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Ja, es wird Weihnachten. Mit Macht. Merkt man auch in den CD-Regalen, denn dort stapelt sich die "Festtagsmusik". DIANA DAMRAU hatte dazu eine Idee: "Ich möchte mein ganz persönliches Weihnachten, wie ich es als Kind erlebt habe, mit Ihnen teilen und gemeinsam feiern." schreibt sie im Inneren des Klapp-Covers ihrer Doppel-CD "My Christmas" (Erato). Die Sopranistin ist Jahrgang 1971 und könnte somit durchaus mit den entsprechenden Schlagerkopplungen der 70ern aufgewachsen sein. Was erklären würde, weshalb die auf CD1 versammelten "typischen" Weihnachtslieder sowohl recht "altmodisch" gesungen wie auch vom britischen Dirigenten Richard Whilds mit den NDR-Sinfonikern und dem Knabenchor Hannover in ziemlich schmalzigen Arrangements eingespielt wurden. Von "Leise rieselt der Schnee" bis "Stille Nacht" ist – ob nun in ein Medley gezwängt oder als für sich stehendes Stück nostalgisch inszeniert – so ziemlich alles dabei, was Anneliese Rothenberger, René Kollo & Co. schon seinerzeit mehr schlecht als recht und mit dem Fokus auf anständige Verkaufszahlen unter’s Volk warfen. Wobei sich einmal mehr zeigt, dass das fehlerfreie Singen der vermeintlich banalen Liedchen gar nicht so leicht ist – auch Frau Damrau kommt da an einigen Stellen ins stimmliche Stolpern. Erquicklicher ist die den eher klassischen Stücken vorbehaltene zweite CD. Mit "Joy to the world" geht’s los und endet mit Adolphe Adams "Cantique de Noël", dazwischen hören wir viel Händel, einiges von Bach und Mozart, aber mit César Francks "Panis angelicus" und drei berührenden Stücken aus den "Laudate pueri Dominum" für Sopran und Solo-Trompete des böhmischen Barock-Komponisten Jan Dismas Zelenka auch eher selten Gespieltes. Hier stand der in historischer Aufführungspraxis geübte Italiener Riccardo Minasi am Pult und der Norddeutsche Figuralchor untermalt Damraus für diese Art von Musik viel besser geeignete Stimme. 4Ganz anders nähern sich TRYGVE SEIM & ANDREAS UTNEM ihren "Christmas Songs" (Grappa). Mit Klavier/Harmonium und Saxophon improvisieren die beiden munter um (mehr oder minder) bekannte X-Mas-tunes herum. Sensibel und respektvoll umkreisen sie das nur scheinbar schlichte harmonische Material, machen z.B. aus "Veni, veni, Emmanuel" ein wundervolles p-sax-Duett. Gleiches lässt sich über "Still, still, still" oder – es geht nicht ohne – die Seim/Utnem-Fassungen von "Joy to the world" und "Silent Night" sagen. Ohne jemals "anstrengend" zu sein gilt hier: kein Kitsch nirgends. 5
Auch wenn Christian Wallumrød die Stücke für die neue CD der TRONDHEIM VOICES aus einer anderen Inspiration heraus komponierte, wirkt "Gjest Song" (Hubro) doch auch weihnachtlich. Denn die fein austarierten Stimmen des Vorzeige-Chors der norwegischen JazzSzene machen aus den Liedern, die ursprünglich für eine fünftägigen DauerPerformance zum Trondheimer "International Olavsfest" 2015 geschrieben und gesungen wurden, auch auf Konserve eine sphärische Erfahrung. Schlicht und wunderschön. 5
Einen totalen Kontrast zu dieser konzentrierten Besinnlichkeit liefert der PAAL NILSSEN-LOVE CIRCUS mit "Pairs of Three" (PNL). Zwischen durch die Kanäle wandernden Trompeten und wildem Bass-drums-groove trötet PNL seine SaxFetzen gleich zu Beginn nach 2 brasilianischen MelodieInspirationen in die Luft. Es bleibt dann südamerikanisch, aber eben auch PNL-like: also pure wilde Kraft, manchmal etwas gebändigt ("Bota Fogo"), meist aber jenseits aller Grenzen – wobei der das "Dreier-Paar" abschließende "Hummingbird" tatsächlich ziemlich sanft zwitschert. Jedenfalls für Paal Nilssen-Love-Verhältnisse. 4
Wir bleiben noch einen Moment im JazzWunderLand Norwegen. Dort haben JAN MARTIN SMØRDAL und ØYSTEIN WYLLER ODDEN ihre "Kraftbalanse" gefunden. Die in zwei Teile gegliederte Komposition für "piano, alternating current and strings" erforscht die Resonanzen eines auf die Wechselstromfrequenz von 50 Hz reagierenden präparierten Klaviers, wobei die durch das ständige Zu- und Abschalten von Verbrauchern verursachten Instabilitäten des Stromnetzes leichte FrequenzVerschiebungen bewirken, die wiederum auf die KlangInstallation rückwirken. Dazu spielt ein Streichoktett, das nach notierten Vorgaben auf die von Messgeräten angezeigten aktuellen Stromschwankungen reagiert. Eine schon in der Beschreibung hochinteressante Anordnung, die – was ja bei solcher Art KonzeptKunst nicht immer der Fall ist – auch spannende (sic!) KlangResultate zeitigt. Schwebend schwankende Klänge, irgendwo zwischen Feldman und Scelsi. Nur eben (auch) als Jazz. 5
