_
Jazz jibt's immer, ooch im Juni. Und zwar (wieder) in ganz verschiedenen Ausprägungen. Z.B. als richtig gelungene, quasi jazz-klassische Inszenierung wie die "Story Of Mankind" (Cowbell) von BENJAMIN KOPPEL. Der dänische Altsaxophonist (nebenbei spielt Koppel hier auch Vibraphon und Perkussion/Gongs) benennt sein neuestes Werk im Untertitel nicht ohne Grund als "A Requiem", denn er schildert auf dieser DoppelCD Leid und Kummer, hervorgerufen durch die größte Dummheit der Menschheit, durch Krieg. Ob nun – wie der den konkreten Anlass für Koppels Musik liefernde Ukrainekrieg – einer von hier und heute oder – wie der den konkreten Anlass für Apollinaires hier vertonte Texte liefernde WK I – eben jeder andere militärische Konflikt: Krieg ist doof. Deshalb bleibt die Stimmung, die Koppel hier mit GastStar Randy Brecker an der Trompete und Sängerin Frederikke Vedel (sowie ein wenig Cello, keys, b und dr/perc), denn auch stets etwas düster oder gedrückt. Für 4 der 23 tracks lieferte neben dem erwähnten Guilliaume Apollinaire der dänische Dichter Tomas "TT" Krag die (englischen) Worte, für die eingestreuten dänischen "Afterthoughts" Morten Søndergaard – allesamt (auch wenn ich Dänisch nicht verstehe) sehr bewegend. Wie auch die virtuos, wenngleich dicht an der JazzTradtion gespielte Musik. Herausheben möchte ich das signalhafte "Absurd" mit der von Vedel in höchsten Höhen vorgetragenen Aufforderung "Think for a moment!" Die auf dem Klappcover zu sehenden Fotos hat der dänische FotoKünstler Jan Grarup in zerstörten ukrainischen Wohnhäusern aufgenommen – das auf dem Frontcover inmitten einer Trümmerlandschaft stehende Klavier verbreitet dabei Traurig- und Fassungslosigkeit, aber auch ein klein wenig Hoffnung. 4Das MARTIN SCHULTE QUINTET frönt auf "Little Fly" (JazzSick) klassischem GniedelJazz. Handwerklich perfekt, aber mit wenig mehr als bloßem Unterhaltungswert. Soli von Sax, Gitarre, Piano, Bass oder Drums wechseln sich brav ab – wie im gut organisierten Kindergarten ist jeder mal dran. Die klavierseligen Stellen, z.B. in "The Way It Was", gefallen mir recht gut - im Großen und Ganzen passiert hier aber leider (zu) wenig. 3
Wieder wirklich prima ist "Catalyst" (Unit) vom PHILIPP BRÄMSWIG TRIO. Das ist mal Jazz, der sich ein wenig aus seiner KomfortZone wagt – nicht unbedingt, weil er in extrem freien Gefilden wandert oder mit besonderer Wildheit und Berserkertum protzt, nein, die Jungs um den Kölner Gitarristen spielen eine als avancierter Pop verkleidete Form von Jazz. Nicht aber als JazzCover von PopSongs (wie es z.B. Miles Davis mit seiner "Time After Time"-Adaption in vorbildlicher Weise und viele andere in eher abschreckender Form praktizier(t)en) sondern vom Gestus, vom geistigen Herangehen her. Hier folgen sowohl dr wie b durchaus konventionellen Regeln und Brämswigs smart-zärtliche Gitarre gleitet geschmeidig durch Jazz-Akkorde und -Harmonien. Und doch wirkt "Catalyst" nicht wie – Moment! Wir müssen aus dieser ex-negativo-Betrachtungsweise heraus und noch kurz beschreiben, was die Musik denn ist: vielleicht tatsächlich "Die harmonische Umverteilung", wie eines der Stücke heißt? Peter Green meets JazzTrio? Fleetwood Mac als Improvisation? Vielleicht sogar "On Plane"? Auf jeden Fall super, das! 5
