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Ich selbst habe zwar so einige Vorbehalte, denn meine Sache sind solcherlei Adaptionen nicht unbedingt, aber meine in Sachen "Klavier" theoretisch wie praktisch weit überlegene Liebste urteilt über ALEXANDRE THARAUDs neues Werk: "Niemand spielt Bach so wie Tharaud, man erkennt ihn einfach sofort!" und findet es gut. Für "BachTharaud" (Erato/Warner Classics) nahm sich der Franzose die gleichen Freiheiten wie vor 300 Jahren der Meister selbst (und nach ihm Leute wie Liszt, Schumann und Busoni): da wird frisch ein ChorSatz (aus der Johannes-Passion), eine Aria für Violine (aus einer Orchestersuite) oder die "Bourrée" aus der Lautensuite BWV 996 für das Piano transkribiert, auch zwei Choral-Übersetzungen seines Landsmanns Jean Wiéner werden interpretiert. Und die Musik trägt. Zum Schluss dann noch die von Gounod aus dem C-Dur-Präludium des "Wohltemperierten Klaviers" abgeleitete "Méditation" (eigentlich "...sur le premier Prélude de J. S. Bach"), die wohl fast jeder als "Ave Maria" kennt – man kann friedlich dahin schlummern...3Bach-Spuren finden sich auch in den "Improvisations Live in Germany" (Fulminantmusic) der südkoreanischen Pianistin YOUNEE. Wie auch solche von Beethoven ("Bright Moonlight" basiert ganz klar auf dessen "Mondscheinsonate") - hier und da kommt auch eine Prise Funk oder Latin hinzu. Technisch sehr brillant und sauber - sozusagen live aus dem Klavier - aufgenommen (u.a. bei diversen "Jazztagen" (Görlitz, Ingolstadt Leverkusen, St. Wendel) oder auch in der Elbphilharmonie) erinnert dieser Doppeldecker natürlich immer wieder an Keith Jarrett. Younee flicht zwischen die Stücke sehr persönliche Moderationen, die das folgende Stück nicht erklären, sondern auf dieses im weitesten Sinne "einstimmen" sollen. Sie selbst nennt ihren CrossOver: "Free Classic & Jazz". Das trifft's! 4
Wer's etwas Kitschiger mag, ist bei den "Winter Stories" (Warner) des Schweden JACOB KALRZON richtig(er). Er beginnt mit einer KlavierVersion von Taylor Swifts "Evermore" und dann geht’s flott auf die Feiertage zu. Diverse KuschelWeihnachtsLieder schmachten aus dem Piano: ob nun aus Schweden ("Så mörk är natten i midvintertid - The Night Is Dark"), England ("The First Noël"), Bulgarien ("Bel Veter Due") oder Deutschland (natürlich "Silent Night" aka. "Stille Nacht"); richtig alt ("Veni, veni, Emmanuel" hier im Titel zu "O Come, O Come, Emmanuel" anglisiert) oder JazzStandard (Thad Jones' "A Child Is Born"), lediglich "Winterballad" ist eine Karlzon-Komposition. Man muss das mögen, ich tu's nicht. Aber weil ja fast Advent ist: 3.
Hatten wir bis hierher zumindest handwerklich immer Könner vor uns, wird es mit den "Soul Songs Vol. 1 & 2" des Finnen HEIKKI HALLANORO technisch wesentlich simpler. Wie es sich für einen Finnen gehört, ist der Mann ziemlich exzentrisch: der Sohn einer Trinkerin (die Finnland-Klischees greifen!) ist von Beruf Astronom, nebenbei Drummer in einer lokalen PunkBand und "bei Spotify der viertmeistgehörte finnische Pianist" (diese InfoInfo möchte ich euch keinesfalls vorenthalten!). Musiziert wird immer auf einem mehr als hundert Jahre alten Klavier, bei dem Hallanoro überzeugt ist, dass es "wie ein Elefant seine eigenen Erinnerungen hat". Ah, ja. Rein musikalisch betrachtet fällt mir für das opulent präsentierte Werk (die Darreichung auf gleich zwei SilberScheiben muss übrigens übergeordnete Gründe haben, denn "Vol. 1" wie "Vol.2" laufen unter 30 Minuten) nur das Attribut "banal" ein. Was vielleicht ungerecht ist, denn seine "SeelenLieder" halfen Hallanoro aus depressiven Phasen – und darüber wollen wir nicht leichtfertig urteilen. Womöglich haben die schlichten (und technisch mit ihren beständigen (Grund)AkkordWiederholungen anspruchslosen) Stücke eine Kraft, für die ich nur nicht so richtig empfänglich bin. 3