Auch hinter der "Musica Liquida" (beide Sofa) von INGAR ZACH steckt ein sorgsam durchdachtes Konzept. Das Fell einer Snare wird dabei durch vibrierende Lautsprecher angeregt, zu den so entstehenden BrummDrones spielt Zach diverse KlimperKlapperPerkussion, Kesselpauken und eine Gran Cassa (also eine Große (Bass)Trommel) – eine aufregende KlangReise! 4
Recht abstrus finde ich die neue Solo-CD des samischen Musikers TORGEIR VASSVIK, die korrekt und komplett wohl "Vassvik Solo - A Place Behind The Gardens Of The House. Baiki" (OK World) heißt. Erstmals hat der kauzige Barde fast alle Instrumente selbst eingespielt, ob Gitarre, "bones", "wood" oder "stones", ob Mandoline, Gong oder electronics, ob Bass, Mundharmonika oder traditionelle Instrumente Fennoskandinaviens. Dazu knurrt er mit gutturalem Gurgeln seine Joiks, die sich einen Teufel um westliches Harmonieverständnis scheren. Das Ganze ist einerseits wegen seiner radikalen Exotik durchaus spannend, andererseits durch die Fülle an Fremdartig- und Wunderlichkeiten aber auch etwas verstörend. 4
Kehren wir nochmal kurz zurück in die "Klassik-Abteilung". Vor einigen Wochen war ich enttäuschter Zuhörer bei einem Konzert der Abschiedstournee des großen Ludwig Güttler, der leider nicht mehr in der Lage (oder willens) war, mit dem Klang seiner BarockTrompete die Hallenser Ullrichskirche zu füllen oder die Herzen der Zuhörer zu erreichen. Vielleicht könnte die junge Französin LUCIENNE RENAUDIN VARY sich ja zu einer Nachfolgerin mausern, ihre mit dem Luzerner Sinfonieorchester unter Michael Sanderling eingespielte CD mit "Trumpet Concertos" (Warner) ist auf jeden Fall eine vielversprechende Visitenkarte. Stilistisch zwar ganz anders als der Altmeister der (sog.) Bachtrompete, trompetet sie sich hier durch ein klug ausgewähltes Repertoire. Das besteht zum einen aus den kanonesken Es-Dur-Trompetenkonzerte von Joseph Haydn und Johann Nepomuk Hummel (die sie übrigens beide auf einer B-Trompete spielt) und zum anderen aus eher selten (bzw. von mir noch nie) gehörten Sachen wie dem Trompetenkonzert der Armeniers Alexander Arutjunjan oder dem des böhmischen Vorklassikers Johann Baptist Georg Neruda. Dazu gibt’s noch einen kurzen Abstecher zum Jazzer Harry James (zwischen Hummelflug und Swing) und zum Schluss gar eine kleine Improvisation über ein Haydn-Thema. Vielfalt ohne Beliebigkeit! 4
Mit "QUER BACH 3" (Hey Classics) schlägt die Leipziger SängerInnenVereinigung SLIXS die Brücke von Johann Sebastian Bach zu facettenreichem a-capella-Jazz. Fünf Herren und eine Dame intonieren u.a. einige Goldberg-Variationen, die Fuge #2 aus dem "Wohltemperierten Klavier" oder "Contrapunctus No. 1" aus "Die Kunst der Fuge", aber auch einen Satz aus der vierten der "Suiten für Violoncello solo" – darauf muss man wirklich erst mal kommen. Und dann muss man das so gekonnt für ein Vokalsextett arrangieren (der Ruhm hierfür gebührt dem Tenor Michael Eimann). Und schließlich auch noch so perfekt und doch leichtfüßig einsingen wie SLIXS. Bravo. 4
Der Anstoß für eine andere ungewöhnliche Verbindung kam von Mathias Derer (ohne dass ich herausbekommen hätte, wer das denn ist). Dieser Mann hat nämlich unter dem Eindruck einer Reise durch die "Mata Atlântica" (d.i. der Regenwald an Brasiliens Ostküste) die Idee entwickelt, über seinen Freund MARKUS REUTER Musiker einzuladen, der Schönheit der dortigen Landschaft musikalisch zu huldigen. Reuter ließ dann – gleich einem Kettenbrief – etliche Künstler klangliche Schichten über- und nebeneinander legen. Auf field-recordings wurden E- und Kontrabass-Linien gelegt, dann kamen Klavier, Orgel und Synths dazu, dann Flöten-, Oboen-, Saxophon- und Trompetenparts und zum Schluß natürlich noch reichlich "Brasilian percussion" von Andi Pupato. Das Ergebnis heißt "Retiro e Ritmo" (Iapetus) und ist sehr hörenswert: zwischen Lust und Schmerz, voll von federnden Bassläufen und fallenden Bläserlinien. Bei "Um Beijo Selvagem" (= ein wilder Kuss!) z.B. bewegen sich Gesang und Klavier in perfekter Eintracht: die schmachtende Stimme von Graça Cunha, da die repetitiven KlarinettenFiguren von Brian Krock. Eine sehr gelungene EthnoJazzElektroFusion-GruppenArbeit, die mit einer ambienten Klanginstallation aus Urwaldgeräuschen und eletronics von Tobias Reber ausklingt. 4