Auf ganz andere Art schielen die ROCKET MEN in Richtung Pop. "The Orbiter Sessions" bestehen aus blitzsauberen (aber keineswegs klinisch reinen) BläserTunes von Trompete, Flügelhorn und Sax, ziemlich rockiger SchlagzeugArbeit und jeder Menge Keys und Synths (und Wurlitzer). Dazu ein paar obskure StimmSamples – fertig ist eine ganz eigene Sichtweise auf den nach Zappa ja (immer noch) komisch riechenden Jazz. Die Band selbst nennt das "drum and space" – was ich wegen des zu klaren Bezugs auf an sich ja durchaus gesunde, hier aber auf ebenso solide Weise eher selten vorkommende BreakBeats so aber nicht uneingeschränkt unterschreiben möchte. Gelungen ist das aber auf jeden Fall – probiert mal das (den?) Trompeten-hoppelnde "Moon" mit seinem SynthSubBass und dem feinen Hall auf der Tröte (im letzten Drittel geht’s hier übrigens tatsächlich mal kurz in Richtung JungleBeats) bzw. das geistesverwandte "Hubble". Oder das auf einem stabilen FunkGroove dahingleitende "Ikeya-Seki". Sogar "zärtlich" können die RaketenMänner, im Rausschmeißer "Hmyn To Planet Blue" z.B. 4
Damit sind wir also – fast ohne es zu merken – bei Groove-gerichtetem Jazz gelandet. Ich würde nicht behaupten wollen, dass das, was {scope} (die Schweifklammern sind für den Bandnamen sicher ebenso essentiell wie die Kleinschreibung!) auf "Nightcap" (Kohlhaas) tun, völlig neu ist, dennoch birgt das gebrochene Tasten und Suchen im Klang einen gewissen Seltenheitswert in sich. Die Italiener verknüpfen nämlich mit Tenor- und BaritonSax, Kazoo, (Granular)Synth, Sampler, (präpariertem) Klavier, Perkussion, vocals und jeder Mange elektronischer Effekte (sogar "panic attacks" finden sich auf der Instrumentenliste) intelligente elektronische, durchaus auch Club-orientierte Musik mit avantgardistischen Improvisationen und FreeJazz-haften Sprengseln. Da ist dann zwischen ganz freien Tönen auch schon mal eine versonnen-exotisch-ambiente "Coffee Break" drin. Wenn ich ehrlich bin, muss ich allerdings auch zugeben, dass man zu diesem KlangChaos wahrscheinlich nur schwer tanzen kann. Also ist das mit "Groove-gerichtet" und "Club-orientiert" doch Quatsch, oder? Anyway – feine Musik ist das schon! 4
Wenn es heißt STHLM SVAGA "Plays Carter, Plays Mitchell, Plays Shepp" (Thanatosis) bleiben wir noch kurz bei eigenartigen Kombinationen und ungewöhnlichen Lesarten. Die KonsonantenBallung wird doch nicht für "Stahlhelm" stehen? Nein, sicher ist Stockholm gemeint, denn von dort stammt das von Saxophonist Johan Jutterström gegründete voc-tr-as-ts-p-b-dr-Septett. Musikalisch würde eine solche martialische Verflachung auch überhaupt passen, denn hier regiert eine – vielleicht etwas seltsame, aber dennoch entdeckenswerte Mischung aus verträumter FrauenStimme ("Desert Lament"!), BarKlavier und zarter GebläseFreiheit. An einigen Stellen erscheint Linda Oláhs Gesang fast Burt Bacharach-esk, was in angenehmem Kontrast zu den zwar zumeist auch recht ruhigen, aber dennoch stark improvisatorisch geprägten Passagen steht. Mit John Coltrane, (natürlich) Ron Carter, (natürlich) Roscoe Mitchell, Per Henrik Wallin und (natürlich) Archie Shepp haben sich STHLM SVAGA aber auch hochkarätige Urheber ausgesucht. 4
