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Wenn alle Welt in glühweinseligem WeihnachtsSchmalz ertrinkt, feiern wir hier natürlich ein kleines AntiProgramm. Zuerst schön heftig mit den TAUBEN. Der Bandname soll sich wohl auf die Tiere beziehen (und nicht auf Gehörlose – da wäre die Bezeichnung auch wirklich nicht mehr zeitgerecht und völlig unironisch geschmacklos wie nur was), aber das ist ja auch gar nicht wichtig, weil: da ist "Kotze im Maschinenraum! Kapitän, wir müssen pumpen!". Solch wichtige Botschaften verbreiten die Täubchen auf "Bis ans Ende der Schäbigkeit"(Major Label/Misitunes/Hanseplatte). Aber ist dieser von Moses Schneider und Jens Rachut (jaja, ein wenig namedropping muss schon sein!) produzierte Hamburg(Post)Punk nun ein AUGN-rip-off oder doch nur – dann meinetwegen ganz gut gemachter – KneipenRock? Für AUGN-Verhältnisse gäbe es hier zu viel Dekor, für Kneipenrock ist manches aber einfach zu schlau. Entscheidet selbst und gebt den Tauben eine Chance: "Keiner ist hier Fleisch. Wir trinken nur das Blut." 4Über Felix Kubin hat auch CEL irgendwie mit Hamburg zu tun. "Five minutes to self-destruct" (Gagarin) heißt die 12" voller elektronischer Spielchen, die Kubin (synth, fx, voc) und Hubert Zemler (dr, fx, voc) + BONHOFER 5 (prothetic comment) aus diversen Liveaufnahmen zusammenmischten. Gewonnen aus vielfältigen Verknotungen etlicher SequenzerSchleifen wird hier manches zu ElektroKrach, anderes zu "Blauer Dunst"-dark-ambient mit höchstem Gefährdungspotential. Wenn sie dann aber versuchen, Text/Gesang mit einzubauen, wird’s (unfreiwillig) komisch, denn über z.B. "Neustart Generation" hätten wir selbst zu den Hochzeiten der NDW-ReimWut eher mitleidig gelacht (auch wenn musikalisch da der 80er-minimal-synth-spirit ganz gut auf die Produktionsmittel der 2020er übertragen wird). 3
Und schon sind wir im ElektroStrudel. Dort wirbelt z.B. das "Magma" (No Sun) von WANU, einem Projekt um den Schweizer Bassisten Sébastien Pittet, zu dessen Performances wohl auch live gemalt wird (jaja, haben wir in unserer Jugend auch gemacht, aber das vergessen wir besser). Ein geheimnisvolles Klopfen liegt über (oder in) SynthWäldern, gern auch stark verhallt, und geht in ein gemächliches Gluckern und Blubbern über, tatsächlich ein wenig wie "In Utero" (bzw. so, wie man es sich dort vielleicht vorstellen könnte). Was uns zugleich einen gleitenden Übergang in das "Mystere" ermöglicht, das von einem halbdunklen Bass regiert wird. 7 ruhige, ineinander übergehende Stücke, wobei die elektronische Nachbildung des "Ocean" vielleicht etwas zu vordergründig oder sogar ein klein wenig albern ist. In "Origine" taucht die angenehm brüchige Stimme von Saadet Türköz auf, die in einer düsteren Atmosphäre aus SynthesizerSound und spärlichen, aber umso dramatischeren TrommelSchlägen klagend schwer Verständliches deklamiert (zur Mitte hin schlägt das Ganze kurz in hysterisches Krächzen und Miauen um). 4
Lieber nichts sagen möchte ich zur neuen TARWATER namens "Nuts of Ay" (Morr), denn die Platte ist sicher wirklich nicht schlecht. Und doch tat ich mich damit wieder einmal schwer, wie schon mit dem letzten Lippok/Jestram-Werk ("Adrift" ist auch schon wieder 10 Jahre her). Eine Art elektroniklastiger NeoPostRock, bei aller Reduziertheit doch mit quasi sinfonischer Geste gespielt, der für mich gerade mit seinem englischen Gesang (den ich an dieser Stelle auch für weniger passend halte) ein klein wenig unmotiviert klingt. 3
