the alarm goes off." (Clock Piece). Rrrrrrrinnnngggg! 4
Fear No Jazz
›› KRONOS QUARTET & MARY KOUYOUMDIJIAN ›› JAZZJANZKURZ ›› FEDERICO ALBANESE ›› JAZZJANZKURZ ›› KARM & KOHSETSU IMANISHI ›› FEAR OF THE OBJECT ›› JAZZJANZKURZ ›› JAZZJANZKURZ ›› JAKUB JÓZEF ORLIŃSKI & ALEKSANDER DĘBICZ ›› STEFAN PRINS ›› MIEKE MIAMI ›› JAZZJANZKURZ ›› NILS WÜLKER & ARNE JANSEN ›› JAZZJANZKURZ ›› WIM MERTENS ›› ERNTE ›› JAZZJANZKURZ ›› KOPPEL - BLADE - KOPPEL ›› JAKUB JÓZEF ORLIŃSKI ›› JAZZJANZKURZ ›› ELĪNA GARANČA ›› ANDRÉ SCHUEN / DANIEL HEIDE ›› JAZZJANZKURZ ›› LAWRENCE FIELDS ›› TIFLIS TRANSIT ›› JAZZJANZKURZ ›› LIZZ WRIGHT ›› MUDDERSTEN ›› JAZZJANZKURZ ›› SANDIE WOLLASCH ›› BRIGADE FUTUR III ›› JAN BANG ›› JEAN-LUC GUIONNET & LÊ QUAN NINH