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In den Mai starten wir mit Folklore. Der von einem Ex-Rugby-Spieler (Dinge gibt`s!) geleitete IBERI CHOIR verknüpft auf "Supra" (ARC) georgische Traditionen, v.a. die polyphonen Gesangstechniken, mit sparsamen Gitarrenakkorden oder etwas Lautenzupfen. Die Männerstimmen sind fein austariert und einmal mehr wird an dieser schönen CD deutlich, dass die jeweiligen Traditionen zwar spezifisch, der "Geist" aber länderübergreifend ist (mache der Lieder könnten nämlich zumindest für meine Ohren auch aus skandinavischen Zusammenhängen stammen). 4Auch auf "Nearness" (Arts Culture Europe) spielt Gesang eine große und verzaubernde Rolle. LYNN ADIB lebt in Paris und ist im JazzGesang genauso zuhause wie in syrischen oder sogar auf byzantinische Wurzeln zurückgehenden Traditionen. Mit ihrem Duopartner MARC BURONFOSSE an diversen Bässen und kunstfertigen Gästen wie Jasser Haj Youssef an der selten außerhalb von Barockmusik zu hörenden Viola d’amore oder Mosin Kawa an den Tablas entführt sie uns in eine ZwischenWelt aus Jazz und syrisch-griechisch-arabischen Überlieferungen. Das Mitwirken des (byzantinischen) Chors Antifonico Melos aus Athen bereichert einige Stücke nochmal zusätzlich. Und: der "Geist" findet auch hier seinen Ausdruck. 4
Während der von der "INSULA" (Tropiques Atrium) Martinique stammende Pianist MAHER BEAUROY zarte Klavierlinien in das Ohr des Konsumenten schmeichelt, trägt die Sprecherin Flo Baudin engagierte Texte zu Kolonialismus, Gewalt und Ausbeutung vor. Der Kontrast zwischen Aussage und KlangBild ist dabei denkbar groß, denn nicht nur das Klavier, sondern auch die Begleitung von Bass, Percussion und/oder Streichern, Oud, Flöte und Mandola ist durchweg sanftmütig. Anklänge an nordafrikanische, arabische oder afro-karibische Traditionen finden sich in diesem SchönKlang genauso wie Klassikzitate und moderne JazzFiguren (auch und gerade beim phantastischen KunstJazzGesang von Sélène Saint-Aimé). Schön. 4
Bleiben wir noch ein wenig bei "schönen Tönen". Die Idee des im booklet vom Leipziger Gitarren-Professor Werner Neumann nicht zu Unrecht zum "deutschen Jazz-Adel" gerechneten drummers PETER WEISS, mal eine Platte mit nicht weniger als vier(!) Gitarristen zu machen, geht auf "Conversation With Six-String People" (JazzSick) bestens auf. Philipp van Endert, Norbert Scholly, Sandra Hempel und Tobias Hoffman sind aber auch große Namen und wenn die allein oder auch alle zusammen Weiss begleiten, entstehen beeindruckende Dia- bzw. Trialoge von Gitarre(n), Bass und Schlagzeug. 4
Etwas grooveorientierter wird’s mit der DELBRUEGGE BAND, deren "Analogue Souls" (Westpark) ihr Chef "irgendwo zwischen Duke Ellington, Tom Waits und Clärchens Ballhaus" verortet. Damit liegt Bernd Delbrügge ganz richtig und er hätte durchaus auch noch George Clinton und Stax Records erwähnen dürfen. Ein Stück auf dieser ausschließlich mit analogen Instrumenten eingespielten und nur auf heavy Vinyl erscheinenden Platte heißt "Juliette", denn der Kölner Saxophonist verliebte sich im Kino bei "Chocolat" in Madame Binoche. Weil mir das schon 7 Jahre vorher bei "Drei Farben: Blau" auch passiert ist, übernehme ich gern den Botendienst und übergebe der wundervollen Französin das Belegexemplar persönlich. 3
Das die erste der 2CD "Paranoia" einleitende "Prelude" besteht aus einer Aneinanderreihung von AnsageSchnipseln mit den Namen etlicher großer Jazzern wie Miles Davis, Charlie Parker oder Dizzy Gillespie (to name but a few) – eine schöne Verneigung vor jenen, die den Weg bereitet haben für die FusionPower von Hammond-, ja Keyboard-überhaupt-Gott BOBBY SPARKS II. Es folgen über 2 Stunden fettester FunkSoulRockJazz voller Energie – manchmal kurz vor’m Wahnsinn, manchmal auch schon dahinter. Furios! 5
