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JAZZJANZKURZ

V.A.

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Jazz ist per se für Überraschungen offen, aber beim neuen Album "Oportet 475" (TUK) des aus Mailand stammenden MultiMusikers mit dem launigen Namen ZE IN THE CLOUDS stelle zumindest ich mir dauernd die an sich ja ziemlich dumme und überflüssige Frage: Ist das Jazz oder HipHop oder Avantgarde? Unter dem einem Beethoven-Streichquartett (nein, lieber Info-Autor, auch wenn im booklet "opera 135" steht, bedeutet das nicht, dass op.135 eine Oper, sondern dass schlicht die Werknummer gemeint ist) entlehnten Motto "Der schwer gefasste Entschluss" deliriert zu wild zerhackten drumProgrammen ein (verstimmtes) Klavier in wilden Läufen vor sich hin, bei "Before the tulips die" ertönt sogar ein – natürlich auch nicht ganz gewöhnlicher – Gesang. Und "Szena 2" kann man sowohl als schrägen HipHop-Versuch wie auch als FestplattenCrash deuten. Vorher sind übrigens bei "Fame Usque Mortem" keine Geringeren als Uri Caine und Paolo Fresu mit in den HungerTod gegangen, wohingegen "Persino" eine schon beinahe klassische JazzPianoEtude ist. Sagen wir’s mal so: überraschend, spannend, anstrengend. 4
Wesentlich zugänglicher, aber eben auch nicht ganz so aufregend ist "The Iridescent Spree"(Edition) von KURT ELLING & CHARLIE HUNTERs SUPERBLUE - wobei nicht (mehr) ganz so klar ist, ob SuperBlue nun zum Band- oder zum Plattennamen gehört. Egal, hier regiert funky SoulJazz - voller Querflöten, groovy beats (die manchmal fast eine gewisse d’n’b-Hektik erreichen), federnder BassLinien und gelegentlich geschickt eingebauten Bläsersätzen von den "Huntertones Horns", zu denen Kurt Elling seine ganze StimmKunst zwischen JazzCrooner, ScatMan und FunkDiktator ausleben kann. 4
Im "Open Water" der FORSONICS geht es jazziger, aber dennoch relaxt zu. Thomas Nordhausens Gitarren zärteln und grooven mit Chris Fischers Trompete bzw. Flügelhorn um die Wette. Das alles auf einer schönen Basis aus drums (Andy Gillmann) und keys (Carsten Stüwe). Inkl. einer feinen Latinisierung der ansonsten ja eher schlimmen Grönemeyer-"Männer" und einer schwermütigen "Can’t Buy Me Love"-Fassung. 4
Noch dichter an klassischen KlavierTrioKellerJazz pirscht sich das JOĀO PAULO ESTEVES DA SILVA TRIO heran, ohne dass die drei auf "The River"(Arjunamusic) wirklich Neues zu berichten hätten. 3
HEINER SCHMITZ ergänzt ein KlavierTrio um eine Gitarre (Martin Schulte) und spielt dazu auf seinem Saxophon. Hinter Titel wie artwork von "Heimatklänge" (beide JazzSick) werden viele etwas anderes als den dort dargebotenen fein ziselierten, hier elegischen, dort aber auch zupackenden Jazz vermuten. Doch die sensible Musik hat ihre Wurzeln in Schmitz’ Leipziger Kindertagen und den Ausflügen in die Familiendatsche in der Dübener Heide: "Ferien bei Oma". 4
FABIAN DUDEK bedient auf dem mit LA CAMPAGNE aufgenommenen 2CD-Album "Protecting A Picture That’s Fading" (Traumton) in durchaus klangverwandter Weise ebenfalls ein Saxophon. Hier etwas verspielt, da und dort auch mal sentimental, dann wieder als Freie Kunst, stets aber in großer Könnerschaft. Durch das Zusammenspiel mit der Flötistin Pauline Turrillo erfährt das Projekt eine zusätzliche schöne Erweiterung des KlangSpektrums. Und wenn eine Idee über ein halbe Stunde trägt (wie das Titelstück), dann gibt ihr Dudek diesen Raum auch - vor GenreSchranken und FormatVorgaben hat hier jedenfalls niemand Angst. 4