Bei JERRY SINGLA denken Jazz-affine Leute sicher sofort an die Verbindung von indischen Traditionen (die zumeist auf einem Grundton basieren) und westlichen JazzTheorien (die sich ja nur zu gern mit Akkordwechseln und -folgen befassen). Mit seinen EASTERN FLOWERS hat der Klavier- und HarmoniumSpieler die CD Confluence" (Jazzsick) eingespielt, die nach dem tatsächlich sehr indisch-subkontinentalen opener "Tha Ku Tha Jham" schon mit dem anschließenden "Jodhari" deutlich dichter an klassischen, wenngleich in seiner atmosphärischen Installation durchaus bemerkenswerten KlavierTrioJazz heran rückt. Mit "Bihu Kalyan" wird’s dann wieder zentralasiatisch: melodieführend ist dabei eine schöne Sarod-Figur (Pratik Shrivastav ist ein Meister dieser Langhals-Laute und als solcher seit 2014 Teil der Eastern Flowers). Dazu Tabla oder andere PerkussionSounds – und so geht es immer weiter, tiefer hin zu den Wurzeln, ob nun den indischen oder den westeuropäischen. Tolle, exotisch-vertraute Musik. 4
Manche (darunter sogar einige, deren Urteil ich sehr schätze), mögen ihn gar nicht. Ich hingegen habe mit Platten von PAOLO FRESU schon so manche nette Zeit verbracht. Jetzt gibt es eine 3CD(oder 3LP)-Box namens "Legacy" (Tǔk), die die Zweifler vielleicht verstummen, die Fans aber auf jeden Fall jubeln lässt. Auf CD1, "Improvvisi" geheißen, spielt Fresu seine zarte Trompete zu den kräftigen KlavierImprovisationen des großen Uri Caine (aufgenommen live im Studio im September 2022). CD2 heißt "Impromptus" und gehört den Aufnahmen, die Fresu mit seinem "Devil Quartet" (tr/fh, git, b,dr) vom 25. bis 27.09. letzten Jahres gleichfalls live im Studio in Udine auf Band (bzw. Festplatte) zauberte. Vom 28.-30.09. spielte er dann noch mit seinem tr/fh,ts/as,p/Wurlitzer/Fender Rhodes, b, dr-Quintett "Repens" ein – hier CD Nr. 3. Nebenbei gesagt ein bemerkenswerter kreativer und konditioneller Kraftakt in weniger als einer Woche so viel hochwertige Musik zu erschaffen! Im booklet finden sich neben den "Technischen Daten" und vielen Fotos auch noch ein kleiner einführender Text von Fresu sowie drei bedenkenswerte, den einzelnen CDs zugeeignete Zitate: "Improvisation is the law of history" (Guiseppe Prezzolini) – "Composition is just improvisation slowed down"(Wayne Shorter) – "Short stories of one's life are a difficult improvisation."(Ezra Pound). Eigentlich sind es sogar vier, denn die ganze Box hat Fresu unter dieses, einem afrikanischen Sprichwort entlehnte Motto gestellt: "When the roots are deep there is no reason to fear the wind." Fresus in allen Konstellationen unverkennbares zärtliches BläserSpiel hat keine Angst vor purer Schönheit und vergisst – zumindest in meinen Ohren (da unterscheide ich mich von den eingangs erwähnten Kritikern in meinem Freundeskreis) – doch nie die notwendigen Widerhaken. 5
