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Das Jazz-Jahr beginnt mit einer kleinen Überraschung. Zumindest für Leute, die wie ich mit bestimmten Labels bestimmte klangliche Erwartungshaltungen verbinden. Insofern hätte ich den soliden, aber auch sehr tradionellen JazzJazz, den das LIV ANDREA HAUGE TRIO auf "Ville Blomster" (Hubro) spielt, auf dem eigentlich eher für NordicFolk-orientierte, gern auch experimentelle Ansätze berühmten Label so nicht erwartet. Das klingt dann tatsächlich nach den im Info erwähnten Keith Jarrett und Brad Mehldaum - ein versonnen-melancholischer KellerClubSound, der bei "Du og jeg, baby" etwas freier und wilder wird, obwohl die drei gewisse Grenzen nie überschreiten. Schön und für die (noch) dunklen Tagen genau richtig, aber keineswegs "typisch Hubro". 4Klanglich ganz anders, stimmungsmäßig aber durchaus (seelen)verwandt präsentieren sich ERALDO BERNOCCHI & HOSHIKO YAMANE auf "Sabi" (Denovali). Die in Berlin lebende Japanerin Yamane spielt seit 2011 bei Tangerine Dream, was die hier zu hörende dezente new-age-Note erklären könnte. Bernocchi ist ein alter SzeneVeteran, der in den 80ern mit Sigillum S okkulten RitualIndustrail spielte, dann mit Mick Harris zwei großartige Experimental-Drum’n’Bass-Platten machte und sich anschließend bei Kollaboration mit Toshinori Kondo, Bill Laswell, Harold Budd oder Thomas Fehlmann eher ambienten Ansätzen widmete, die dann – neben einer Vielzahl anderer spannender, oft auch sehr Jazz-naher, Musik – gern auf dem von Bernocchi mit Giacomo Bruzzo betriebenen Label RareNoise erschienen (wenn die Gerüchte stimmen, hat das Label aber leider die Corona-Krise nicht überlebt, was sehr sehr schade ist!). Letztere (wer den Faden verloren haben sollte: die ambienten Ansätze) prägen auch "Sabi", wobei der CD-Titel ein Verweis auf das japanische Verständnis der Schönheit von Alter und Vergänglichkeit ist. Es beginnt mit einer scharf knuspernden Elektro(nik)Installation, zu der sich bald Yasmanes Echo-satte Violine gesellt – hier verbinden sich Glitch und Berliner Schule, Tuxedomoon und Sakamoto. Die SequenzerSysteme pluckern, Synthies bauen meterhohe Wellen und irgendwo knuspert hinter den schwebenden Geigenklängen immer ein Schaltkreis. Beruhigende, aber niemals einschläfernde Musik, die mit Jazz vielleicht nur am Rande zu tun hat, aber unbedingt mal ausprobiert werden sollte. 4
DL-only gibt’s die von MIKE COOPER AND FRIENDS eingespielte Verbeugung "Soprano - An Homage to Lol Coxhill" (Room 40). Coxhill verstarb zwar schon 2012, aber eine Erinnerung an den vielseitigen Saxophonisten ist nie verkehrt und weil die Einnahmen aus dem Projekt vollständig an seine Witwe Uli fließen ist das Ganze auch in dieser (kommerziellen) Hinsicht aller Ehren wert. Muss ich Lol Coxhill hier vorstellen? Wohl kaum, nach seinen Rhythm & Blues-Anfängen in den 50ern wurde der Mann spätestens Mitte der 70er ein wesentlicher Protagonist der aufstrebenden FreeJazzSzene, spielte aber auch mit Morgan Fisher oder The Damned (wobei letzteres in den Begleittexten zu "Soprano" als weit verbreitete Falschinformation angezeigt wird). Sogar bei den AvantTechnoAmbientElektronikern Ultramarine hinterließ er eine (Ton)Spur (und zwar bei der "Kevin Ayers Version" ihrer Mitt-90er-Maxi "Hymn"). Der Gitarrist Mike Cooper hingegen war mir bisher kein Begriff, auch wenn er nach Folk-Blues-lastigen Anfängen in den 60ern später intensiv mit Chris Abrahams, Eugene Chadbourne oder Max Eastley arbeitete und mit Coxhill und Roger Turner die The Recedents bildete (komisch, dass ich mir da seinen Namen nicht gemerkt habe, denn die fand ich wirklich gut) – egal: für "Soprona" gewann Cooper insgesamt 11 Kollaborateure, die Liste reicht von John Butcher und Elliot Sharp bis Max Nagl und Larry Stabbins, auch einige mir ebenfalls (noch?) Unbekannte sind darunter (z.B. Terry Day oder Errico Di Fabritiis). Alle bedienen zu oft stark verfremdeten Gitarren(manchmal möchte ich kaum glauben, dass die Klänge wirklich von einer 6saitigen stammen)Sounds ein Sopransaxophon, das nicht epigonal an Coxhill orientiert ist, sich aber stets deutlich dem experimentellen FreiSpiel verpflichtet zeigt. Cool. 5
