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Da passt man mal kurz nicht auf und schon ist wieder Herbst. Zumindest fast. Wir genießen die letzten Biergartenabende ohne dicke Jacke genauso wie vom Dachgarten des befreundeten Maisonettewohnung-im-Bötzow-Viertel-Besitzers aus die immer früheren Sonnenuntergänge. Und hören Musik, zum Sonnenuntergang natürlich konsequenterweise die CD "Rising Sun" (Motéma) vom SHUTEEN ERDENEBAATAR QUARTET. Da erklingt sehr sehr freundlicher Jazz von der als "Münchner Wunderkind aus der Mongolei" beworbenen Pianistin. Die inhalierte als Tochter des langjährigen Direktors der Nationalen Mongolischen Oper und einer Fernsehregisseurin und Journalistin schon früh klassische Musik, studierte Klavier und Komposition am Staatlichen Konservatorium von Ulaanbaatar und fand über Martin Zenkers vom Goethe-Institut unterstütztes "Jazz-Labor" schließlich zur Freiheit der Improvisierten Musik. Anton Mangolds Sax ist mir da schon fast zu schmeichlerisch, wohingegen die Rhythmusgruppe aus Nils Kugelmann (b) und Valentin Renner (dr) sehr solide Unterstützungsarbeit für Shuteens hochsensible, wenn auch noch etwas arg verträumte KlavierLinien leistet. 4Der Deutsche CHRISTIAN PABST ist mit seinem Klaviertrio da deutlich erfahrener, was nicht zu unbedingt besserer, aber doch souveränerer Musik führt. "The Palm Tree Line" feiert lateinamerikanisch angehauchten PostBop inkl. kleinen Gastspielen eines (natürlich wieder lateinamerikanisch infizierten) Akkordeons (Federico Gili) und der (ratet mal wie orientierten) Sängerin Ilaria Forciniti. 4
Die Wurzeln des ANIA PAZ TRIOs liegen – der kleine running gag sei ein letztes mal erlaubt – in: Lateinamerika. Auf "Espacios" (beide JazzSick) werden ebendiese (Räume) vom Piano der Bandchefin so zärtlich wie stringent ausgeleuchtet – aller Verbundenheit zu Tradition und Konvention zum Trotz finden sich hier auch kleine Perlen des experimentellen Aufbegehrens gegen das "nur Schöne". 4
AKI RISSANEN (p) & VERNERI POHJOLA (tr) & ROBERT IKIZ (dr) spielen auf "Hyperreal" (Eclipse) zu sehr feinen SchlagzeugGrooves, hier und da verstärkt durch etwas SynthBassKnarzen, auf Klavier und/oder (gern effektgeladener) Trompete träumerischen Melodic-Jazz mit leichtem PopTouch. 4
Der für abendländisch geprägte Ohren noch immer "fremd" klingenden Stimmung der vietnamesischen đàn-tranh-Zither stellt TRI NGUYEN auf "Duos – Alone" (Naxos World) sein semi-klassisches Klavierspiel gegenüber. Der in Paris lebende Musiker begab sich unter dem Eindruck der lockdown-Lethargie auf die Suche nach seinen familiären und musikalischen Wurzeln – westliche und östliche Klänge und Einflüsse suchten nach Vereinigung. So entstanden tatsächlich Duos aus oder mit zwei einzelnen Teilen, die doch zusammen gehören. Melancholische PianoTräumereien und exotisches ZithernSchwelgen fusionieren in und durch reine(r) Schönheit. 4
In einem vergleichbar lieblichen setting geht es weiter: ERKIN CAVUS & REENTKO DIRKS faszinierten uns vor 2 Jahren mit ihrem Album "Istanbul 1900", nun legen sie eine "Ütopya" (Traumton) nach, in der sie nicht zurück, sondern nach vorn schauen: 2053 hat sich Istanbul – gottlob! – wieder zum Besseren gewandelt. Einmal mehr bezaubert das Wechselspiel ihrer Akustikgitarren, hier allerdings verstärkt um einige Gastbeiträge: den Schlagzeuger Demian Kappenstein kennt Dirks bestens aus dem gemeinsamen Quartett Masaa. Genau wie Bjarke Falgren, der bei zwei Stücken für die dort verbauten Streicher und deren Arrangements verantwortlich war. Und dann ist da noch der Pianist Clemens Christian Pötzsch, der vor allem beim Titelstück ein wirklich phänomenales Zwiegespräch mit der/den Gitarre(n) entwickelt. 4
Eigentlich auch recht "friedlich" beginnen HONEST JOHN ihre "Sweet Travels" (Particular). Mastermind ist hier Klaus Ellerhusen Holm (as, cl), der aus Paal Nilssen-Loves (Extra) Large Unit bekannt sein sollte – genau wie Akkordeon-Mann Kalle Moberg. Dazu kommen mit Kim Johannesen (git), Ola Høyer (b) und Erik Nylander (drums, perc) weitere Könner aus der lebendigen norwegischen JazzSzene (OK, Nylander ist glaube ich Schwede, aber wir wollen hier doch nicht zu kleinlich sein! Außerdem hatte er seine Roland TR-77 dabei und diese drum-machine bereichert den Gruppensound beinahe zu selten). Bald schon führen die Reisen aber in freiere Gefilde, die Einwürfe werde aggressiver und unberechenbarer, frischer. Bei "Looper" – für mich einer der Höhepunkte dieser CD - spielen das Akkordeon und die tiefe Klarinette mit Klangresten Ping-Pong, verknoten sie hier zu einem loop und spinnen dort einen feinen SoundFaden daraus. An solchen Stellen durchaus 5, fast 6 Sterne (Hunde!) wert, über die volle Länge denn aber doch eher: 4.
