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Diese Kolumne trägt zwar die GenreBezeichnung "Jazz" im Namen, will aber ausdrücklich offen sein für jede Art von freier Klangkunst. Ganz im Sinne des wunderbaren Holger Luckas der just heute seine letzte "Freistil"-Sendung bei radioeins moderieren wird. Deshalb flott weiter, um 23:00 Uhr muss ich Radio hören!SIMON TOLDAM ist ein dänischer Pianist, der auf seiner LP "Fem Små Stykker Med Tid" (ILK Music) hochemotional, aber auch sehr komplex einen Weg zu neuer KlavierMusik sucht. TonTupfen und -Klumpen, die sich vor einer weißen Wand aus Stille zu eindringlichen (Hör)Bildern formieren. Natürlich muss ich da an Morton Feldman denken, auch wenn hier stets eine kleine Prise "JazzFeeling" mit(ge)spielt (wird). 4
Nochmal Piano Solo mit neutönerischer Grundierung: die gerade mal 28jahrige, aber schon mit ihrem PlattenDebut, den sehr gelungenen Interpretation der Stockhausenschen "Klavierstücke I–XI", im letzten Jahr zu einigem Renommee gelangte Japanerin MIHARU OGURA spielt auf ihrer neuen CD fünf anspruchsvolle EigenKompositionen, das Werk heißt denn auch sinnig "Ogura Plays Ogura" (Thanatosis Production). Und auch ihr kompositorisches Niveau ist trotz ihrer Jugend enorm, die zwischen 2018 und 2023 entstandenen Stücke spielen hörbar mit Gedanken von Stockhausen, Ligeti und Boulez - das findet auch der Autor des PlattenInfos und verweist zudem auf Verwandschaften des jüngsten Stücks "Nijimi" mit Helmut Lachenmanns "Serynade" ("a spiritual sibling"). 5
Mit RUTH WILHELMINE MEYER bleiben wir dezent akademisch und auf heftigste Weise avantgardistisch. Die Norwegerin zaubert auf "One Voices" (Simax Classics) zwischen höchsten, dann fast an wortfreien Gesang grenzenden JubelTönen und knallendem RachenPloppen allein mit ihrer Stimme über 40 Minuten ein aurales Erlebnis der Extraklasse herbei. Zischen und Summen, Schnarren und Knacken, Brummen und Schnauben, Röcheln und Raunen – einmal mehr kaum zu glauben, was ein menschlicher StimmApparat an Lauten hervorzubringen vermag. All das von RWM auf ebenso schöne wie fordernde Weise organisiert - sicher nichts für DudelRadios, aber für eine avancierte HörErfahrung unbedingt eine Empfehlung: "Welcome to a sonic world created by one single, unprocessed voice / Welcome to a sonic world created in real time / Welcome to enter a variety of auditive spaces / Welcome to a vocal orchestra"! 5
ALESSANDRO BOSETTI nutzt auf "Portraits du vox" (Kohlhaas) ebenfalls ausschließlich VokalMaterial, wobei er allerdings eher Wörter und Silben als HalsGeräusche schichtet. So entsteht eine minimalistische Sinfonie allein aus menschlichen Stimmen. Nur in ganz seltenen Fällen schmeckt das mit den NEUEn VOCALSOLISTEN aufgenommene Album ein wenig nach "a capella-Jazz", zumeist finden hier hochspannende avantgardistische Sing/SprechExperimente und Vokalexerzitien statt. 4