Die gerade vergossenen Schweißtropfen können im "Peace Of Mind" (beide Leopard) vom Klaviertrio um SIMON OSLENDER wieder trocknen. Mit Will Lee (b) und Wolfgang Haffner (dr) hat der erst 24jährige Aachener dabei zwei gestandene Leute an seiner Seite, die dem mit etwas Synth/Elektro-Effekt und Orgel/Rhodes-Beigabe abgeschmeckten melodiösen PianoJazz hier und da ein wenig Rock- oder besser Pop-Flavour mitgeben – wobei mir persönlich die melancholischen Balladen (z.B. "I Will Be There" oder das Michael Brecker gewidmete "Blue Mike") doch am besten gefallen. 3
Noch ein Jahr jünger ist der Chef vom LUKAS LANGGUTH TRIO, das mit "Save Me From Myself" (Unit) 10 fein durchgearbeitete Stücke vorlegt, die sich trotz der Jugendlichkeit der Musiker (zusammen sind sie gerade mal 77 Jahre alt) durch eine große (jazz-klassische) Reife auszeichnet. Langguth hat zu jedem Stück einige Worte verfasst, in denen er die Intention der Kompositionen erläutert – das reicht vom Umgang mit unerfüllten Wünschen ("Immerfern") bis zu einem "Wiegenlied für einsame Seelen" und Musik gewordenem Nachdenken über Künstliche Intelligenz. 4
Eine ganz andere Form von Klaviermusik pflegt der Südtiroler JÖRG ZEMMLER in seiner "Piano Bar". Für die reflexiven TastenKleinode, die der Mann da tapfer im Selbstverlag präsentiert, gibt er als Referenzen "Cage, Feldman, Satie, free jazz, minimal music, but also Beethoven in his quieter passages" an. Nun ja, das ist nicht ganz falsch, aber auch nicht ganz richtig. Denn jeder der gerade Genannten war (in seiner Zeit) ein Visionär und radikaler NeuSchöpfer. Zemmler hingegen repitiert, seiner zugegeben sehr angenehm zu hörenden Musik fehlt ein innovatives Element. 3
Dann doch lieber gleich die Originale: neben 20 Cage-Minuten (wir hören "Music for Piano 4-19") spielt die in Schweden lebende Pianistin KRISTINE SCHOLZ auch Auszüge aus Hans Ottes "Buch der Klänge" (namentlich die Teile IV, II, IX und XII). Die Interpretation von Herbert Henck (ECM 1999) ist zwar nach wie vor unerreicht, aber Scholz versteht es sehr gut, sich in die zarten TastenWolken einzufühlen. Das durchgehend gedrückte rechte Pedal lässt diese auf "Scholz Plays Otte and Cage" denn auch sehr schön ineinanderfließen. 4
Auch MARTIN KÜCHENs Musik ist meist vordergründig ruhig, doch selbst auf oder in "Utopia" (beide Thanatosis Produktion) verbergen sich sublime Kräfte. Unterschwellig erinnert der opener mit dem seltsamen Titel "Ein Krieg in einem Kind" mit seinem röchelnden background-drone denn auch an das großartige, nicht minder beängstigend "Lieber Heiland, lass uns sterben" benannte 2017er Album des Schweden. Zu kreiselnden Klängen, die von einer Sitar stammen könnten improvisiert Küchen auf seinem Sax – niemals laut fordernd und doch immer voll von energischer Kraft. Ein elektronisches Schaben oder kratzendes Rauschen dringt denn auch in vielen anderen Passagen dieser starken Platte aus dem "Hinten" neben das (vermeintlich) führende Saxophon. Das nur 1:09 Minuten kurze Titelstück hingegen besteht – ganz im Sinne von Cage’s 4’33" " aus (wieder: vermeintlichen) Nebengeräuschen und Gerätebrummen. 5
Wenn die beiden Saxophonisten Stefan Karl Schmid und Leonhard Huhn gemeinsam musizieren, nennen sie ihre Band folgerichtig SCHMID’S HUHN und deren "Neo Cool Jazz" fanden wir schon bei der letzten (2.) Studio-CD (2108) recht prima. Die lockdown-Langeweile haben die beiden genutzt, um viele neue Ideen auszubrüten, die sie in 2020 im Kölner Subway auf die Bühne bringen durften. 2 von 5 Abenden haben sie mitgeschnitten und daraus wurde "Layers (live)" (shoebill). Neben Alt- und Tenorsax hören wir auch mal eine Klarinette und sogar etwas Elektronik zum b-dr-Fundament. In den knapp 40 Minuten finden sich etliche intensive Momente zwischen konzentrierter Improvisation und solider Rhythmusarbeit – besonders schön z.B. bei "Imagine Be Free". Und wenn die Stücke so launige Namen tragen wie "Somebody steals my political opinion" oder gar "Fall down seven meters and become a machine", wissen wir, dass hier auch Humor eine gewisse Rolle spielt. 4