Mit HILDE MARIE HOLSENs CD "Ediacara" (Pelun) sind wir endgültig im ExperimentalStudio angekommen. Hier knuspert und faucht die Trompete zu raschelnden Schaltkreisen, im mehr als 16 Minuten langen Titelstück schälen sich aus den überblasenen Tönen längere Abschnitte voller verhuschter Schönheit, die zum Ende hin dann doch in noisigem Nebel versinken muss. Im relativ kurzen "Kambrium" überwiegt die ProzessorKunst: es quietscht und rauscht und dröhnt ganz wunderbar in dieser Neudeutung der "Kambrischen Explosion". Und auch "Ordovicium", der Titel des letzten, mit 12:03 Minuten wieder etwas längeren Stücks ist der Geochronologie entlehnt (und wie ich nachgeschlagen habe, auch zeitlich korrekt nach dem Kambrium angeordnet). Hier ist die Trompete wieder besser als solche erkennbar, auch wenn sie sich oft unter meterdicken Schichten aus Knistern, Gurgeln und Brummen versteckt. Alles wurde von Holsen in Echtzeit improvisiert, prozessiert und montiert. Und alles entstammt allein ihrer Trompete (und einem EffektGerätePark): "nothing more than breath and brass." And electronics natürlich. 5
Andreas TROBOLLOWITSCH kannte ich bisher eher als Schöpfer eigenartiger KlangSkulpturen oder -Installationen, bei denen z.B. irgendwelche Gegenstände durch Pleuel oder Seilzüge angetrieben beständig neu auf- und/oder ineinander fallen oder krachen und so dank automatisierten Wiederholung und kluger Setzung feiner Laufzeitunterschiede höchst faszinierende MaschinenSinfonien entstehen (auf seiner website trobollowitsch.hotglue.me kann man noch viele andere seiner fantastischen Ideen zumindest in kleinen Filmschnipseln bewundern). Auf der LP "Jeito de Ferver" (Sonoscopia) hat er sich mit dem Schweizer Thomas
ROHRER und der bei den Lesern dieser Kolumne als bekannt vorauszusetzenden Sainkho NAMTCHYLAK zusammen getan. RöchelKunst, tastendes SaxHauchen und mechanisches Schaben, manchmal (z.B. bei "Tul") klingt’s auch wie in der Lehrwerkstatt eines Schlossereibetriebs: Feilen und Schrubben. Es fehlt (mir) trotz aller klanglichen Kraft hier doch ein wenig die optische Dimension, rein akustisch ist das leider eher "mehr vom gleichen". 4
Das wie Trobollowitsch aus Österreich stammende und bisher als KGB firmierende Trio aus Didi Kern (dr), Bassklarinettistin Susanna Gartmayer und Thomas Berghammer (tp) hat sich – womöglich unter dem Eindruck der ehrlicherweise ja nicht ganz unbegründeten und hoffentlich nur temporär notwendigen Abkehr von allem Russisch anmutenden – in GBK umbenannt und täuscht zu Beginn von "Fulufulu Paupepa Paupapa" (Klanggalerie) scheinheilig vor, beinahe traditionellen Jazz zu improvisieren. Der wird aber sehr schnell sehr frei und schon im zweiten Stück mit dem schönen Titel "Gleichbehandlungskommission" auch recht abstrakt. Wir mögen das! 5