Mit dem leider Anfang diesen Jahres im Alter von 90 Jahren verstorbenen PHILL NIBLOCK betreten wir den Übergangsbereich zwischen Neuer Musik und underground, denn auch wenn er als (einer) der Erfinder des Prinzips "drone" gilt, fand er wesentliche Einflüsse nicht nur bei akademische(re)n Avantgardisten wie Feldman und Cage sondern auch bei (Free)Jazzern und scherte sich keinen Deut um Genre-Zuordnungen. "Looking for Daniel" (Unsounds/Echonance Festival) besteht (für Niblock-Freunde wenig überraschend) aus zwei langen Stücken (die mit ihren 21:37 bzw. 23:17 Minuten übrigens die perfekte Länge für eine LP geboten hätten). Das erst im letzten Jahr fertig gewordene "Biliana" schrieb Niblock für die Violinistin Biliana Voutchkova, die den hier zu hörenden ObertonZauber teilweise auch mit stimmlichen "vocalizations" unterlegt – aufgenommen in der Berliner Akademie der Künste. "Exploratory, Rhine version, Looking for Daniel" hingegen entstand 2019, die niederländischen Ensembles Modelo62 und Scordatura fertigten dazu aus Liveaufnahmen vom Echonance Festival 2022 eine hochkomplexe KlangSchichtung. Und auch hier versteckt sich hinter den nur vermeintlich ereignisfrei-stoischen drone-Bergen irgendwo auch eine menschliche Stimme. 5
Der Australier PHILIP SULIDAE versammelt auf "Circulator" Aufnahmen aus den letzten fünf Jahren, die mehrheitlich für Filme konzipiert wurden. Das ist mal drone-Experiment (durchaus im Niblockschen Sinne), mal SoundUntersuchung an Windhaftem. Hier und da rieseln da dann auch schon mal ein paar Staubkörner oder Gesteinsbrocken durch’s KlangBild aus kleinteilig ineinander verwobenen "found sounds". 4
Dem eben erwähnten Windhaften sehen sich auch EVA-MARIA HOUBEN + JOHN HUDAK verpflichtet und nennen ihr gemeinsames Werk daher "Paloma Wind" (beide Line). Rauchend Rauschendes, knisternd Schimmelndes, klimpernd Schabendes geschickt verbunden in einer wirklichen Zusammen(!)Arbeit. 4
Das dritte Album der Berliner "impro-supergroup" P.O.P. (PSYCHOLOGY OF PERCEPTION) heißt sehr treffend "Alien Stewardess" (Zappak) und erscheint auf dem dritten Label, auf Monotype (Täbriz von 2013) und FMP (Ikebana 2016) folgt nun die japanische Plattform Zappak - Nora Krahl (clo), Hannes Strobl (el.b), Elena Kakaliagou (frh) und Reinhold Friedl (p) verteilen ihre Gaben weitläufig. Was mich an dem auf 2 CDs verteilten 5-Viertelstunden-Monster besonders beeindruckt ist die klangliche und konzeptionelle Dichte, die die Vier mit vergleichsweise einfachen Mitteln erzeugen. Neben hallendem StörSpannungsKnuspern schweben da eigenartig geflochtene CelloSounds zu PianoPräparaten und Kakaliagous unverwechselbaren HornKnurren durch die Gehörgänge. Für den vollen immersiven Genuß erfordert das Ganze allerdings auch ein wenig Konzentration und Kontemplation. 5
Die 3CD "Expériences de Vol #15#16#17"(In-Possible) dokumentiert die jüngsten Forschungsergebnisse aus den legendären Art Zoyd Studios in Valenciennes. Dabei sind uva. Yérri-Gaspar Hummel (dessen Stück dann "Bees & Drones" heißt und genau so klingt – außerdem ist doch die Verbindung Hummel/Biene zumindest für des Deutschen und Englischen Mächtige einigermaßen lustig, oder?), Antoine Chessex, Gerard Lebik und Barbara Dang (deren zwischen drone und Piano pendelndes "Hypostasis" wirklich super ist). Zumeist elektroakustische KunstMusik mit auch für nichtakademische NoiseNerds und AvantgardeFreaks sehr ansprechenden Ansätzen. Unbedingt hervorzuheben ist aber die grandiose BrummKnirschStudie "Pinte de café" von Nadia Ratsimandresy: 18:22 Minuten voller Energie und verstörender Schönheit. 5
