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QUICKSILVER

V.A.

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In der ersten Kolumne des Jahres gedenken wir ja immer jenen, deren irdisches Dasein im Vorjahr endete. Der erste war gleich an Neujahr der von HipHop-ern gern gesamplete SoulJazzer Les McCann, am 08.01. folgte ihm der drone-Minimalist Phill Niblock und am 10.01. der ZickZack-Musiker und Kastrierte Philosophen-Kollaborateur Andy Giorbino. Am 16.01. starb der Bildhauer, KlangInstallateur und Konzeptkünstler Rolf Langebartels, einen Tag darauf verabschiedete sich mit Frank Z. (Abwärts) eine deutsche (Post)Punk-Legende und am 22.01. die - außerhalb eingeweihter Kreise - leider nie zum ihr gebührenden Ruhm gelangte Dichterin Elke Erb (die nie explizit politisch schrieb, sondern ihren Widerstand mit SprachMacht, SprachKraft, ja SprachGewalt in andere Kategorien kanalisierte). Frank Farian, der Mann hinter Boney M., starb am 23.01., am gleichen Tag wie Melanie ("What Have They Done To My Song Ma"). Am 02.02. erwischte es Wayne "MC 5" Kramer, am 05.02. die Grand Dame der DDR-Fotografie Helga Paris, am 09.02. Damo "Can" Suzuki und am 10.02. den City-Gitarristen Fritz Puppel sowie den Wiener Aktionisten Günter Brus. Am 20.02. den anarchischen BeatPoeten und Musiker Kiev Stingl und am 26.02. die Schreibmaschinen-Künstlerin Ruth Wolf-Rehfeldt sowie - sehr überraschend - den Regisseur und Volksbühnen-Intendanten René Pollesch. Der Neutöner Aribert Reimann war am 13.03. der Nächste, am 24.03. starb sein Kollege Péter Eötvös, am 26.03. der StahlSkulpteur Richard Serra, am 03.04. die Schauspielerin Vera Tschechowa, zwei Tage danach ihr Kollege Peter Sodann (der auch als Intendant und BücherRetter Großes geleistet hat) und am 13.04. der experimentelle WeltElektroniker Richard Horowitz (an der Seite seiner Ehefrau und künstlerischen Partnerin Sussan Deyhim). Duane "Twang" Eddie schied am 30.04. dahin, der Autor Paul Auster am gleichen Tag. Am 02.05. verloren wir mit Monika "Loft" Döring eine ebenso agile wie schrille SzeneKönigin, die auch im hohen Alter (sie wurde 87) noch bestens vernetzt und informiert war und in buntesten Outfits Konzerte besuchte (ein paar Monate zuvor war ich ihr noch bei einem hÄK/Danzeisen-Gig begegnet). Am 04. 05. verließ uns der Maler und Bildhauer Frank Stella, am 07.05. der phänomenale Steve Albini, am 09.05. mit Trommler Dennis Thompson das letzte MC 5-Mitglied, am 29.05. der Dokumentarfilmer und Theaterregisseur Thomas Heise und am 01.06. auch die manchmal unterschätzte Schauspielerin Ruth Maria Kubitschek. Françoise "Yeye" Hardy verstummte am 11.06. und die No-Wave-Legende James Chance am 18.06., am 03.07 der Promoter und Booker Jens "Trümmer" Pruditsch, der MedienKünstler Bill Viola am 12.07., zwei Tage darauf der Scherben-Gitarrist R.P.S. Lanrue und die Schweizer FreeJazz-Königin Irène Schweizer am 16.07. (von ihrem dort viel beachteten Tod erfuhren wir bei der Urlaubsheimfahrt durch ihr Heimatland). BluesGott John Mayall legte seine Gitarre am 22.07. für immer zur Seite, am 27.07. starben Wolfgang Rihm (der u.a. aus Müllers "Hamletmaschine" eine Oper machte) und die Fadista Mísia, am 05.09. der Samba-/Bossa Nova-König Sérgio Mendes und Will Jennings, dem wir Songs wie "Up Where We Belong" und "Tears In Heaven" verdanken und am 06.09. die Bildhauerin und InstallationsArtistin Rebecca Horn. Am 08.09. ging der Theologe und Bürgerrechtler Friedrich Schorlemmer zu seinem Herren, am nächsten Tag verloren wir die grandiose Caterina Valente, am 22.09. den ExperimentalMusiker (P16.D4) und Labelbetreiber (Mille Plateaux, Ritornell) Achim Szepanski und am 27.09. die englische SchauspielIkone Maggie Smith, die hierzulande wohl am meisten durch die Harry-Potter-Filme und als "Downton Abbey-Granny" bekannt ist. Quincy Johnes (03.11.) und Roy Hanes, der Trommler von uva. Lester Young, Charlie Parker und John Coltrane (12.10.) waren die nächsten. Am 06.11. erwischte es den Objektkünstler und "Eat Art"-Erfinder Daniel Spoerri und am 07.11. den "Junge Wilde"-Maler und "Die Partei"-Musiker Walter Dahn, am 18.12. den Autor, TV- und KunstAnarchisten Hermes Phettberg. Hannelore Hoger (21.12.) und der JazzBassist Barre Phillips (28.12.) starben kurz vor Jahresende ebenso wie der aufrechte Karl-Marx-Stadt/Chemnitzer Theaterintendant Hartwig Albiro (31.12.).