Benjamin KOPPEL (sax) und Scott COLLEY (b) spielen seit Jahren gemeinsam in unterschiedlichsten Anordnungen, auch Brian BLADE (dr) kennen sie (z.B. vom 2014er "Collective"-Album) bestens. Mit "Perspective" (Cowbell) legen die drei nun ein zugleich lustiges (der opener heißt z.B. "Alphabet Thief" und bezaubert mit eingestreuten AnalogTelefonTastenTonMelodieFetzen, launigen Sax-Happen und solidem RhythmusFundament), aber auch sehr konzentriertes Werk vor. KammerFreeBop feinster Machart. 4
Ich wiederhole mich zwar, aber es bleibt ja wahr: in Norwegen ist die Dichte hervorragender (Jazz)Musiker bezogen auf die Gesamteinwohnerzahl beängstigend (naja, eher erfreulich!) hoch. Deshalb darf man z.B. vom von Ellen Brekken geleiteten und unter dem schönen Namen A TONIC FOR THE TROOPS firmierenden b-ts-p-dr-4er auch Großartiges erwarten. "Realm of Opportunities" (Odin) bietet für norwegische Verhältnisse relativ konventionell angelegten, aber sehr feingliedrig gespielten lyrischen ModernJazz. 4
Die "Tøyen Sessions" (Heilo) des GJERMUND LARSEN TRIOs entstanden über einen längeren Zeitraum in der Osloer Tøyenkirka und hier kommt einmal mehr die typisch norwegische Kunst, gänzlich unverkrampft und mühelos Traditionelles und Avanciertes zu einer Einheit zu schmieden, zu einer grandiosen Ausformung. Die Fidel des BandChefs dominiert die Melodik, Bass und Klavier bereiten ihr ein lyrisch-warmes Bett, selbst beim "Vintermarsj" (=Wintermarsch). 4
Eine schwedisch-norwegische Mischpoke finden wir beim Trio RYMDEN, mit Bugge Wesseltoft (p/keys), Magnus Öström (b) und Dan Berglund (dr/elec) stecken keineswegs Unbekannte hinter diesem Projekt. Elektrifizierte Klangwelten treffen auf ruhige Akustika, Fusion-like Keyboards duellieren sich mit tiefenentspannter Perkussion oder (ganz besonders schön bei "Milam Bardo") mit einem kurz gestrichenen Kontrabass und beim opener "The Hike" hören wir JazzGitarrenGott John Scofield als Gast. Kompositorisch komplex und doch total relaxed – eine sehr gelungene Sache, das. 5
Wenn man sich statt des eher (Art)Rock-orientierten Ansatzes von Rymden nun ein Ambient-geschultes Herangehen und auch ein entsprechendes SoundSetting vorstellt, ist man schon recht nahe an den "Last Two Inches Of Sky" (beide Jazzland), nach denen EIVIND AARSET und JAN BANG streben. Wie bei den anspruchsvolleren Jazz-Ambient-Arbeiten der 90er regiert auch hier eine Art gedämpfter Unterwasser-Blubber-Klang die Szenerie, zu der bei "Legion" Nona Hendryx eine lasziv-bestimmte GesangsSpur beisteuert (im Titelstück darf Tim Elsenburg von Sweet Billy Pilgrim versonnen klagen). Auch einige Dub-like-BassLinien finden sich, genau wie leicht verwischte Posaunen, während sich Aarsets Effekt-geladene Gitarren um die "LFO-creatures" von Jan Bang schmiegen: Elektronik und Gefühl finden zu einer nahezu perfekten Symbiose. 5
Atmosphärisch passend erscheint hier die nächste LP/CD, auf der eine zarte elektrische Gitarre in wohliger KlangGestaltung ertönt und von der das Info meint: "Adroit jazz guitar, prog rock fantasia, and Japanese environmental music all rest comfortably behind LEO TAKAMIs "Next Door" (Unseen Worlds)". Mir allerdings ist es hinter dieser Tür ein klein wenig zu(!) gemütlich. 3