Der Gitarrist KIM MYHR & sein KITCHEN ORCHESTRA aus Stavanger lassen solcherlei StörGeräusche zu Musik im etwas(!!!) herkömmlicheren Sinn werden. Wobei sich die Klangwelten von "Hereafter" (Sofa) natürlich noch immer in einem experimentellem Umfeld bewegen: hier ein subozeanisches Blubbern oder hochfrequentes Klopfen, dort zischen und wimmern ein paar SynthAkkorde. Im "V". der so ordentlich wie schlicht durchnummerierten Stücke erklingt zu einem stoischen GitarrenRiff ein feines Klappern, das sich in "VI" fortsetzt und fein weiterentwickelt in "VII" mit kurzen AkkordeonDrones interagiert. Die track-Nummern geben in diesem im Grunde nur als Gesamtopus zu begreifenden Werk ohnehin nur eine grobe Orientierung, denn hier geht alles fließend ineinander über. 5
Den Plan mit der streng umgesetzten Zahlenreihe als Titelbezeichnung hat auf "Rhetorical Islands" (Faitiche) auch GIUSEPPE IELASI realisiert. Seine Stücke bestehen aus zu wundersamen Schleifen verknoteten Sequenzen und Samples, die oft leicht versetzt und zueinander verschoben ausgerichtet dem GesamtDruck folgen. Das rhythmisiert stark, bleibt aber durchgängig hochabstrakt, dazu könnte nicht mal ein KI-Avatar tanzen. Unterlegt ist das alles oft mit einem knirschenden Prasseln, als würden Milliarden von Stecknadelköpfen auf die LautsprecherMembranen regnen. 4
Elektronische Verdrehungen und Verrenkungen gehen auch HANNO LEICHTMANN und VALERIO TRICOLI ein. Und obwohl ein solcher zumeist gar nicht wirklich auszumachen ist, wird "Cinnte le Dia" (Ni Vu Ni Connu) doch oft von einer Art grundierendem "beat" durchweht. Es gibt jedoch auch Stücke voller Schaben, Klimpern und Klirren wie z.B. "Quelque peu seme". Nummer 7 trägt den anspielungsreichen Titel "Careful with that frog eugene" und auch wenn Leichtmann RockHymnisches zumindest musikalisch völlig fremd zu sein scheint - der spielerische Umgang mit Klang und Struktur ist etwas, das ihn durchaus mit der Frühphase von Pink Floyd verbindet. 4
Für "Chimet" (The Leaf Label) schiebt der "data scientist, inventor and sailor" Craig Kirkpatrick-Whitby gemeinsam mit "a collective of programmers, improvisational musicians, graphic designers and photographers" als MINING impressionistische Klavierfiguren über z.T. drone-haftes SynthetikGewebe ("Latent"). Das ist in diesem Fall zwar nichts, was wir nicht schon kennen, aber doch recht gut gemacht. Das Folgestück "Chimet 50° 45’.45 N, 00° 56’.59 W" wirkt im Klavier etwas freier, genauso hall-betont und trotz aller Melancholie auch irgendwie luzid. Hier gibt es sogar einen mehr als Störgeräusch denn als RhythmusGeber funktionierenden beat. Dazu ein nervöses ElektroFlackern und gewaltige SynthEinschläge – da ist das Klavier aber schon längst verstummt und hat jede Luzidität mit sich genommen. Hier herrscht am Ende denn doch eher bedrohliche Dunkelheit. In "Arise" stöhnt anhaltend ein Cello, dazu gesellt sich im dramaturgisch geschickten Aufbau eine um die andere weitere CelloSchicht, bis all das zu einem wahren Gebirge aus dunklen StreicherTönen wird. Die beiden Teile von "Force 10" sind dann ein weiteres bedrückendes Stück DarkAmbient und hier tauscht im letzten Drittel auch wieder jener seltsame beat auf, der Autofahrer vielleicht dazu bringen könnte, besorgt den Reifendruck zu prüfen. Mit den fallenden Arpeggien von "Debris" und seinem irgendwie fröhlich anmutenden SynthUntergrund klingt "Chimet" dann beinahe optimistisch aus. 4