PHRAIM ist die Band um die in Graz geborene, aber schon lange in der Schweiz lebende Sängerin Nina Reiter, die 2 Jahre nach dem beachtlichen "Tides" nun mit "Hysteria" (QFTF) neues Material präsentiert. Ihr Klavier-Trio begleitet dieses Mal relativ "rockig" und so wird aus Jazz hier eine Art SongwriterPop mit breaks und Phrasierungen. Was mich zunächst nicht wirklich berührte, hat sich aber nach mehreren Durchläufen doch so in mein Ohr gefressen, dass die CD vorläufig nicht im Regal verschwinden wird. Probiert z.B. mal "Tall" und es wird euch genauso gehen. 4
Den genau umgekehrten Weg nahm leider JOHANNA BORCHERTs neue CD "Amniotic" (yellowbird/Enja). Was zunächst, besonders durch den bezaubernden opener "Oh Boy", so kraftvoll und packend erschien, verlor mit jedem Hören etwas von seinem Bann. Improvisationen am Flügel, hier und da elektronisch verdichtet und von einem durchaus sensiblen Schlagzeug untersetzt – dazu eine wirklich schöne und gestaltungsmächtige Stimme... und doch ergreift mich diese Musik immer weniger. Warum nur? Probiert’s vielleicht besser selbst aus – kann sein, dass das doch eine ganz große Platte ist. 3
Jetzt hat Leipzig also auch (s)eine kleine AmbientJazz-Sensation! WELTEN heißt die Band, die mit filigranen Bläsern, Wurlitzer/Moog und natürlich hochsensiblen percussions die Welten (ha!) zwischen PostRock und (Bar)Jazz bereist. "Thaw" (Jazzlab) bringt tatsächlich vereiste Herzen zum Schmelzen, denn hier gesellt sich zu einem wissenden Verständnis von Jazz auch eine gute Prise melancholische Entrücktheit. Besonders spannend finde ich allerdings jene Momente, in denen sich die minimalistische Schönheit ins brüchig-rissige auflöst – beispielsweise in der zweiten Hälfte von "Pipoca". 5
Nun war NILS WÜLKER noch nie jemand, der Angst vor der große Geste gehabt hätte (sein internationaler Erfolg scheint ihm damit ja auch Recht zugeben), aber mit "Continuum"(Warner) treibt er seinen lieblichen Schönklang auf die Spitze. Das Münchner Rundfunkorchester illustriert die Ideen des schmachtenden Trompeters, mal mit Breitwandsound, mal mit minimalistisch groovenden Streichern. Dass dazu auch noch ein stark an Rock/Pop-Konventionen orientiertes Schlagzeug gemischt wird, erlaubt auch HitparadenFreunden, hier mal "Jazz" zu hören. Tiefe sucht man (deshalb?) in dieser zur bloßen Unterhaltung verkommenen Musik leider vergeblich. 3
"De mortuis nil nisi bene." - über die Toten nur Gutes. Das fällt mir – to be honest - bei EUGEN CICERO leichter als bei seinem Sohn ROGER. Der aus Rumänien nach Berlin geflohene und später in die Schweiz übergesiedelte Vater war ein beeindruckender Klaviervirtuose, der in seine durchaus am Massengeschmack angelehnten PianoImprovisationen immer wieder mit großer Raffinesse und enormer Technik KlassikZitate einflocht – nicht nur sein legendäres "Rokoko-Jazz"-Album verkaufte sich prächtig. Der Mann starb schon mit 57 Jahren und auch sein singender Sohn Roger wurde nicht alt. Wobei mir dessen Gesangs-Stil immer etwas aufgesetzt und bemüht "jazzig" vorkam – der Mann hätte m.E. ehrlicherweise SchlagerSänger werden sollen (eigentlich war er das ja auch). Aber auch hier entschied "der Markt", der fand diese Musik prima. Katharina Rinderle hat den das Leben dieser beiden Musiker nachzeichnenden Dokumentarfilm "Cicero - Zwei Leben, eine Bühne" produziert, zu dem auf In+Out der Soundtrack mit alten (und wohl auch 6 bisher nicht gehörten) Aufnahmen von Vater bzw. Sohn erscheint. Neben allbekannten Pop(!)Jazz(?)Nummern wie eben "Zieh die Schuh aus" und einigen wirklich feinen KlavierStücken (darunter eine sehr gekonnte Eugen-C.-Fassung von "Sunny"), hören wir u.a. aber auch ein grandios missglücktes, völlig seelenloses Roger-C.-Cover von "Kiss". Falls es das Jenseits gibt und man von dort aus Zugriff auf die Musik im Diesseits hat, wird es für Cicero jun. dort eng – denn Prince will sich garantiert für diese klinische Interpretation seines lust-triefenden Originals rächen. 2
Fear No Jazz
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