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Beginnen wir das neue Jahr doch mal mit Klassik! Die vor kurzem 30 gewordene Italienerin BEATRICE RANA interpretiert auf "Clara & Robert Schumann: Piano Concertos" (Parlophone/Warner Classics) die Klavierkonzerte des Biedermeier-Ehepaars, begleitet vom Chamber Orchestra of Europe unter Leitung von YANNICK NÉZET-SÉGUIN. Sie beginnt mit dem einzigen erhaltenen Orchesterwerk von Clara Schumann (bzw. Wieck), dem von ihr mit nicht ganz 16 Jahren(!) fertiggestellten "Konzert für Klavier und Orchester a-Moll", einem Musterbeispiel romantischer Klaviermusik. Dessen jugendlichen Charme zeichnet Rana gekonnt nach, kein Gedanke an Schumannsche Schwermut kommt hier auf. Es folgt das "Klavierkonzert in a-Moll" ihres Mann, von Clara (die als gefeierte Klaviervirtuosin bei ihren Zeitgenossen nicht nur viel berühmter war als ihr kränkelnder Mann, sondern auch den größten Teil zum Familieneinkommen beitrug – man kann sich diese Umstände z.B. im zum Museum umgestalteten Leipziger Wohnhaus der beiden gut vergegenwärtigen) im Dezember 1845 uraufgeführt. Mal (relativ) "wild", dann wird hochromantisch "mild" (Schumann stellte sich diese musikalischen Temperamente in "Florestan" und "Eusebius" personifiziert vor) kann hier das Orchester zeigen, zu welcher Detailgenauigkeit es fähig ist. Zum Ausklang noch die Nr. 1-"Widmung" aus dem Liederzyklus "Myrthen" (übrigens das Hochzeitsgeschenk von Robert an Clara) als quasi beide Genies vereinigendes Element. Technisch höchst anspruchsvoll (Schumann eben) und von Rana natürlich makellos gespielt, haben wir hier ein feines Dokument sinfonisch-romantischer KlavierKunst. 4Jetzt zur Klaviermusik in einer zeitgenössischen, keineswegs aber weniger romantischen oder banale(re)n Fassung. Wenn MELAINE DALIBERT ein "Magic Square" (Flau 99) entwirft, hat das gottlob wenig mit "Neue Meister"-Klassik vom Schlage eines Chilly Gonzales, Ólafur Arnalds oder Jóhann Jóhannsson zu tun, sondern gebiert hochkonzentrierte, gleichwohl tiefenentspannte Solo-Piano-Schönheiten, die hier und da (z.B. bei "A Song") auch etwas freier daherkommen. Der Grundgedanke bleibt aber der einer ruhigen Anmut, durchaus vergleichbar der wunderbaren Musik eines Hans Otte. 4
Die Interpretationen der den meisten (zumindest denen, die diese Kolumne lesen) wahrscheinlich bestens vertrauten "Klavierstücke I–XI" von KARLHEINZ STOCKHAUSEN, die die Japanerin MIHARU OGURA auf der 2CD "Ogura Plays Stockhausen" (Thanatosis) präsentiert, sind zwar wesentlich fordernder, aber gleichfalls sehr gelungen. 4
Auch wenn das Cover ganz andere Spuren legt (in Poser-Metal-Manier stehen dort MARKUS NEUWIRTH (p), Hrvoje Kralj (b) und Jan Krizanic-Nessmann (dr) in Rüstungen gekleidet im Fantasy-Nebel), hat Neuwirths KlavierJazz durchaus seine Verbindungen zur oben erwähnten Schumann-Romantik. Gerade durch das das JazzTrio begleitende Streichquartett erhalten auch die von Neuwirth selbstverlegten "Tales Of Collapse" eine sinfonische (Zwischen)Ebene. Da wird dann schon mal ein Motiv aus dem "Intermezzo" von Schumanns Freund Johannes Brahms zitiert, bevor die StreicherStakkatos dazwischen brechen oder auch mal elektronische Elemente auftauchen. Und so gelingt tatsächlich die beabsichtigte "Filmmusik für die Realität": griffig, flott nach vorn gespielt, durchaus auch angriffslustig (manches kommt wie ein MetalRiff als KlavierAkkord!), im Grunde aber dann doch eher friedlicher (romantischer) PianoJazz. 4