Zu sehr dem bloßen Wohlklang verpflichtet sich hingegen der Londoner Pianist DEMIAN DORELLI auf "A Romance Of Many Dimensions" (Panderosa). Schwermütige PseudoSchönheiten aus sentimentalen KlavierStücken mit schmalztriefendem Cello, dazu gern auch ein wenig Horn. Drei Instrumente, mit denen man tolle Dinge in Szene setzen kann, die man aber auch zu kalorienreichen MusikSüßlichkeiten verrühren kann. So wie hier: Arpeggien galore bei zu wenig Substanz. 2
Da brauchen wir was vermeintlich Anstrengendes zur Verdauung. Vielleicht die "Spektralmaskin" (Sofa) von PEDER SIMONSEN & JO DAVID MEYER LYSNE? Da wird in drei ganz schlicht römisch durchnummerierten (ich gebe den Kampf für die althergebrachte, die lateinische Wurzel sehr schön offenlegende Schreibweise "numeriert" hiermit offiziell verloren und deshalb auf) Stücken in prominenter Besetzung (Peder Simonsen - microtonal tuba, modular synthesizer, sine waves, pyrex bowls, Jo David Meyer Lysne - acoustic guitars, electric guitars, Ingar Zach - percussion, vibrating speakers on membranes (II, III), Vilde & Inga - violin, contrabass (I, II), Espen Reinertsen - bass clarinet (I), James Patterson - french horn (I)) die Stasis eines kaum bewegten Grundtons durch feine Variationen des "Drumherum" abgefedert bzw. illustriert. Bei "II" wird das zuweilen zu einem fast schon schauerlichen Heulen über dem rhythmischen TiefBrummen. Und zum Ende von "III" hin zu einem zyklischen Piepsen, wie bei einem stark gedehnten Morsesignal. Kraftvolle, ruhige und doch sehr bewegte Musik, die in reichlich 34 Minuten keine Sekunde Langeweile aufkommen lässt. 5
Einen ähnlichen Ansatz verfolgt der in Nantes beheimatete Komponist ALAN REGARDIN mit seinen "Ritual Tones" (Les Mouflons) einen recht ähnlichen Ansatz, für dessen klingende Umsetzung er nur 5 Minuten länger braucht als Simonsen/Meyer Lysne für den ihren. In ebenfalls drei Stücken, besser wohl "Sätzen", zelebriert man hier mit Posaune, Flügelhorn, Saxophon und Orgel in bester drone-Tradition die texturelle Untersuchung von statischen Klängen. Dabei scheint mir Regardin das Ganze bewusst durchmischt zu haben, denn auf "Tones" folgt das "Prelude" folgt "Ritual". Der Übergang Tones –> Prelude lässt dabei den weich-warmen Orgelklang durchlaufen, daraus entwickelt sich ein tieffrequentes Brummen mit dezenten Obertönen. Das "Ritual" besteht dann aus schnarrenden OrgelKlängen und die "Tones" sind schließlich etwas hochfrequenter, im positiven Sinne penetranter, enervierender und doch genau so statisch. DroneKunst der Oberklasse. 5
Fear No Jazz
›› KOPPEL - BLADE - KOPPEL ›› JAKUB JÓZEF ORLIŃSKI ›› ELĪNA GARANČA ›› ANDRÉ SCHUEN / DANIEL HEIDE ›› JAZZJANZKURZ ›› LAWRENCE FIELDS ›› TIFLIS TRANSIT ›› JAZZJANZKURZ ›› LIZZ WRIGHT ›› MUDDERSTEN ›› JAZZJANZKURZ ›› SANDIE WOLLASCH ›› BRIGADE FUTUR III ›› JAN BANG ›› JEAN-LUC GUIONNET & LÊ QUAN NINH ›› PAAL NILSSEN-LOVE & KEN VANDERMARK ›› LISA ULLÉN ›› JAZZJANZKURZ ›› ANTHONY LAGUERRE & LES PERCUSSIONS DE STRASBOURG ›› JAZZJANZKURZ ›› V.A. ›› ERLEND APNESETH TRIO & MAJA S. K. RATKJE ›› LEA DESANDRE & THOMAS DUNFORD ›› V.A. ›› JAZZJANZKURZ ›› DDK TRIO ›› ZEITKRATZER - REINHOLD FRIEDL ›› JAZZJANZKURZ ›› HÉLÈNE GRIMAUD ›› FRODE HALTLI ›› MATTHEW HALSALL ›› SIMON BERZ / KONDO TOSHINORI / BILL LASWELL ›› FLOCKS