(WhyPlayJazz / NRW / The Orchard)
Von der nach einer wegweisenden (wenn auch noch zu erfindenden) grammatikalischen Zeitform benannten Kapelle gab’s schon vor gut 6 Jahren mal ein Album, das den schönen und mindestens ebenso abgefahrenen Titel "Alles wird gut gegangen sein werden" trug und das sich nicht nur mit der "Umstrukturierung der Gesellschaft" und "Retrotopia" beschäftigte, sondern auch schon wusste: "Futur war alles besser". Und jetzt? Jetzt erfahren wir gleich im Ohrwurm-opener "Hikikomori" von einem neuerlichen erstaunlichen Umstand: "Es gab eine Zeit da gab’s Spiegel noch nicht / und wir wussten noch nicht, wie hässlich wir sind / Mutter und Vater und ihr hässliches Kind / Sprich mich nicht an ich sprech’ heut’ nur mit mir... #Hikikomori" (was man unter Hikikomori zu verstehen hat, erklärt euch Wikipedia gern). Das Ganze wird mit apathischer Stimme zu einem sanft pluckernden Beat vorgetragen, herrliche Trompetensätze und ein etwas weniger elegisches Klavier jubilieren dazu. Dann der nächste "burner": in "Nachbar" wird erstmal abgegrenzt: Vater und Mutter. Onkel und Tante. Rechter Nachbar. Ganzer Kiez. Friedrichshainer. Prenzlberger. Ostberliner. Westberliner. Berliner. Leipziger und Sachsen. Ostdeutsche. Westdeutsche. Deutsche. Franzosen. Westeuropäer. Osteuropäer. Später dann Europäer, Afrikaner, Am’rikaner ("z’mindest mal die Weissen" mag der Sänger, denn "die sind im Grunde genau wie wir"). Bei A-siaten und A-rabern stellt sich die Frage, "ob man die jetzt nochmal extra unterscheiden soll". Nachdem die Menschheit also entsprechend der empfundenen Nähe in absteigender Folge sortiert ist, kommt die Brigade sonor schmetternd zum Punkt: "Zum Glück sind wir uns nicht zu nah. Hallo Herr Nachbar. Neugier hat Grenzen!" und ab Minute 3:50 drehen SwingDrums, FederBass, wilde BläserSätze und schließlich ein SoloSax im TotalGrooveInstrumentalteilkomplett durch. "Bravo!" Dann das bald Latin-durchwehte "Privare" (lat. "berauben") -und schon wieder muss(!) man aus dem (Worte von Hermann Scheer umrahmenden) Falsett-Text zitieren: "Der Name Anton ist zu teuer, für unser zweites Kind / aber Adolf gibt’s umsonst, bis wir alle Nazis sind / Alle Dur-Tonarten wurden an die Werbung lizensiert / doch zum Glück hab ich für dieses Stück hier noch G-Moll organisiert // Neo-Liberalismus macht den Rhythmus / bei dem man ohne Zweifel mit muss bis zum Schluss / Gnade vor Recht, gib der Welt den Genickschuss". Es folgt der wunderbar frei-jazzend vertonte "Volkslied"-Text von Hans Dieter Hüsch aus dem Jahr 1959, immer noch brandaktuell und für "Europa" nur ganz leicht überarbeitet. Schließlich kulminiert alles in einem sehr ernsten, wenn auch musikalisch mal schleppend, mal stotternd, mal bläserswingend untermalten Vortrag von Dr. Maja Göpel (im Zweifel bitte wieder bei Wikipedia nachsehen) zum Ernst der Lage und der Relevanz der Proteste für mehr Klimaschutz, der mit der so stoisch wie freundlich wiederholten lakonischen Feststellung "Ein bisschen Zeit haben wir ja noch" ausklingt. Schön wär’s (ist aber natürlich überhaupt nicht der Fall!). Zwischen die immer so 6 bis 7 Minuten langen Stücke schieben BFIII "Kipppunkte" – halb-minütige, halb lustige, halb böse interludes, die musikalisch-strukturell genauso komplex und locker sind wie die "richtigen" Nummern. Coltrane und Ellington, Sun Ra und Brecht/Weill, Public Enemy und Tucholsky - hier haben viele ihre Spuren gelegt. Varieté (gerade der mal exaltierte, mal croonende Gesang) und Jazz, auch Pop (mal Indie, mal Baa-Baa-Baa-Bacharach) und diverse Formen von rhythmusorientiertem Funk treffen enthemmt aufeinander, um eine sehr schön in so lustige wie bittere WortBilder verpackte politische Botschaft zu transportieren.Die aus Elia Rediger (voc), Benjamin Weidekamp (fl, cl, sax, perc, p), Jérôme Bugnon (pos, keys) und Michael Haves ("Künstlicher Gesang", git, synth, b) bestehende KernBrigade wird dabei (wieder) von der Spielvereinigung Sued begleitet, einer BigBand ausLeipziger (Jazz)Musikstudenten. Gemeinsam untermalt man die begründete Aufgeregtheit der Letzten Generation wie die selbstzufriedene Satt- und Unbekümmertheit der trägen Menge - hier durch einen nervösen FraktalBeat, dort mit super-relaxter Barmusik. Passt. Und der Kritiker zieht ratlos Schubladen auf und stößt sie nach lustvollem Durchwühlen wieder zu – diese wunderbare und sehr kluge Musik lässt sich schlicht nicht kategorisieren. 5Weitere Infos: www.brigadefutur3.org
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