Da beamen wir uns lieber auf den "Neutral Star"(Miasmah), den THE PITCH & JULIA REIDY entdeckt haben. Hinter dem Berlin-4er The Pitch stecken mit Michael Thieke (cl), Boris Baltschun (elec), Koen Nutters (b) und Morten J. Olsen (vib) einige durchaus prominente und Improvisations-gestählte Musiker, die hier gemeinsam mit der australischen Gitarristin voller Ruhe, Ausgeglichenheit und Neugier eine melancholisch-drone-ende KlangWelt erkunden. 5
Für das artwork der "Neutral Star"-LP zeichnet Miasmah-Macher ERIK K SKODVIN gemeinsam mit Monique Recknagel verantwortlich. Und auf deren Label Sonic Pieces wiederum erscheint Skodvins neues Werk "Nothing left but silence" – Berlin ist manchmal eben auch nur ein Dorf. Nicht bleibt außer Stille – stimmt fast: ganz Skodvin/Svarte Greiner-typische bedrückend-ruhige, sehr ent- und doch auch höchst ge-spannt auf- und abschwellende loop/(semi)drone/sample-Kunstwerke. 4
Nichts wirklich Neues kann der Saxophonist und Hobbytaucher ULRICH KRIEGER dem Thema "drone" abringen. "Aphotic II — Abyssal" (Room40) bleibt in seinen drei jeweils 20:11 Minuten langen "Abyssal"-Ausdeutungen (in den Varianten "acoustic", "delay" und "electronic") trotz recht anständiger Tauchtiefe (53 m) irgendwie immer an der (Klang)Oberfläche. 3
Durchaus geistesverwandt, allerdings in meinen Ohren interessanter sind die "Modular Guitar Fields I-VI"(12K) des Schweizers ZIMOUN. Der verwendete für seinen einstündigen Exkurs in die hallenden Tiefen der GitarrenDrones lediglich "a Tenor Baritone Guitar" in Kombination mit "a vintage 1960s Magnatone Amp" und ein wenig ModularSynth. Konzentrierte Mediation. 4
Verweilen wir noch ein wenig an den Grenzen von drone-Land: VILHELM BROMANDER entwickelt im den schönen Titel "Låt våra tårar bli våra vapen" tragenden track 2 seiner aktuellen LP/CD "In This Forever Unfolding Moment" Thanatosis) aus einem Mantra-haften BrummDrone mit kreischendem Saxophon und gekonnt Amok laufendem Schlagzeug eine wilde FreeJazzFreiheit, die spätestens ab Minute 7 durch eine feine Bläsersektion etwas(!) zur Ruhe gebracht wird. Im letzten Stück erklingen sogar einige zarte Klavier- und Geigentöne, bevor sich alles zu einem furiosen "tutti" vereint. 4
Ruhiger, ohne aber auch nur eine einzige Sekunde unspannend zu sein, durchstreifen auf der MC "Interstitial" (Teleskop) OH NO NOH, JENNY BERGER MYHRE und FS BLUMM die experimentellen Felder, auf denen sie Aufnahmen zwitschernder Vögel und elektronische Improvisationen ausgesät und hier oder da vielleicht mit einem ganz kleinen Hauch (Electro)Dub oder zarten Gitarrensaiten gedüngt haben. Jeder der drei beteiligten Musiker entwarf ein Stück, zu dem die jeweils anderen beiden "overlays" beisteuerten, so dass sich die etwa halbstündige Kassette in drei knisternd-knackend-schwebende Wunderwerke gliedert. 4
Ähnlich gelassen und vermeintlich ruhig wird auf der LP "A Page Is Turned | A Mountain Collapses | A Guy Leaves" (Kohlhass) zunächst eine zarte SaxFigur gekonnt und konsequent moduliert und variiert. Später übernehmen Modulation und Variation auch mal schwirrende drums. Oder quietschende Flöten. Oder eine fragile AkustikGitarre. Und bei "meccanismo.04" röchelt zum feedback-Pfeifen sicher ein "extended sax". Aber woher wohl die klimpernden Raschelgeräusche bei "filo Rrosso 2" stammen? Die KlangQuellen des italienischen Trios McCORMAN bleiben geheimnisvoll… 4