Der ganz in der Nähe meines Berliner Domizils residierende PETER EHWALD gehört zu einer ganz anderen SaxophonistenGeneration und scheint bisher (auch wenn mir in diesem Fall der Name durchaus geläufig war) erstaunlicherweise noch ein wenig unterhalb der allgemeinen Wahrnehmungsschwelle zu agieren. Das kann und sollte sich mit "Dumont Dancer" (jazzwerkstatt) ändern, auch wenn es sich hierbei um die Abschiedsplatte seines Langzeitprojekts DOUBLE TROUBLE handelt. Denn das hat (ganz ähnlich wie oben erwähnt RareNoise) die Corona-Tage nicht überlebt und löste sich Anfang 2022 auf. Der grandiose und umtriebige Kontrabassist Robert Landfehrmann war zu dem Entschluss gelangt, seine Prioritäten zukünftig woanders zu setzen und eine Neubesetzung kam für Ehwald nicht in Frage (im booklet wird das alles noch etwas ausführlicher beschrieben). Also ist dieser aufnahmetechnisch sehr gut gelungene Live-Mitschnitt aus dem Aachener "Dumont" der Double Trouble-Abschiedsgruß. Für den aus der Kaiserstadt stammenden Trommler Jonas Burgwinkel (ein nicht minder toller Musiker, der u.a. bei Sebastian Gramss Underkarl, Sebastian Sternals Symphonic Society oder Frederik Kösters Verwandlung und überhaupt viel im Traumton-Umfeld gespielt hat bzw. spielt) war das natürlich ein Heimspiel und auch der zweite Bassist Andreas Lang hatte ohrenscheinlich seinen Spaß. Ehwald bezirzt mit kurzen HornStößen, die sich mal zu kleinen Melodien, mal zu völlig freien Passagen verbinden, die Soli sind keine Demonstrationen bloßer Fingerfertigkeit, sondern fein in das Gesamt-Set eingefügte Passagen relativer Ruhe (ganz toll das b-Solo in der Mitte von "Man muss aus Lehm sein und ich bin aus Wind"!) und überhaupt spannt sich über die gesamten 40 "Dumont Dancer"-Minuten ein so stimmiger wie graziler Spannungsbogen. Beim abschließenden "Non Profit Management" bringen die Vier ihr Können dann nochmal auf den Punkt: die fulminante Grundstruktur liefert das stringent-virtuose Bass-Drums-Bass-Zusammen(!)spiel und Ehwalds Sax den dazu passenden frei-melodiösen Überbau. Eine kleine Träne funkelt im RezensentenAuge, auch wenn uns Ehwald mit diesen letzten booklet-Sätzen ein wenig zu trösten versucht: "Manchmal träume ich noch von unseren Konzerten. Ich bin dann wehmütig, dass sich diese Tür geschlossen hat und gleichzeitig gespannt auf die Türen, die sich neu öffnen werden." Wir sind das auch. 5
Zum Schluss wird’s noch etwas avantgardistischer: VITTORIO MONTALTI & BLOW UP PERCUSSION atmen "The Smell of Blue Electricity" (col legno). Das Ganze entspringt einer vom italienischen GEMA-Pendant SIAE im Rahmen derer "Classici di oggi"-Initiative geförderten Kollaboration des italienischen Komponisten mit Montalti, den neumusikalischen Schlagwerkern und dem von Luciano Berio gegründeten "Centro di ricerca produzione e Didattica musicale TEMPO REALE" in Florenz. Klanglich werden hier – ganz in Berios Sinne – die Welten avancierter elektronischer und/oder computergestützter Klangerzeugung und die ganz mechanischer Perkussion verbunden. Die einzelnen Stücke tragen etwas kryptische Namen, nämlich (ja, wir nehmen uns hier mal die Zeit, alle 12 Nummern beim Namen zu nennen!) "1A+1B", "1C+1D+1E", "2A", "2B", "2C+2D+2E", "3A+3B+3C", "3D+3E", "4A+4B", "4C+4D", "4E+5A", "5B+5C" und schließlich "5D+5E" - mit etwas im sehr schlichten CD-artwork leider ausgesparter Erklärungshilfe wäre das dahinter stehende Konzept sicher nachvollziehbar(er). Jedenfalls schälen sich aus verwirrenden ElektroSchichtungen klopfend-klimpernde Abschnitte vielfach verschränkter Schlaginstrumente, dann kommt ein elektronischer Hubschrauber angeflogen und kontrastiert das dumpfe Trommeln – es ist schlicht wunderbar. Wunderbar auch, weil "der Geruch der Blauen Elektrizität" sowohl analytisch und auf der Suche nach noch nicht entdeckten Feinheiten wie auch ganz "schlicht" als rein emotional-sinnliche Wahrnehmung erfahren werden kann. 4
Fear No Jazz
›› BRIGADE FUTUR III ›› JAN BANG ›› JEAN-LUC GUIONNET & LÊ QUAN NINH ›› PAAL NILSSEN-LOVE & KEN VANDERMARK ›› LISA ULLÉN ›› ANTHONY LAGUERRE & LES PERCUSSIONS DE STRASBOURG ›› JAZZJANZKURZ ›› V.A. ›› ERLEND APNESETH TRIO & MAJA S. K. RATKJE ›› LEA DESANDRE & THOMAS DUNFORD ›› V.A. ›› JAZZJANZKURZ ›› DDK TRIO ›› ZEITKRATZER - REINHOLD FRIEDL ›› JAZZJANZKURZ ›› HÉLÈNE GRIMAUD ›› FRODE HALTLI ›› MATTHEW HALSALL ›› SIMON BERZ / KONDO TOSHINORI / BILL LASWELL ›› FLOCKS ›› GEORGE ›› ALVIN LUCIER ›› JAZZJANZKURZ ›› DUO STIEHLER/LUCACIU ›› WIM MERTENS ›› FREDRIK RASTEN ›› FRANCESCO ARONI VIGONE ›› JAZZJANZKURZ ›› ANNA PROHASKA/PATRICIA KOPATCHINSKAJA/CAMERATA BERN ›› JAZZJANZKURZ ›› KJELL BJØAGEENGEN & CHRIS COGBURN ›› ENSEMBLE 0 ›› JAZZJANZKURZ