"Dialogues in Jazz with my Grandparents Vol.1" untertitelt der junge Pianist ILJA RUF sein gemeinsam mit dem 54 Jahre älteren Saxophonisten BERND KONRAD eingespieltes Album "Utopia" (GP arts). 8 schöne Dialoge, frei improvisiert um stabile, dennoch leichtfüßige (und ebenfalls an das Romantik-Erbe anknüpfende) KlavierFiguren und kräftige Sax(und b-cl)-Kommentare. 4
Mit schwelgenden Streichern, zarten drum-Streicheleien und sentimentalen Klavierklängen geht es weiter, wenn die österreichische Sängerin SIMONE KOPMAJER sich "With Love"(Lucky Mojo) einem Dutzend SchmachtKlassikern (und zwei sinnesgleichen Eigenkompositionen) widmet. Das geht von Bacharachs Easy-Listening-Evergreen "The Look Of Love" über ein Bee Gees Stück und Hank Williams "Cold Cold Heart" bis zum unkaputtbaren "Over The Rainbow". Nicht zwingend notwendig, weil schon hinreichend oft so gehört, aber in seiner ganzen sweetness eben doch reizend. 3
Auch die beiden ECHO-Preisträger NILS WÜLKER (tp, flh) und ARNE JANSEN (git) spüren mit einigen Neu-Interpretationen (hier allerdings eher von Rock/Pop- bzw. SiSo-Stücken) dem Atem der (Musik)Geschichte nach. "Closer"(Warner) hat nichts mit Joy Division zu tun, eröffnet aber mit einer reduzierten Variante des schon vom späten Johnny Cash veredelten Nine Inch Nails-tracks "Hurt", gleitet dann in sanfte Trompeten- bzw. Horn-Träumereien über, die von der Gitarre nicht begleitet, sondern eher ergänzt werden. Zeitgeistgemäßer Mainstream-Hipster-Wohlfühl-Jazz, aber das muss ja nichts schlechtes sein. 4
Wie kommen wir von diesen zarten Wolken elegant zum lärmenden FreeJazz? Gar nicht, aber egal – wenn die norwegische LARGE UNIT um den WahnsinnsTrommler Paal Nilssen-Love losschlägt, bleibt sowieso kein Auge trocken. Dafür viele Münder, die stehen nämlich beim Hören der zwei gleichzeitig erscheinenden neuen CDs bestimmt länger vor Staunen offen. Eine trägt den wunderschönen Titel "Clusterfuck" und widmet sich vornehmlich der Interpretation graphisch (vor)notierter Themen, die andere heißt "New Map" und spielt mit den Reaktionen der beteiligten Musiker auf von PNL knapp ausformulierte "cells". 15 Musikanten, die richtig Lärm veranstalten, dabei aber auch in den eher meditativen Momenten (z.B. im "Gong Piece" von "New Maps") eine enorme Energie transportieren. 5/5
Für "Time Sound Shape" (alle PNL), ein knapp 50 Minuten langes EinzelWerk, beschränkt sich NILSSEN-LOVE gänzlich auf Gongs, hat sich aber mit FRODE GJERSTAD (as, afl und b-cl) und KALLE MOBERG (acc) zwei Freunde eingeladen, die der getragenen Atmosphäre weitere Tiefe verleihen, ohne auf einige heftigere Ausbrüche zu verzichten. 4
Auch das schwedische Projekt GAHLMM liebt den Lärm. Allerdings eher in einer elektronisch-avantgardistischen Ausprägung, "Break a Leg" (Geiger Grammofon) darf als ausreichendes Beweismittel gelten. Es beginnt mit einem krachenden Dreiteiler namens "Measurings", der ein bisschen nach "frühe Neubauten im Konzertsaal" klingt, geht mit dem p-perc-Duett "Friktion" weiter, das Feldman’sche PianoTupfen mit schabenden Klängen (und zum Ende hin auch ein wenig nur so mittelgut passendem ElektroLärm) verbindet, dann folgt ein frei schwebendes Flöte/Cello-Stück, bevor man sich mit "unRaveled" Klassisches vornimmt (es beginnt perkussiv-aggressiv und endet (natürlich) in KrachKunst) und schließlich mit dem Titelstück nochmal alle Instrumentalisten – in diesem Fall relativ zurückhaltend – zu NeuTonImprovisationen einlädt. 4
Das deutsch-japanische sax-g-dr-Trio SCHUBERT-UCHIHASHI-KUGEL besteht aus gestandenen ImprovisationsRecken. "Black Holes Are Hard To Find" (Nemu) ist schon mal ein prima Titel, die 7 Stücke darauf bewegen sich angenehm frei durch die JazzTraditionen, wirken aber manchmal doch ein wenig unfokussiert. FreeJazz bedeutet nicht, dass jeder gegen jeden, sondern alle miteinander spielen. 3