ULRICH TROYER ist Teil des wunderbaren, eher experimentell orientierten Wiener Vegetable Orchestras, sein "Transit Tribe" (4Bit-Productions) aber verbreitet zuvorderst sanfte DubWärme. Die wird hier von einer gewissen elektronischen Kühle kontrastiert und verleiht den Stücken Titel, die für mich mit "Wir fahren mit dem Auto in den Urlaub" konnotiert sind - besonders gefällt mir die "Autostrada del Brennero" (also nicht wirklich die Straße, sondern das so geheißene Stück). Bei "Europabrücke" hören wir die Bassklarinette der famosen Susanna Gartmayer, vorher kam Wolfgang Pfistermüller vom Vienna Trombone Quartet zu Gehör und auch die Zithern von Martin Mallaun und Reinhilde Gamper. Also: das Experiment "Experiment trifft auf DubGroove" ist gelungen. 5
Eine ähnliche und doch etwas andere Wiese bespielt Detlef Weinrich aka. TOLOUSE LOW TRAX. Die LP "Fung Day" (TAL) erscheint zwar auf einem neuen Label, vertraut aber auf den von den Bureau B-Veröffentlichungen vertrauten DigiDub-Sound aus zu Schleifen verknoteter Wärme. Und ja! - das ist in weiten Teilen ein sehr guter "Guide To Move". 4
Mit einer deutlichen Prise LoungePop spielen auch DE-PHAZZ ihre entspannten Grooves auf "De-Drums"(phazz-a-delic) gern mal als Dub. Als Posaunen-Aficionado gefällt mir natürlich nicht nur der TrackTitel "Drumbone Dub" besonders, sondern auch der dort zu hörende smoothe up-tempo-Dub-tune (wir hören hier übrigens die "Karl Die Große"-Posaunistin Antonia Hausmann). Doch der Titel der Platte (die eigentlich "nur" ein download ist) weist nicht umsonst in Richtung Schlagzeug(er) – De-Phazz-Chef Pit Baumgartner hat jede Menge feinster Drummer für sein Vorhaben gewinnen können. Hypnotische LoungeBeats, schwelgende Streicher, zarte Bläser, hier und da sogar eine Flöte oder ein Akkordeon – Musik, die für BWL-Studenten (die sind in meiner klischee-satten Welt die Hauptkonsumenten von LoungePop, jedenfalls wenn sie mal einen auf "cool" machen wollen) eigentlich viel zu schade, weil viel zu gut ist. 4
Ähnlich hochwertig und durchaus auch Lounge-kompatibel ist JOÃO SELVAs neue "Onda" (Underdog) (Onda = Welle). Der Brasilianer räkelt sich mit samtener Stimme zu smoothen SynthWürfen auf feder(Bass)weichem Grund. Unter der Mittelmeer-Sonne auf einer kleinen französischen Insel zwischen Nizza und Marseille aufgenommen, atmet "Onda" gleichermaßen den vibe der "Música Popular Brasileira" wie auch südfranzösisches "laissez faire" und insbesondere die von einem gewissen Bruno Patchworks geleistete feine BassArbeit möchte ihr hier nochmal besonders herausheben. 4
Aber nochmal kurz zurück zu feinen Bläsereien und fetten Grooves, allerdings in einer wesentlich weniger "noblen" Ausprägung als eben bei De-Phazz. Denn die Dresdener BANDA COMUNALE versteht sich (auch) als StraßenmusikProjekt, als lebendiger Ausdruck einer (zumal im rechts-blau-braunen Sachsen) dezidiert widerständigen und widerspenstigen Ausdrucksform alternativ-bunter Lebensentwürfe und aktiven Protestierens als "DemokratieUltras" – es darf hier also auch mal ein wenig handfester, ja "dreckiger" zugehen. "Live in Rudolstadt" (Trikont) zeigt die vielköpfige Kapelle in Bestform – zwar stammt der Mitschnitt nicht vom legendären Folkfestival selbst, aber was die Damen und Herren da am 02/09/23 in die Crowd