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2023 scheint ein Jahr der Beatles-hommagen zu werden, warum auch immer. So hat sich etwa der aus Österreich stammende Pianist Walter Fischbacher zusammen mit Kontrabassist Petr Dvorsky und Drummer Ulf Stricker 10 wohl fast jedem wohlvertraute Beatles-Songs vorgenommen. "PHISHBACHER TRIO - Plays The Beatles" (Lofish) heisst die CD dann auch konsequenterweise und was man darauf zu hören kriegt, ist zwar ganz herkömmlicher KlavierTrio-Jazz, durch die stimmigen Arrangements und die variantenreiche Ausgestaltung der auch in den improvisierten Abschnitten sehr sicheren Combo aber wirklich angenehm und durchaus auch als EinstiegsDroge für (Noch)NichtJazzer geeignet. 4Auch (noch) prominente(re) Namen wagen sich an die Hits der Fab Four. Wobei im Fall von "Your Mother Should Know – BRAD MEHLDAU plays The Beatles" (Nonesuch) "Hits" das falsche Wort ist, denn bis auf den opener "I Am The Walrus" wendet sich der US-KlavierJazzer hier eher weniger bekannten Werken zu. In seinem Live-Repertoire hat der Mann, der u.a. für seine geglückten JazzAdaptionen von Pop- oder KlassikStücken berühmt ist, Beatles-Nummern schon lange. Nun macht er daraus ein CD-Programm, das in seiner harmonischen Analyse, der feinfühligen Ausdeutung der ja nicht unbedingt banalen Original-Kompositionen und auch in seiner (klang)handwerklichen Umsetzung wirklich zu beeindrucken versteht. Im booklet erläutert Mehldau in einem längeren Essay, wie und warum er sich den Jungs aus Liverpool annäherte. Interessant auch, dass er die CD mit einer David-Bowie-Nummer ("Life On Mars?") abschließt. Dies könnte doch ein Ausblick auf Kommendes sein...4
Weg von den Beatles, zurück zum KlavierTrio: das GEE HYE LEE TRIO spielt auf "Parangsae" (Meix) unter Leitung der koreanischen Pianistin in einer knappen halben Stunde gemeinsam mit der ebenfalls aus Südkorea stammenden Sängerin Song Yi Jeon fünf zwischen östlichen und westlichen KlangKonzepten pendelnde, am Ende aber eben doch eher einem (beinahe etwas akademischen) JazzVerständnis folgende Stücke, darunter mit dem Titelstück auch (s)eine Interpretation eines koreanischen (Kinder)Lieds. Mir ist das Meiste hier allerdings etwas zu hüftsteif. 3
Auch der australischen Bassist CHRISTOPHER HALE beschäftigt sich mit den Wechselwirkungen von Ost und West und auch er arbeitet dafür mit einer Koreanerin, nämlich der Schlagzeugerin Minyoung Woo, zusammen. Der von den beiden auf "Ritual Diamonds" (Earshift) gewählte Ansatz ist mir näher: mit der Perkussionistin Chloe Kim (die ebenfalls koreanerinische Wurzeln hat und die der eine oder andere vielleicht von Holopeak kennt) und Trompeterin Nadja Noordhuis als Gästen tastet sich die Band mit Piano (bzw. Rhodes) und Saxophon durch einen klug eingerichteten KlangDschungel aus von Hales Flamenco-Vergangenheit geprägter Bass(Gitarren)Kunst, exotischen TrommelRiten und melodischem Zierrat. 4
Das PULSAR TRIO verblüfft mit einer ungewöhnlichen Besetzung: Klavier/Synth (Beate Wein), Schlagzeug (Aaron Christ) und Sitar bzw. deren große und damit tiefer klingende Schwester Surbahar (Matyas Wolter). Auf "We Smell In Stereo" (Musszo) wird aus diesem sich vielleicht etwas bemüht exotisch lesenden setting sehr lebendige Musik. Sitar-Schwingungen legen sich über repetitive KlavierFiguren, die Perkussion zischt und bebt, elektronische Garnierungen intensivieren den Gesamteindruck – das ZusammenSpiel macht den Unterschied und aus dieser Platte keine (pseudo)weltmusikalische Beliebigkeit, sondern einen sehr bezaubernden Grenzgang zwischen konzentrierter Improvisation und indischer Tradition. Vielleicht sollte man RagaJazz dazu sagen? Für den CD-Titel gibt es übrigens eine Erklärung mit SmallTalk-Wert: die auf dem Cover mit knappen Strichen skizzierten Haie können "in Stereo" riechen, also Gerüche räumlich verorten. 4