Jetzt wäre ein kleiner Moment des Innehaltens, Ge- und Nachdenkens angebracht - bitte also mal eine Minute lang nicht weiterlesen, sondern sich besinnen. - - - Danke.
Wir machen auch mit ganz ruhiger Musik weiter. Nämlich mit der der irischen Songwriterin BRIGID MAE POWER, die ihre "Songs For You"(Watusi) nicht dir oder mir, sondern ihrem Vater zugeeignet hat. Sie trällert hier mit leichter Stimme Stücke von Roy Orbison (In Dreams ), Tom Verlaine (See No Evil), Neil Young (Mellow My Mind) oder Jimmy MacCarthy (Missing You) zu einem schlichten, aber sehr anrührenden (Akustik)Gitarrensetting. Ein leichter CountryVibe und Schönheiten wie das von Rudolf Friml, Otto Harbach und Oscar Hammerstein II mal für ein 20er Jahre-Musical geschriebene "Rose Marie" machen das Ganze zu einem schönen Soundtrack zum versonnenen AusdemFensterindenkaltenNieselregenschauenunddabeihochmelancholischwerden. Fürwahr "a heartfelt collection of cover songs". 4
Waren eben zumindest vereinzelt noch ein Bass oder eine zarte Stromgitarre zu hören, vertraut die Londonerin ESBE allein auf die Macht ihrer akustischen Gitarre, die sie in mehreren Spuren zu fein austarierten Instrumentalkleinodien schichtet. Der Zufall will es, dass mein Gitarre-spielender Sohn gerade "Sweet Child o' Mine" übt und ich den Guns n' Roses-Hit schon nach wenigen Tönen identifizieren konnte. Wie Esbe ihn hier mit Vince Clarks "Only You" verschränkt, hat unbedingt Klasse - als wäre es schon immer ein Stück gewesen, dieser "Echo Canyon". Auch sonst sind die filigranen Arrangements dieser als Wanderung durch/über/zu einer Reihe von Bergen zu verstehenden Platte sehr bezaubernd, irgendwo zwischen Folk und Ambient. Release-date von "Mountain Aires" (New Cat) ist übrigens der 11. Februar, der "National Guitar Day 2025". 4
Hieran schließt sich die folkloristische InstrumentalKunst, die GAO HONG & ZHAO XIAOXIA auf "Prelude to the Divine Realm" (Naxos World) ihrer Guqin-Zither (Z.X.) und einer Pipa-Laute (G.H.) entlocken, beinahe nahtlos an. Denn auch wenn diese 9 Stücke deutlich dichter an "typischer" WeltMusik liegen, bedarf es keiner tieferen Kenntnisse chinesischer VolksLiedTechniken, um sich in die ebenfalls durchweg eher getragen-ruhigen (keinesfalls aber esoterisch entrückten oder verkitschten) Meditationen zu versenken. 4
Wir bleiben in Asien und reisen mit HADIQA KIANIs "Hayat" (Sufiscore) nach Pakistan. Die als "A Tribute to Nusrat Fateh Ali Khan & The Sabri Brothers" gemeinte, mit 22:12 Minuten Spielzeit leider viel zu kurze CD lebt nicht nur von der wunderbaren Stimme der sowohl in der Kunst des Sufi/Qawwali wie auch im Bhangra und im FolkPop beheimateten Sängerin, sondern ganz besonders auch vom Können Ustad Dildaar Hussains (der auf etlichen Aufnahmen Nusrat Fateh Ali Khans die Tabla spielte). Dazu ein fein arrangierter Chor, ein Harmonium und ein Sarangi (die kastenförmigen Streichlaute mit 3 Saiten gilt einigen als das am schwierigsten zu spielende Instrument der Welt). Exotisch, aber zugänglich und grandios gesungen. 4
Von gleichfalls sehr packender GesangsEnergie geprägt ist die DLP, auf der die beiden Letten ANSIS BĒTIŅŠ & ARTŪRS ČUKURS ohne "significant amplification or accompainment" insgesamt 18 "Slavic Folk Songs" (XKatedral) interpretieren. Ein gewisser Schwerpunkt liegt auf ukrainischem Liedgut, aber auch andere osteuropäische Volkslieder wurden von den beiden für ihre eine ganz eigentümliche KraftWirkung entfaltenden und bei allem hier geübten Purismus doch auch sehr wandlungsfähigen entwickelnden Stimmen arrangiert. 4