bliesen, lässt keine Wünsche offen: Cumbia, Balkan, Nahöstliches, Klezmer, aber auch ein "Abmarsch" (der bei der Banda natürlich alles andere als einen geraden Takt hat) – Hauptsache es hat einen soliden BläserGroove. Löblich nicht nur das allgemeine burschikose Auftreten, sondern auch das – und das ist auch in dezidiert linken Kreisen keinesfalls etwas Selbstverständliches – konkrete Auftreten (also das auf der Bühne), das Spielen an den Randstellen, in den dunklen Ecken der ostdeutschen "Freistaaten". In den Worten der Banda liest sich das wie folgt: "So klingt geselliger Antifaschismus in der sächsischen Provinz, die längst noch nicht verloren ist. Fett, fett und nochmals fett. Die Banda Comunale gibt es seit über 20 Jahren und sie besteht aus über 20 MusikerInnen aus fast ebenso vielen Ländern, immer gut für Überraschungen und beherztes Eingreifen, wenn die WutbürgerInnen mal wieder durchdrehen. Seit einem Jahr konzentrieren wir uns vor allem auf die kleinen Dörfer und Städte in der ostdeutschen Provinz, die nicht aufhören sich gegen die rechte Vereinnahmung zu wehren. Da darf die Blasmusik nicht fehlen! … Live, direkt und mit subversivem Hüftschwung. Alerta Blazmusikista!" Dem ist nichts hinzuzufügen. 5
Auch das ROYAL STREET ORCHESTRA widmet sich weltmusikalisch durchsetzter InstrumentalMusik – auf "metamorphose" (Royal Street) gar mit Unterstützung durch ein großes Orchester, die Kammerphilharmonie Wuppertal. Pendelnd zwischen Filmmusik mit süßlichen Streichern und leicht eingeköchelten BalkanGipsyKlezmer-Anklängen werden jene meiner Wahrnehmung nach im Verlauf des Albums immer deutlicher. Bei "Ali Pasha and the 40 Thieves" gibt denn auch der große Trompeter Marko Marković (von dessen eigenem (bzw. gemeinsam mit seinem Vater betriebenen) Orchester man auch viel zu lange nichts gehört hat) ein feines Gastspiel. In "Satyr" klingen die puristischen Linien einer Oud vor dem dunklen KontraBassDrone dann fast spanisch, bevor das RSO im direkt an- und das Album abschließenden "Migration" nochmal 40 Sekunden lang zur ganz großen Streicher-FilmScore-Geste ausholen. Manchmal hätte dieser "Verwandlung" aber vielleicht etwas weniger Pathos und mehr Mut zu Ecken und Kanten gut getan. 3
Nochmal Blasmusi – jetzt mal die ohne "k", weil welche aus Ur-Bayern; gespielt mit Trompeten, Horn, Tuba und Akkordeon (sowie ein klein wenig Schellenkranz und Trommel). Das symphatische Familienunternehmen UNTERBIBERGER HOFMUSIK feiert auf "Zeitenspiel" (Himpsl) mit Stücken sowohl von Bruckner und Bach (sowie einer gelungenen Adaption des "Nachspiel"s aus Fanny Hensels Klavierzyklus "Das Jahr"), alpiner oder mexikanischer (und mit "Baje Re Christma$h" sogar südindischer) Volksmusik und themengerecht eingestreuten Geschichten im wahrsten Sinne des Worten eine "Boarische Weihnacht". In der schelmischen "Familienchronik" erfahren wir z.B. über die Herkunft des Jesuskinds: "Gottgeschaffen in hymeneller Unversehrtheit – faszinierender Gedanke!" Bayerische Sturheit und TradionsLiebe trifft auf weltmusikalische Offenheit, (Jazz-geschultes) handwerkliches Können und anarchischen Humor. 4