Aber waren wir nicht eben noch im wunderbaren MusikParadies Norwegen? Dort ist auch die NILS ØKLAND BAND zuhause und frönt jenem Sound, den ich seit langem mit Hubro verbinde. "Gjenskinn"(Hubro) prägt ein innovativer Umgang mit der Überlieferung, mit der Übersetzung traditioneller Denkweisen ins Heute, mit der Adaption alter Instrumente für oder in moderne Zusammenhänge. Ja, diese reibenden SaitenKlänge und Hardanger-fidel-drones haben tatsächlich "Kraft" (so heißt denn auch stück #7). 4
Eine ebenso intensive, wenn auch klanglich deutlich brachialere Kraft entwickelte der Schweizer Saxophonist CHRISTOPH GALLIO bei seinem am 18.12.22 gemeinsam mit den Briten DOMINIC LASH (b) und MARK SANDERS (dr) absolvierten Auftritt "Live At Cafe Oto London"(Hat Hut). Hochenergetische KlangVerdichtungsArbeit, bei der die fulminante b-dr-GrundlagenSetzung genauso frei und wild ist wie das darüber trötende Horn. 3 Teile "Wildlife", 2 Teile "Homelife" – fertig ist ein sehr guter FreeJazzKuchen! 5
Wir bleiben "Live in London", kommen aber wir allmählich doch zum etwas Konventionelleren und auch zum Ende (Die "Freistil"-Stunde naht!). ALEX HITCHCOCK ist wie Gallio ein Saxophonist (allerdings Tenor) und als solcher stand er (s)einer DREAM BAND vor. Wobei es eigentlich drei TraumFormationen sind, denn an jedem der drei Abende, die Hitchcock im August 2022 den Londoner "Vortex Jazz Club" bespielte , standen andere WunschMusiker an seiner Seite. Im ersten Set hören wir u.a. ein bombastisches Pauken/Trommel-Solo von JAMIE MURRAY und schöne Vibraphon-Einschübe, am zweiten Abend war z.B. die ekstatische Sängerin LISELOTTE ÖSTBLOM dabei und den dritten veredelte u.a. Alexandra Ridouts Trompete. Allerdings sind auf den 3 CDs die Stücke nicht nach Besetzung und Aufnahmedatum sortiert, nein, wir reisen mit Hitchcock immer abwechselnd durch den Zauber dreier ähnlicher und doch verschiedener Abende. 4
Mit "Ginger’s Hollow" wird’s noch freundlicher, hier jubelt die Trompete von LINLEY HAMILTON in feinster Hard-Bob-Manier über fetten Fender Rhodes und nicht nur bei "Sunday Morning" merkt man deutlich, dass Hamilton und sein Sax-Mann Derek "Doc" O’Connor sich dem Vernehmen nach auch mal bei den Commitments die Finger wund gespielt haben. SoulJazz der etwas anderen Art. 4
Weniger überzeugen kann mich hingegen TOM BERKMANNs "Journey" (alle Whirlwind). Der bayerische Bassist verliert sich mit Ben Kraef (ts), Carl Morgan (g), Simon Seidl (p) und Fabian Rösch (dr) zu oft im Belanglosen. Hier regiert zumeist wohlfühlender UnterhaltungsJazz mit etwas Funk in der Gitarre oder auch einer kleinen Prise Swing im Schlagzeug. 3
Da hören wir lieber "Waiting" (JazzSick) vom QUINTET WEST um Stefan Michalke (p) und George Tjong Ayong (ts). Gemeinsam mit Christopher Fischer (tp, flh), KontraBass-Konstante Konstantin Wienstroer und Trommler Christoph Freier gelingt flockiger und doch sehr intelligenter Jazz zwischen viel Tradition und ein klein wenig Moderne. Mit einem Flügelhorn (besonders schön in "Skagen") und Stückbezeichnungen wie "Der Hund kann sprechen" kriegt man mich eben immer. 4
Und glaubt es oder nicht: es ist jetzt 22:57 Uhr – eine Punktlandung für die letzte Sendung von Holger Luckas, dem ich an dieser Stelle für viele Anregungen und einige prägende HörErlebnisse danken möchte!
Fear No Jazz
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