Zum Abschluss betreten wir mit den als DL-self-release via Visita Music veröffentlichten "Opp. 9 & 13" gemeinsam mit dem Inder Vivek Venugopal bzw. seinem Projekt VISITA noch den Konzertsaal. Opus 9 ist "A Soirée for the Migratory Birds" und #13 "A Suite for Strings & Winds"; beide wissen mit ihren minimalistisch-(neo)klassischen Strukturen durchaus zu bezaubern. Dass die Werke im letzten Jahr mit bzw. von Musikern des Moskauer Bolshoi Theaters eingespielt wurden, werten wir mal als Verständigungsversuch (auch wenn solcherlei Zusammenarbeiten momentan vielleicht von unzureichendem Fingerspitzengefühl zeugen - denn auch jenseits der fragwürdigen Großmacht-strategischen Propaganda des Mitleid heuchelnden westlichen Lagers bleibt der Krieg in der Ukraine immer noch ein nicht zu rechtfertigender Angriff auf ein souveränes Land!). 4
Wer YANN TIERSENs "Kerber" und das darauf aufbauende Album "11 5 18 2 5 18" (das wir in WZ 06/22 ja besonders lobten!) mochte, hat an "Kerber Complete" (Mute) ganz sicher seine helle Freude. Denn neben den beiden erwähnten Original-Alben enthält die 4-CD-Box auch eine Scheibe voller neuer Piano-Solo-Interpretationen des Ausgangsmaterials und eine CD voller (gern mal recht technoider) Remixe, bei denen entweder Leute wie Laurel Halo, Beatrice Dillon oder Iku Sakan Tiersen-Stücke neu zusammensetzen oder eben der Meister sich Material von NEU!, Keeley Forsyth, Michael Price oder Simon Fisher Turner & Edmund de Waal vornimmt. 4
Weit zurück in die Musikgeschichte gehen wir schließlich mit MARC-ANTOINE CHARPENTIERs von LA CHAPELLE HARMONIQUE unter VALENTIN TOURNET eingespielten "Te Deum" (Château de Versailles Spectacles). Charpentier führte als Schüler des Italieners Giacomo Carissimi italienische Stilelemente in die Hofmusik des Sonnenkönigs Louis Quatorze ein und dürfte auch bei Nicht-Barock-Fans zumindest durch das Präludium seines "Te Deum" vertraut sein, denn das ist die Erkennungsmelodie der Eurovisions-Sendungen. Neben diesen schillernden Pomp stellt Tournet das eher ernste "De Profundis", ein "Magnifikat" und 4 kurze Trompeten-/Trommel-Märsche. Neben den Barock-erfahrenen Instrumentalisten von der Chapelle Harmonique hören wir sehr begeistert die Stimmen der Sopranistinnen Gwendoline Blondeel und Cécile Achille Dessus, den Countertenor David Tricou sowie Mathias Vidal (Tenor) und Geoffroy Buffière (Bariton). 4
Fear No Jazz
›› MATTHEW HALSALL ›› SIMON BERZ / KONDO TOSHINORI / BILL LASWELL ›› FLOCKS ›› GEORGE ›› ALVIN LUCIER ›› DUO STIEHLER/LUCACIU ›› WIM MERTENS ›› FREDRIK RASTEN ›› FRANCESCO ARONI VIGONE ›› JAZZJANZKURZ ›› ANNA PROHASKA/PATRICIA KOPATCHINSKAJA/CAMERATA BERN ›› JAZZJANZKURZ ›› KJELL BJØAGEENGEN & CHRIS COGBURN ›› ENSEMBLE 0 ›› JAZZJANZKURZ ›› INGAR ZACH ›› TAJ MAHAL ›› RICKIE LEE JONES ›› EYDÍS EVENSEN ›› FIRE! ORCHESTRA ›› RAPHAELA GROMES ›› JAZZJANZKURZ ›› VALENTIN SILVESTROV / HELENE GRIMAUD / KONSTANTIN KRIMMEL ›› SAM GENDEL ›› JAZZJANZKURZ ›› THE NECKS ›› DOBRAWA CZOCHER ›› ME AND MY FRIENDS ›› SUNSWEPT SUNDAY ›› LE MILLIPEDE ›› JAZZJANZKURZ ›› LEA DESANDRE / IESTYN DAVIES / ENSEMBLE JUPITER (THOMAS DUNFORD) ›› LAUTTEN COMPAGNEY BERLIN & WOLFGANG KATSCHNER