Mit Trommel-Gott TRILOK GURTU bleiben wir im Feld der avancierten Jazz-World-Fusion. Sein neues Album heißt "One Thought Away" (Highlight World) und zeigt den schon seit langem in Deutschland lebenden Inder in Höchstform. Die das Werk eröffnende vierteilige "No Fear Suite" ist ein Kunstwerk aus verzwickt-freiem TrommelZauber, rituellen SampleSchleifen und elektronischen Beigaben von Robert Miles (der Ex-Dream-House-König arbeitete vor seinem allzu frühen Tod 2017 schon seit längerem mit Gurtu). Dann kommt ein groovender "Gluten Free Song" mit schönem, die fetten (E-)BassLinien aufnehmenden und zwischen AfroFunk und JazzPop changierendem Gesang von Sabine Kabongo (Ex-Zap Mama!). Weitere SynthPerc-Suiten und rhythmusbetonte Stücke folgen, eines davon heißt "Don’t Shoot The Drummer" und dazu gibt es hier wirklich keinen Grund. 4
Experimentelle Klänge deuteten sich schon bei Gurtu an, mit einer Kapelle mit dem schönen Namen DAS BEHÄLTER begeben wir uns (noch) tiefer in den Sumpf der Freien Abstraktion. "Star of the Future" erscheint auf dem Staatsakt-Ableger Fun In The Church und bringt wirklich sehr viel Spaß in die JazzKirche. Das Behälter besteht aus der "transfeministische(n) Texterin und Performerin" Xenia Ende (formerly known as JX Ende), ElektroAlchimist Achim "Kuhzunft" Zepezauer, Julius Gabriel (sax, uva. mit Zepezauer auf bei The Dorf) und etwas, das man normalerweise Rhythmussektion nennt, hier aber nur als komplett wahnsinnige b-dr-Verknotung bezeichnen kann (Gabor Bodolay und Karl-Friedrich Degenhardt). Ist das spoken-word-(Caspar Brötzmann)Massaker-SampleRave? "I Don’t Think So". Vielleicht aber doch. Auf jeden Fall große Klasse. 5
Auch REINHOLD FRIEDL kennen wir als Freund strukturiert-freien Krachs, wenige Wochen vor dessen Tod ging er mit dem nicht minder lärmfreudigen PETER REHBERG ins Studio und begann dort an seinem "Inside Piano" zu Rehbergs electronics zu improvisieren. Das bis auf den sensiblen Mix von Dirk Dresselhaus ohne weiteres editing oder overdubs gebliebene und insofern "pure" Ergebnis der beiden Sessions präsentiert Karlrecords auf der gut einstündigen 2LP "Pita / Friedl". Zitternde ElektroSchreie treffen auf HöllenKlänge aus dem KlavierInnern = Freie Musik in höchster Vollendung! Am Ende schälen sich aus platzenden NoiseBlasen Rehbergs zunächst im Gelächter untergehende, im Nachhinein aber allzu prophetische Worte: "The computer says ’Stop!’ ". 5
Auch die in Berliner Echtzeit- und ImproMusik-Kreisen äußert präsente und umtriebige Elektronikerin ANDREA NEUMANN vertieft sich immer wieder ins "Innenklavier" - ob sie schon mal mit Friedl gearbeitet hat, weiß ich gar, interessant wäre eine solche Kollaboration ganz bestimmt. Ihr aktuelles SoloWerk "elletsreuef" (Thanatosis) wurde 2021 live beim MONOPIANO-Festival in Stockholm aufgenommen und besteht aus einem knapp 30minütigen ImproBlock voller harscher NoiseBrocken, feingliedriger KnisterKnack-Abschnitte und ohrenreinigender FeedbackPassagen. Wundervoll! 4
Aus Stockholm stammt auch die Kontrabassistin ELSA BERGMAN, die für "Playon Crayon" (Bergman Inspelningar) mit Filzstift oder Aquarellkasten sieben (auch im booklet abgedruckte) "graphic scores", ähm, gemalt(?) hat. Mit Bass, Trompete, Gitarre und Schlagzeug umgesetzt ist die klangliche Deutung dieser Kunstwerke manchmal anstrengend, manchmal inspirierend und manchmal – zumindest für mich – auch komplett unverständlich. 3
HENRIK OLSSON ist ebenfalls Schwede, wir kennen ihn eigentlich als drummer (z.B. von Muddersten), aber auf "Flyktighetens Psykologi" (Thanatosis) widmet er sich einem Harmonium. Dessen elegische Klänge begleiten Anna Lindal und Elsbeth Bergh an Geige und Bratsche sowie der Bassklarinettist Patrik Wingård auf höchst einfühlsame Weise, so daß hier ein Kosmos aus wenigen dahinschwebenden MelodieTupfen entsteht, der bei mir immer wieder Assoziationen zu Morton Feldmans Kunst des Weglassens hervorruft. 5