Etwas zurückhaltender, dennoch höchst intensiv, geht ESPEN FRIBERG bei seinem Vinyl-only-Solo-Debut "Sun Soon" (Hubro) vor. Zwitschernde, blubbernde oder wie ein angestrichenes Glas singende Synths treffen auf field-recordings – alles bis auf wenige Ausnahmen ("Thirteen Paintings" z.B.) sehr reduziert und minimalistisch-getragen. Keinesfalls illustrierender Ambient, sondern höchste Aufmerksamkeit fordernde KunstMusik. 5
Auch ANTHONY PATERAS’ Kompositionen auf der LP "Two Solos" (Futura Resistenza) tasten sich vergleichsweise behutsam durch die KlangFelder. Die fast 21minütige "Palimpsest Geometry" bestreitet Callum G’Froerer mit einer "double-bell trumpet", die in perfekte Dialoge mit sich selbst tritt, wogegen auf Seite 2 die italienische Sängerin Clara La Licata dem schön betitelten Stück "There Is A Danger That Only Our Mistakes Are New" (for voice and tape) ihre wunderschöne, im Wortlosen tiefen Sinn findende Stimme leiht. Freunde von Meredith Monk sollte hier unbedingt mal reinhören. 5
Nochmal Vinyl, noch eine starke, wenn auch zumeist nur hingehauchte Stimme: als APERTURE verstrickt ein in Berlin lebendes italienisches Zwillingspärchen auf "Stanze" (Stray Signals) spoken-word-Sequenzen mit harschen ElektronikSchüben und zarten, nur leicht verzerrten Klaviermelodien, lässt mal zitternde Perkussion (Andrea Belfi als Gast!), mal repetitive GitarrenFiguren die Begleitung der Soundscapes sein. 4
Bei Raul REFREE und seinem "el espacio entre" (tak:til/Glitterbeat) wird es splittriger, fasriger und irgendwie auch unvorhersehbar. Setsame drum-etuden wie "Montañas vacías" treffen unvermittelt auf verleierte MännerChöre und elektronisches Naseschnauben oder insistierende (manchmal auch ganz sentimentale) Gitarrenimprovisationen. Ich kann es eh nicht besser auf den Punkt bringen als das Info: "A kaleidoscopic but seamless mashup of soundtrack music, post-classical meditations, Iberian traditional elements and experimental strategies. Deeply immersive." 4
Ein anderes Feld der experimentellen KlangKunst beackern MUTE FREQUENCIES, ein Pärchen aus London (mit einer Vergangenheit bei der Avant-Post-Punk-Kapelle Sebastian Melmoth). Die beiden haben im Rahmen des Radio Revolten Festivals in Halle/S. anno 2016 zum einen einen schönen "soundwalk" über die dortige Ziegelwiese (ein innenstadtnah gelegener Platz an der Saale, zur familiären Erholung wie für open-air-Konzerte gleichermaßen beliebt) aufgezeichnet (ganz im Sinne des großen Raymond Murray Schafer) und zum anderen dortselbst ein (ebenfalls genau 21 Minuten langes) Stück namens "Fifty Hertz" improvisiert. Das besteht aus einem (50 Hz-)Netzbrummen im Hintergrund, vor dem Feldaufnahmen aus London, Berlin und Halle/S. zu einem elektronischen Gesamtbild verwoben werden: Glockengeläut aus dem FM-transmitter. Das ganze gibt’s als "Radio Revolten" (MFZ)-Konserve zum immer wieder hören, leider nur als download. 5
Etwas zugänglicher für solcherlei Experimente nicht Gewöhnte sind die Synth-Spielereien, die der eigentlich als drummer bekannte SAMUEL ROHRER auf einer Doppel-12" veröffentlicht. "Codes of Nature" (Arjunamusic) verschränkt ModularSynth-Sequenzen mit fragiler Perkussion, wobei natürlich das gekonnte Spiel mit verschiedenen Rhythmen prägend ist, ohne dabei aber Schönheit und Wohlklang im SoundDesign zu vernachlässigen. 4
Jetzt wird der Übergang wieder holprig: DIE DRAHTZIEHER nennt sich ein aus zwei Gitarristen und einem Kontrabass bestehendes Trio, das auf der im Eigenverlag erscheinenden CD "Out Of Silence" dem GipsyJazz frönt. Begleitet von Gästen mit Saxophon und Akkordeon und dem Paranormal String Quartett dominiert hier natürlich die AkustikGitarrenArbeit. Solide, aber wenn ich ganz ehrlich sein soll, ist hier auch ein klein wenig Langeweile King. 3