Aber wir waren doch gerade noch bei "Winter Lullaby"s: ein solches schenken uns auf und mit ihrer LP/CD "Lento" auch MIKKEL PLOUG, SISSEL VERA PETTERSEN und JOACHIM BADENHORST. Eigentlich könnte die ganze Platte so heißen wie dieses als zweites Stück dahin gehauchte WinterSchlaflied: der fremde und doch Feen-artige Gesang von Sissel Vera Pettersen trifft auf zarte GitarrenStreiche, das Ganze ist aber trotz aller Entrücktheit und herbst(oder eben winter-)licher Milde nicht ohne kleine versteckte Dornen. Eine zarte Klarinette, die Klage einer Elfe. Wirklich hörenswert ist auch das gerade gesanglich freiere "Skyggeland". Das Info beschreibt das Ganze als "an evocative blend of jazz, folk/world, classical, minimalism, and avant-garde influences, crafted through a dynamic mixture of free improvisation and original compositions." und dem weiß ich rein gar nichts hinzuzufügen. 4
Der Klarinettist JOACHIM BADENHORST war mir trotz eindrucksvoller Diskografie und wie gleich zu erläutern sein wird großer musikalischer Expertise bisher unverzeihlicherweise kein Begriff. Dabei zeigt er gleich im ersten Stück seiner SoloPlatte "I'd Rather Stay at Home, Film Music for 3 Films by Rinus Van de Velde" (beide Klein), dass er bei Wim Mertens gut aufgepasst hat, zumindest was die Verschränkung verschiedener KlarinettenStimmen angeht. Allerdings gibt es auf diesem score auch Passagen, die improvisierter, näher an Echtzeitmusik sind, z.B. "Me and my double" und SemiSinfonisches wie das von feinen BrummStörungen durchzogene "Yet another beginning". 4
Nochmal zurück zum Klavier, nun aber als BegleitInstrument für DamenStimme: schlicht "XII" (JazzSick) heißt das neue Album von MÜLLERMICHALKE. Eva Müllers Stimme nannten wir hier in der Besprechung des MüllerMichalke-Debuts "wirklich voll, aber dennoch sehr ausdrucksstark" (s. WZ 02/21) und davon müssen wir auch knapp 4 Jahre später nicht abrücken. Stefan Michalke bediente seinerzeit gern mal ein Fender Rhodes (und im letzten März freuten wir uns über seinen Beitrag zum Quintet West), für "XII" konzentriert er sich aber auf ein sensibles Klavier (und ein klein wenig Akkordeon). Es beginnt a-capella und traurig: "Like A Bird" (aber nicht "on a wire", sondern "in a cage"). Das folgende "Winter" geliert zur Mitte hin fast zu einem verlangsamten jiddischen KlageLied und geht in einem sehr schönen, vom großartigen Frederik Köster gespielten FlügelhornSolo auf. "Teardrops" ist als sentimentale PianoBallade sehr dicht am Song und "A Minute" glänzt mit seiner zarten AkkordeonBegleitung. In "...Set Free" wird’s am Klavier nochmal gefühlsgeladen – dieses fast ohne Gesang auskommende Stück bildet den Schluß eines schönen, sehr lyrischen VocalJazzAlbums. 4
Apropos Fender Rhodes. Oder Wurlitzer 200A, Hammond B3 und Moog Sub 37, Dave Smith Prophet Rev2, Hohner String Melody II und Korg Kronos - zwar ist auch SEBASTIAN GAHLER Pianist, in seinen "Electric Stories" (Jazz Kitchen) aber eben ein elektrischer. Und wie angesichts des InstrumentenArsenals schon zu vermuten, einer mit ganz viel 60ies/70ies-Flair. Hier hören wir feinen Keyboard-getriebenen funky BläserGrooveJazz (Andy Hunter spielt Posaune und Denis Gäbel TenorSax). Oldschool as hell (sogar mit einem sonst ja völlig aus der Mode gekommenen "hidden track"), aber wirklich gut! 4
Beim ODDGEIR BERG TRIO reizt mich weniger der zwar hoch solide und träumerisch leichte, gleichwohl hier und da mit skandinavischer Melancholie durchsetze KlavierTrioJazz, an dem es musikalisch kaum etwas auszusetzen gibt (bis auf die klitzekleine Gefahr der verlässlichen Beliebigkeit, in die das alles gelegentlich abgleitet – was eigentlich gar nicht stimmt, denn z.B. mit der (zu)packenden "Hommage (Dance like Nobody's Watching)" gibt's inmitten dieser impressionistischen Seelenschau auch wirklich Spannendes), als die Darreichungsform. Denn "A Place Called Home" (Ozella) erscheint nicht nur klassisch als CD und Vinyl (und sicher sogar als seelenloser download), sondern auch als sogenanntes Tap Tape. Das ist eine neuartige Technologie, "die einen modernen Zugang zu Musik und zusätzlichen Inhalten ermöglicht. Tap Tape nutzt NFC-Technologie, um Inhalte direkt auf das Smartphone zu übertragen. Dabei ist keine App erforderlich. Hält man das Tape an das Smartphone, öffnet sich der Zugriff auf hochauflösende Musikdateien (bis zu 24bit/96kHz) sowie auf eine Vielzahl zusätzlicher Inhalte – darunter Musikvideos, exklusive Tracks und Weiteres." Das Tap Tape hat in etwa die Abmessungen einer guten alten MC (daher auch der Name Hase) und bietet für Haptik-Fetischisten wie mich die Möglichkeit, digitale Musik anzufassen. So richtig mit leporello-haftem booklet und echter PappHülle – finde ich interessant. Aber ob's sich durchsetzt? Das im Dezember zu besprechende "Zeitenspiel" der Unterbiberger Hofmusik erscheint jedenfalls auch in diesem Format. 3