Beim neuen Album von PIERS FACCINI trifft die sanfte Stimme des italienischen Songwriters auf BALLAKÉ SISSOKOs verträumtes KoraSpiel. Auch hier bleibt das setting akustisch und dezent, wobei sich auf "Our Calling" (Nø Førmat!) Exotik und Wärme, WorldMusic und SiSoPop auf das Schönste verbinden - ganz wie's das vorletzte Stück schon im Titel trägt: "North and South". 4
Das nächste WeltWunder kommt vom Balkan. Nein, eigentlich aus London, denn dort fanden Musikanten aus UK, Australien, Israel und ein deutscher Trommler zu SHUNTA! Zusammen. Ihr Debut "At The Kafana" (Rakia) eröffnen sie mit einer sehr schönen Version des Kočani Orkestar-smashers "Siki Siki Baba", der hier in Esma Redzepovas "Ibrahim" übergeht bzw. mit diesem verschränkt wird. Mit anderen Stücken bedienen bzw. beziehen sie sich bei/auf u.a. Mahala Rai Banda, Taraf de Haidouks, Boban Markovic und Todor Kolev - große Namen, tolle Stücke, packend inszeniert. OffBeat, TrompetenPower (gut, das gottlob nicht allzu oft eingeschobene schmierige TenorSax hätte ich jetzt nicht unbedingt gebraucht) und eine bemerkenswerte Sängerin machen diesen feinen BalkanBrassSevdahPop mit deutlicher FolkNote zu etwas sehr Hörenswertem. 4
Mit Studioaufnahmen, die die psychedelischen Ungarn von ÚZGIN ÜVER noch vor ihrer eigentlichen Debut-CD machten, wird es wilder - obschon die Band aus Kismet stark im Folk(Rock)verwurzelt ist. "93" (Suburban Symphonies) wurde (Na? Wann wohl? Genau: 1993) in einem Budapester Studio aufgenommen und atmet schon genau jene ganz spezielle Mischung aus TraditionsBezug, unorthodoxem PsychRock, JazzSchüben, ExoticTrance und spiritueller Horizonterweiterung, die die Band später zu einiger Berühmtheit führte. 4
Dazu passt der zwar deutlich "fettere", aber gleichfalls folk-psychedlisch grundierte ElektroRock, den das Münchener "Anadolu-Postpunk-Trio" SINEM auf "Köşk" (Fun in the church) präsentiert. Getragen von einem trotz komplexer Beats und Brüche sehr stabilen Schlagzeug (Tom Wu - der auch bei Kamerakino und Das Weiße Pferd trommelt(e) und uns vor 2 Jahren mit der selbstinszenierten Fake-Meldung von seinem Ableben schockierte - (auch) wir fielen auf die kleine Geschmacklosigkeit rein und zeigten uns im Nachruf in WZ 02/24 bestürzt) und einer virtuos-reduzierten Gitarre (Martin Tagar - spielt gelegentlich (auch) bei Das Weiße Pferd, Kamerakino und oft bei den wunderbaren Friends Of Gas) zieht die in Oberbayern aufgewachsene Sängerin Sinem Arslan Ströbel eine packende VocalShow durch. "Hadi Bakalim" ist ein schönes Cover von Sezen Aksus TurkPop-Hit, auch den ProtestSong "Sivas'ın Yolları" könnte man vielleicht (er)kennen, andere Stücke sind ebenfalls Teil der türkischen PopTradition, mir aber weniger vertraut. Nichtsdestotrotz sprüht hier aus jeder Zeile und Note Energie, auch Wut oder Traurigkeit. Weil ich Türkisch aber leider so gar nicht verstehe, ergötze ich mich weniger an den Texten, umso mehr aber an der phonetischen Schönheit von Titeln wie "Lambaya Püf De". 5