Es gehört ja zu den Schattenseiten des MusikKritikerLebens, dass man die ersten Weihnachtsplatten spätestens Ende September auf den Tisch bekommt. Das ist dann in der Regel noch größerer Kitsch als ohnehin, aber neben den Unterbibergern gibt es noch einen kleinen Lichtblick, nämlich "A Peace of Us"(Carpark) von DEAN & BRITTA & SONIC BOOM. Auf dieser Kollaboration der Galaxie 500-/Luna-Helden mit dem Spacemen 3-Maestro interpretieren die drei IndieGötter ganz ironiefrei launige Weihnachtslieder. Das reicht von "Snow is Falling in Manhattan" (das Original stammt von den unterbewerteten Purple Mountains) über Willie Nelson's "Pretty Paper", eine von Marlene Dietrichs Fassung inspirierte und deshalb auch teilweise auf Deutsch gesungene "Little Drummer Boy"-Version und eine (ebenfalls deutsch, fast a-capella und zart versetzt gesungene) "Stille Nacht" bis zur "Silver Snowflakes"-Werdung von "Greensleeves". Alles voller Schnee und Christmas Trees - Britta hat recht: "Like Bing Crosby...on LSD"! 4
Und auch die Ex-Factory-PostPunkFunker A CERTAIN RATIO konnten der Versuchung nicht widerstehen, ihre EP "Christmasville UK" (Mute) enthält allerdings mit "Now and Laughter" nur einen "echten" WeihnachstSong, der Rest hat bestenfalls mittelbar mit "dem Fest", Besinnlichkeit, Einkehr, blabla zu tun, sondern besteht aus starken Umarbeitungen von Stücken des jüngsten ACR-Albums "It All Comes Down To This", erstellt von den BandFreunden Jane Weaver, Andy "The Emperor Machine" Meecham und Jezebell – zur besseren Vergleichbarkeit gibt’s die Originale aber nochmal dazu, so dass diese feine EP auf eine reichliche Dreiviertelstunde Laufzeit und damit durchaus auf eine reguläre Albumlänge kommt. 4
Damit sind wir denn zum guten Schluss auch wieder im Lande "Pop" angekommen, auch wenn die von mir sehr geschätzten AQUASERGE sicher einer etwas entlegeneren Auffassung davon anhängen. Deren letztes Werk "La fin de l'économie" fand ich zwar etwas enttäuschend (s. WZ 06/24), das jetzt als digitalEP (mit 4:10/3:13 Minuten Spielzeit würde das nun wiederum auch gut und bequem auf eine 7" passen) nachgeschobene Robert Wyatt-Cover "N.I.O. (New Information Order)" (Crammed) hingegen zeigt das Kollektiv wieder auf altem Niveau. Wie eine Reinkarnation der spät70er/früh 80er Crammed-Keimzelle "The Honeymoon Killers" badet man hier in fett-schrägem OrgelSound, lässt gezogene DamenGesänge erklingen und spielt zu wilden Chören und Vocodern elektronische Spielchen. 4
In gewisser Weise schlossen die eben genannten Honeymoon Killers bzw. deren Alter Ego Aksaq Maboul auch an KrautRock-Überlegungen der 70er an und so kommen wir elegant zu CAN. In der von Irmin Schmidt persönlich kuratierten und betreuten Serie von Live-Platten kommt nun mit "Live in Keele 1977" (Spoon/Mute) ein Mitschnitt aus einer eher späten, nach Meinung vieler Can-Freaks aber unbedingten HochPhase der Band, zumindest was die Liveshows angeht – angeblich ist das Keele-Konzert eines der beliebtesten und demzufolge auch gesuchtesten bootlegs. Die Show in der Universität zwischen Birmingham und Manchester ließ gerade Holger Czukay Platz für sein "Radiowave-Surfen", hatte er hier das BassSpielen doch Rosko Gee von Traffic überlassen. Die fünf schlicht "Keele 77 Eins - Zwei - Drei – Vier – Fünf" geheißenen Stücke bilden mit insgesamt 5 Viertelstunden Laufzeit (vermutlich) das gesamte Konzert ab, das auch in seiner Dramaturgie, in seinem Wechsel von wilden FreeFrom-Teilen und uferlosen "Ambient-Drift-Rock"-Passagen (ich danke dem Info für diese schöne Genrebezeichnung), tatsächlich Maßstäbe setzte. 4
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