Verweilen wir noch ein wenig bei den Introvertierten: ARNE JANSEN, ANDERS JORMIN und UWE STEINMETZ gehen auf "The Pilgrimage" (Traumton). Ein zärtliches Sax und eine ebenso nette Gitarre treffen in schwedischer Hygge-Genügsam- oder -Gemütlichkeit auf einen fröhlichen Bass (ganz typisch: "The Promise"). Auch "The Wood" ist ein gutes Beispiel für die hier zelebrierte Kunst des harmonischsten Zusammenspiels. 3
Allein mit einer AkustikGitarre zieht uns WOLFGANG MUTHSPIEL in seinen Bann. Dessen "Etudes/Quietudes" (Clap Your Hands) sind genau das: ruhige, ja leise, dabei aber intensive und tiefsinnige KonzertEtüden. Live eingespielt im ORF RadioKulturHaus im Rahmen einer "Ö1 Radiosession" flitzen Muthspiels Finger über die Saiten, um diesen auch musiktheoretisch Ambitioniertes zu entlocken. Inspiration kommt wieder mal von Bach (wie oben bei Tharaud ist es eine Lautensuite, hier die in g-Moll (BWV 995), genauer gesagt die Sarabande daraus), aber auch von Brahms oder Bill Evans und wer bei Etüden reine Übungsstücke vermutet, liegt hier ganz falsch. 4
Ähnliches gilt für die (oder eben den) "Fourtune" (Doctor Heart Music) des EUROPEAN GUITAR QUARTETs. Das besteht aus dem Kroaten Zoran Dukic, Pavel Steidl aus Tschechien sowie den beiden Deutschen Thomas Fellow und Reentko Dirks und die vier geben sich genauso fingerfertig und pur(istisch) akustisch. Aber auch ein wenig, ähm, flotter. Denn hier dürfen schon mal Frank Zappa ("Oh No" – "Father O'Blivion", ich bin allerdings kein Zappa-Kenner) oder Dumas' Musketiere ("Athos" – "Porthos" – "Aramis" plus "D'Artagnan") als IdeenQuell herhalten. 4
Mit den "Perspectives" (JazzSick Records) von BERND KAFTAN wird’s nochmal groovy. "Here's just a piece of music for everyone" trällern Susanne Kokot und Anne Hartkamp gleich zu Anfang. Dazu fetter JazzFunk, gern auch mal mit mehrstimmigem Mann/Frau-Gesang. Bei "Days Like This" als balladenhafter PopSong, mit "Rumours" dann schon beinahe als JazzJazz (inkl. schönem BassSolo von Ulla Oster) und irgendwann sogar als "Ribbon"-Rumba. 3
Zum Schluss noch ein echtes Highlight: die schwedischen CATS & DINOSAURS sind nicht nur Swing-besessen, sondern auch mit ganz klaren politischen Ansagen unterwegs. "Sabotage" Pacaya) geht los mit der unmißverständlichen Aufforderung: "Come on, let's do some sabotage!", nur um dann festzustellen "Neoliberalism is Dead" (schön wär's!). Banjo/Gitarre und Schlagzeug, Bläser und Geige, Klavier und Marimba/Vibraphone – dazu feinste StimmKunst: LeadSänger Filip Bagewitz wechselt zwischen (beinahe)Crooning (z.B. in der Ballade "This Song is for You") und aufpeitschendem ParolenRufen, seine Background-singenden Mitmusiker brillieren in superb arrangierten ChorSätzen. Es geht um den "Homo Economicus" und "Heteronormativ"es und immer gilt: "Macht Kaputt Was Euch Kaputt Macht". Dabei leihen sie sich von den Scherben nur den Titel und die Wut, den (deutschen) Text hat Bagewitz geschrieben. Hier finden Charleston und Swing zu SwampBlues und Honky Tonk, Ragtime und Big Band Stomp zu Punk und VintageJazz - beim "Apocalyso" kommt sogar ein raues KaribikFlair auf und eigentlich müsste man sofort Schwedisch lernen, um auch die in der Muttersprache der Katzen und Dinosaurier vorgetragenen Passagen zu verstehen. Wunderbar wilde Musik, große HandwerksKunst und mit enormem Durchhaltevermögen gepaarte politische Wachheit – diese Kombination ist selten. Das Info lässt uns wissen: "Nach einem Jahrzehnt auf den Barrikaden bleibt ihr Ziel das gleiche: Swing spielen, um das Feuer des Unmuts zu entfachen!" Das begrüßen wir sehr und empfehlen bei aller KapitalismusKritik doch unbedingt den Kauf von "Sabotage"! 5
In diesem Sinne: Vive l'anarchie!
Fear No Jazz
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