Der Finne Vladislav Delay wechselt auf "Entain" (Keplar) übergangslos zwischen langen AmbientTracks und kurzen unbetitelten Intermezzi. Ein knuspernder Rhythmus-loop zerbricht in der Mitte (des loops oder/und tracks), das interessierte Ohr jedoch fischt sogleich eine neue ordnende Struktur aus dem HallRaum. Voller auch handwerklich höchst bemerkenswerter Beispiele für einen geschickten Umgang mit dem Sample-Baukasten in einer avantgardistisch-experimentellen, aber genau so auch impressionistisch-immersiven Anordnung. Kleine Frage am Rande: Was macht eigentlich Ihre Ehefrau, Herr Delay? Wann gibt’s mal was Neues von AGF? 5
Mit der "Disappearing Music (for Nam June Paik)" (Line) von KAMRAN SADEGHI bleiben wir handwerklich auf höchstem Niveau, werden aber vielleicht (noch) ein wenig abstrakter. Der New Yorker benutzte für seine Schichtungen den "Wobbulator, a 1970s video synthesizer of the founder of video art, Nam June Paik.", welcher von einem Korg MS20 und einem Doepfer A-100 ModularSystem gespeist wurde. Perkussive Sounds werden zu einem Zirkaden-haften Summen vielfach gewendet und in einer fabelhaften Balance aus scheinbarem Zufall und ebenso scheinbarer Gesetzmäßigkeit sortiert. Auch das früher so gefürchtete Bandrauschen gerät in den durchweg hochwertigen Konstruktionen aus strukturierenden "beat"-samples und einer knister-knaster-Grundatmosphäre immer mal wieder zum KunstObjekt. 5
Freier im Sinne von improvisierter scheint es mir bei der Produktion des neuen Werks von NICK DUNSTON zugegangen zu sein. Der hat für "Skultura"(Fun in the church) eine solche ganz neu zusammengestellt (denn Dunston spricht von seiner aus ihm selbst (b), Cansu Tanrıkulu (voc/elec/FX), Mariá Portugal (dr), Liz Kosack (synth) und Eldar Tsalikov (as/cl) bestehenden Band gern als Skultura). SampleChaos hier, fein durchdachte Ensemble-Stücke dort, dazu hochkomplexe Strukturen – sehr schöne KopfMusik. 4
Ähnlich wild, aber doch konventioneller und gar nicht so recht hierher passend ist der Ansatz der Antwerpener DAAU, was man ja bekanntlich als DIE ANARCHISTISCHE ABENDUNTERHALTUNG ausbuchstabieren darf. Deren s/t Debutalbum, im Original von 1995, erscheint nun als re-issue (und zum ersten mal auch auf Vinyl) beim Entdecker- und Grenzüberschreiter-Label Sub Rosa (um das mal wieder zu erwähnen: neben Les disques du crépuscule und Crammed das dritte jener Brüsseler Labels, die für meine musikalische Sozialisation sehr prägend waren). Penetrante AkkordeonEkstase, hemmungslose Klarinetten, heftig geschrubbte Kontrabässe, turbulente CelloGeigeVerstrickungen, kurz: bester AvantFolk-KampfJazz. 4
Ganz zum Schluss werden wir aber nochmal sehr "wohlklingend". Die zwischen Berlin und Warschau pendelnde Komponistin, Pianistin und Sängerin HANIA RANI fand für einige der Stücke auf ihrem neuen Album "Ghosts" (Gondwana) so sprechende Namen wie "Moans", "Nostalgia" oder "Whispering House" (feat. Olafur Arnalds). Hingehauchte Freundlichkeiten aus elektronischer WellnessAtmo (wahlweise mit "sensiblem" Klavier oder soft-stringenten beats) und entrückter VokalBegleitung. 4
Und auch der soundtrack, den LEONARD KÜSSNER für Wim Wenders’ FilmPorträt des großen Anselm Kiefer geschrieben hat, gibt sich über weite Strecken recht sinfonisch-konventionell. Dennoch besticht "Anselm" (Grönland) durch etwas Exzeptionelles, nämlich die Einbindung der Stimmen von Birita Poulsen und Samantha Gaul (beide Sopran), sowie – besonders großartig! - Fanny Soyer (Mezzo).

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