Hinter dem Projekt READING MUSIC steht eine ebenfalls schwedische Plattform für Wechselwirkungen von improvisierenden Musikern und Komponisten. Und auf der als "Volume 1" (Ausculto Fonogram) titulierten Zusammenstellung von Arbeiten der KomponistInnen Hanna Hartmann, Nomi Epstein und Michael Pisaro-Liu begegnen wir hier auch wieder Henrik Olsson, der hier für "contact mics, friction, objects" verantwortlich zeichnet. An Saxophon und Gartenschlauch hören wir den phantastischen Johan Arrias und am (präparierten) Klavier Lisa Ullén. Die Kompositionen basieren (zumindest z.T.) auf der schon bei Elsa Bergman erwähnten Technik der graphischen Notation und bewegen sich im Spannungsfeld von Neuer und Echtzeit-Musik. Epsteins "portals" bezieht sich dabei auf Rebecca Solnits Buch "A Field Guide To Getting Lost" (auf Deutsch als "Die Kunst, sich zu verlieren" bei Mathes & Seitz) und auch Pisaro-Liu ließ sich für "Der erste Stern ist das letzte Haus" von Literatur anregen (nämlich von Rilkes melancholischen Herbstgedichten). Nichts, was man nebenbei hören kann, für an intime Experimente gewöhnte Ohren aber (meist) ein Genuss. 4
Die Arbeiten von LUDGER BRÜMMER gehören systematisch sicher zur akademischen ComputerMusik, zeigen auf der 2CD "Sonic Patterns" (Wergo) mit ihren Untersuchungen der Optionen von GranularSysthese ("Repetitions" besteht z.B. ausschließlich aus entsprechend bearbeiteten Schnipseln einer Aufnahme von Strawinskys "Le sacre du printemps") und extremen Stauchungen und Dehnungen des Eingangs(Klang)Materials aber auch eine Verwandtschaft zu popkulturell sozialisierten Elektronikern (mir fällt da immer zuerst Frank Bretschneider ein) auf. Bei Brümmer liegt der Schwerpunkt allerdings – im vorliegenden Fall beinahe noch deutlicher als bei der phantastischen 2CD "Spheres of Resonance" vom letzten Sommer – auf der analytischen Interpretation theoretisch hergeleiteter Strukturen. Das für vier parallel von einem Computeralgorithmus angesteuerte Flügel entwickelte "Between Twilight", das hoch spannende, aus klassischen Trillern generierte Überlagerungen zu Gehör bringt, mag da als schönes Beispiel dienen. 4
Mit (etwas!) konventionelleren KlassikAnsätzen lässt sich die Musik der mir bis dato unbekannten US-amerikanischen Pianistin KATRINA KRIMSKY in Verbindung bringen. Erfolge als Interpretin von Samuel Barber, Heitor Villa-Lobos, Luc Ferrari, Karlheinz Stockhausen und Kollaborationen mit Minimalisten wie Terry Riley und La Monte Young führten zu eigenen kreativen Äußerungen zwischen experimentellem JazzKlavier und repetitiven Struturen. Dokumentiert wird diese Musik nun auf der CD "1980" (Unseen Worlds), die reichlich 70 Minuten in eben jenem Jahr live im CMS (= Creative Music Studio in Woodstock, NY) aufgenommener PianoKunst enthält und die ich nur empfehlen kann. 5
Zwischen 1976 und 1979 schrieb der Holländer SIMON TEN HOLT seinen einstündigen "Canto Ostinato"(Western Vinyl), den ERIK HALL jetzt neu eingespielt hat. Der Name ist Programm, das (bzw. die) Motiv(e) werden im Sinne eines klassischen Ostinatos beharrlich wiederholt, nach allen Regeln der MinimalKunst gegeneinander verschoben und überlagert – so entsteht eine Trance-artige Schönheit, die man mit dieser Aufnahme entweder am Stück (was zu empfehlen ist) oder in 9 kleineren Happen (Hall hat die insgesamt 106 "sections" an die Hörgewohnheiten der Generation Spotify angepasst entsprechend separiert) genießen kann. Übrigens kommt mir beim Hören von "Canto Ostinato" immer wieder der Verdacht, dass sich die Stranglers die berühmte Cembalo-Figur ihres etwas rührseligen Hits "Golden Brown" bei Ten Holt ausgeborgt haben. 4
Der Franzose DENIS FRAJERMAN schrieb "Tiphaine" (Klanggalerie) für seine Ehefrau zum 50. - ein schönes Geschenk, das nun vom Meister selbst an perc, b und "Rbox" sowie Carole Deville am Cello und der Violinistin Hélène Frissung interpretiert, der Allgemeinheit zugänglich gemacht wird. Auch Frajermann ist Minimalist im engeren Sinn, experimentiert hier aber mit arabischen Einflüssen und rhythmischen Splittern, die vom Balkan stammen könnten. 4
Und dann war da noch YANNIS KYRIAKIDES’ "Amiandos" (Unsounds), ein von den Erinnerungen an die Arbeit(er) in den Asbest-Minen seiner zypriotischen Heimat inspiriertes Stück ElektroAvantgarde. Mal durchwoben von FlötenFolkKlängen, mal voller staubig knirschender Sounds; mal mit bedrohlich verzerrten Chören, mal mit Fetzen aus griechischen 50er-Jahre-Schlagern skizziert Kyriakides hier die Entwicklung von der britischen Kolonialzeit über die Unabhänigkeit 1955 bis zum Renaturierungsprozess der aufgelassenen Mine. 3
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