Das gilt leider auch für den zwar sehr professionell gespielten, aber leider ohne nennenswerte Neuerungen das schon so oft Gehörte wiederholenden SoulFunk der Aachen-Kölner Band JEWELZ. "Soul Inside" (SoundSeed) mag ein nettes Mitbringsel von einem (sicher hörenswerten) Jewelz-Konzert sein, ob die CD danach aber noch oft den Weg in den Player findet? Ich weiß es nicht...3
Da versetzen wir uns doch lieber in den von DUPLEX verursachten "Maelstrom" (ARC). Duplex ist (natürlich) ein Duo, bestehend aus dem Geiger Damien Chierice und Didier Laloy am Akkordeon. Die beiden Belgier pendeln munter zwischen textlosem JazzChanson und Freier Folklore, lassen dabei auch elektronische Effekte zu und schaffen so – gerade auch durch das geschickte Einbinden ihrer Gäste an Perkussion/Schlagzeug und Klavier - eine ebenso unterhaltsame wie auch aufregend-interessante KlangWelt, einmal sogar mit Trompete. 4
Drei große Traditionslinien verschlingen sich in der faszinierenden Musik des MOHAMAD ZATARI TRIOs. Auf "Istehlal" (Zehra) sind zu einem indischen Tabla-Beat syrische Oud-Klänge und iranische Tar-Melodien zu hören. Neben Kompositionen des aus Aleppo stammenden Oud-Spielers Mohamad Zatari zeigen die drei auch ihre Sichtweise auf klassische Radif-Muster des iranischen Meisters Hossein Alizadeh und ein Stück des ebenso ikonischen ägyptischen "Prince of Melody" Riad Al Sunbati. Mit "Gankino Horo" versuchen sie sich sogar erfolgreich an einem bulgarischen traditional. Spannend! 4
Und dann haben wir natürlich noch die "Musica Politica" (19’40’’) der ESECUTORI DI METALLO SU CARTA, die sich ausdrücklich den politischen Protestsongs der 70er und künstlerischen Kampfliedern verpflichtet fühlen. Es geht los mit ihrer knapp 20minütigen Fassung von Frederic Rzewskis "Coming Together", einer Aufzählung von Befindlichkeiten in Englisch mit einigen wenigen italienischen Einstreuungen, dazu ertönt repetitives Klappern, Klimpern und SequenzerBlubbern: "ich bin in exzellenter gesundheitlicher und emotionaler Verfassung!" Danach erklingt das kompakte "Solidaritätslied" von Brecht/Eisler, gespielt im Stil der Bolschewistischen Kurkapelle und mit deutlichem Italo-Akzent in 2:38 Min. hingeschmettert. Für Louis Andriessens "Workers Union" nehmen sich EdMsC wieder eine Viertelstunde Zeit – ein schönes Stakkato-Gewitter, bei dem man zwischen all dem wilden Trommeln und Blasen sogar das dramatische Schlagen der Klappen an Enrico Gabriellis Altsax hört. Sein Ende findet diese interessante CD mit einem ebenfalls 2:38 Min. dauernden "Sciopera!" - einem Streik! Deshalb besteht dieses Stück auch aus … "nichts"! Nicht nur ein Gruß an John Cage, sondern auch ein stiller Protest – das ganze Projekt wurde nämlich als Reaktion auf das bestürzende Wahlergebnis in Italien initiiert. 5
Fear No Jazz
›› DOBRAWA CZOCHER ›› ME AND MY FRIENDS ›› SUNSWEPT SUNDAY ›› LE MILLIPEDE ›› LEA DESANDRE / IESTYN DAVIES / ENSEMBLE JUPITER (THOMAS DUNFORD) ›› LAUTTEN COMPAGNEY BERLIN & WOLFGANG KATSCHNER ›› JEFF PARKER ›› JAZZJANZKURZ ›› ULRIKE HAAGE ›› JAZZJANZKURZ ›› MAKAYA MCCRAVEN ›› JAZZJANZKURZ ›› GYÖRGY KURTÁG ›› THE BOTTOMLINE ›› KRAJENSKI. ›› JAZZJANZKURZ ›› JAZZJANZKURZ ›› MARTIN TAXT ›› ANNE PACEO ›› WIM MERTENS ›› MARTELL BEIGANG ›› BEADY BELLE ›› DAY & TAXI ›› MESCHIYA LAKE & THE NEW MOVEMENT ›› JAZZJANZKURZ ›› ULITA KNAUS ›› JAZZJANZKURZ ›› JAZZJANZKURZ ›› BENEDICTE MAURSETH ›› AXEL DÖRNER & MAZEN KERBAJ ›› ALPACA ENSEMBLE & EIRIK HEGDAL WITH THEA ELLINGSEN GRANT ›› AMPAIR:E ›› MORITZ ANTHES