Ganz traditionell nähert sich der Saxophonist ALEXANDER ’SANDI’ KUHN dem p-b-dr-Trio, das ihn auf "Meandering" (Meix) begleitet. Zu solider Rhythmusarbeit und einem sehr schönen impressionistischen KlavierKlang jubelt das Tenorsaxophon so konventionell wie kraftvoll. Mal mit voller Soul-Freude, mal in sich gekehrt, immer stimmig. 4
Zwar bedient Norbert Stein auf "Heartland" (Pata Music) ebenfalls ein Tenorsaxophon, doch ist die Musik der jüngsten Inkarnation von Steins Konzept Pata(physischer?) TonKunst deutlich fordernder. Als PATA POLARIS firmiert das "Trio für neue Bläsermusik", das neben dem Sax auch ein Euphonium (die Briten nennen das Teil passend(er) Tenor-Tuba) und diverse Flöten umfasst. Auf letztere reagiere ich in Rock- bzw. JazzZusammenhängen meist allergisch, hier jedoch passen sich die Zwitschereien sehr stimmig in das minimalistische KlangBild. Hochkomplex und doch transparent, verspielt und doch sehr durchdacht, neu-tönend und doch voller "groove" – Pata-Musik halt (und schöne Grüße an Alfred Jarry!) 4
Hört man anschließend "Goodbye Ground" (Relative Pitch), die Solo-CD von SAKINA ABDOU, meint man eine gewisse Verwandschaft zu entdecken. Was an der ähnlich puristischen Soundästhetik liegen mag, denn auch Abdou bläst Dir ihr Saxophon blank und direkt ins Hirn. Flatternde Figuren, klagende Einzeltöne, kurze Stöße, lange Atemübungen, enervierendes Beharren und rasches Steigern und Mäßigen – wer sein Instrument so beherrscht wie die Französin und zugleich so kreativ und inspiriert vors (Studio)Mikro treten kann, der schüttelt halt eben mal eine so phantastische CD wie diese hier aus dem Ärmel. 5
"Road Works" nennt die INSOMNIA BRASS BAND ihr aktuelles Werk und die Verschränkungen besinnlicher (oder auch scharfer) PosaunenKlänge (Anke Lucks) mit dem präsenten Baritonsax von Almut Schlichting und Christian Mariens hochsensibler TrommelArbeit nötigt mir einigen Respekt ab. Insbesondere, weil den dreien hier eine feine Balance aus grobkörniger Freiheit und feingliedriger Harmonik, aus Ausbruch und Melodie gelingt. Das ist avancierte Improvisationskunst, die der Legende nach unter dem Eindruck zahlreicher Deutschlanddurchquerungen (natürlich mit dem Zug) entstand – "Road Works" eben. 4
Wenn Frau Schlichting mit dem Kontrabassisten Sven Hinse arbeitet, nennt sich dieses Projekt SUBSYSTEM. Die CD "Drei" (beide Tiger Moon) beginnt mit "Sonderbarer Samba" und genau das ist dieses Stück auch. Es bleibt dann relativ intim, wenn auch fordernd – anders als bei der Insomnia BB ist "groove" hier nur unterschwellig relevant, das Duo erforscht die meist tiefen Tonlagen mit (scheinbarer) Ruhe in einem wirklichen Dialog. Mal melodisch, mal frei dahin vagabundierend. 4
TRÓNCO ist ein "experimental collective" aus Genua, das auf seinem Erstling "Trónco" (Torto Editions) sehr einfühlsam die Welten von fein austariertem akustischem Jazz und arabisch anmutendem bzw. verwurzeltem Gesang mit dunkel-ambienten ElektroKlängen und semi-orchestraler Gewalt verbindet. Da wird bei einem Stück zu einem KontraBassBogenDrone intoniert, bei einem anderen (oder auch demselben) zu elektronisch anmutendem SanftLärm. Eine sehr angenehme Form von Freier LaventeAvantFolklore. 5
SPILL sind Magda Mayas (piano, clavinet, fender rhodes, organ) und Tony Buck (drums, percussion, guitar, waterphone, monochord), also zwei der Großen der Berliner ImproSzene. "mycelium" (Corvo) heißt die Lp der beiden, auf der sie sich tastend um ihre instrumentalen Möglichkeiten bewegen. Feldman’sche Freiheit aus Ruhe auf der einen Seite, ungestüme Lust am Geräusch auf der anderen – und die Zeit verliert ihre Bedeutung. 4
Fear No Jazz
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