Auf dem "s/t"-(Band)Debut (Jagjaguwar) von SHARON VAN ETTEN THE ATTACHMENT THEORY flirren traumhafte TrauerBalladen wie "Afterlife" durch ein sanftes IndieElektroFolk-setting und verblüffenderweise ist jeder, wirklich jeder dieser hochsentimentalen Songs ein unbedingter Ohrwurm. Ob "Trouble", "Indio" oder das noch zurückgenommenere "Fading Beauty". Und wenn das Ganze ab und an zu raumgreifenden IndieRock ausufert, wird dieser von der bei aller Höhentauglichkeit auch wundervoll dunkel timbrierten Stimme der bisher ja v.a. als SoloKünstlerin verehrten Sängerin geerdet. 5
Musik wie die der Züricherin GINA ÉTÉ auf "Prosopagnosia" (Backseat) tut mir immer (fast!) ein wenig leid, denn sie wurde sicher mit einem großen Maß an Liebe und Hingabe und ganz bestimmt auch nennenswertem Talent fabriziert, ist aber leider völlig innovationsfrei. Eine Wiederholung des zwar guten, aber doch allzu bekannten Prinzips "ElektroPop" – aber nur "more of the same", dem man allerdings anmerkt, dass die gelernte Bratschistin einige Erfahrungen mit Streicherarrangements hat. Manchmal klingt das fast wie ein Björk-track mit gepitchten vocals (z.B. "La Joie (au bout d'un moment)") und oft nach aktuellen HybridPopHybriden. Mit dünnem (aber keineswegs schwachen) Stimmchen wird in hohen Lagen mal Englisch, mal Französisch gewispert und gepiept, bei "F__ you you" sogar in Schwyzerdütsch. Schlecht ist das aber nicht...4
So ganz neu ist die Idee von Musik(en) für (noch) inexistente Filme zwar nicht, aber wenn das italienische KlangKollektiv C’MON TIGRE als "Instrumental Ensemble" seinen "Soundtrack for Imaginary Movie Vol 1" (CMT) spielt, finden im KopfKino Minimalismus, Pop, Jazz, Avantgarde und auch ein wenig World und Indie unbeschwert zueinander. Mal beinahe verträumt (wie das von seltsamem Rufen/Tröten durchwirkte "Rebirth - Reboot / Tokyo Ch 2" oder die anschließende Cello-Etude "System Error / New York Ch 1"), mal auf die AfroJazz-Wurzeln der Band verweisend ("The Plastic Purge / Lagos Ch 5"), manchmal auch klangmalend ("Wired Grace / Tokyo Ch 3" oder "Inventing Change / Lagos Ch 4"), entstanden die insgesamt 23 Stücke dieser Platte tatsächlich im Zusammenwirken / Auseinandersetzen mit einem LLM, also einer KI. Klingen tut das Ganze wirklich gut, aber ob das (KI) der richtige (Kreativ)Weg ist? 4
Es wird zu einem guten Teil daran liegen, dass ich mich Anfang der 90er nicht nur für Neue Musik und avantgardistischen Krach interessierte, sondern auch sehr viel Spaß an den damals angesagten IndiePop-Bands hatte (die zwischen '89 und '94 vom längst verblichenen deutschen Ableger des ebenso dahingeschiedenen Rough Trade-Imperiums zur Verkaufsförderung ihres aktuellen Portfolios zusammengestellten und "zum Preis einer Maxi" feilgebotenen "Music For The 90's"-CDs ließen mich zu Ultra Vivid Scene, The Parachute Men, Pale Saints, His Name Is Alive, Lush, Ride, Mazzy Star oder den Heart Throbs (nicht nur) durch mein Studentenwohnheimzimmer tanzen und von etlichen dieser Bands nach und nach den gesamten Katalog einkaufen), es mag also an den Erinnerungen an diese nicht eben schlechte LebensPhase liegen, die "In Love Again" (Tapete), das zweite Album der Londoner Band EX-VÖID, bei mir hervorruft, dass ich selbiges wirklich "feiere". Ursprünglicher britischer IndiePop in Reinkultur: eine jubilierende Frauenstimme zu (gern auch mal schrofferen) Gitarrenwänden, hymnische ChorSätze, abwechslungsreiches drumming, auch mal ein ganz leichter FolkTouch - those where/are the days! 5
Sechs, sieben Jahre vorher gehörte Sade zu meinen "guilty pleasures" - (damals) nicht wissend, dass die Frau durchaus "credibility" hatte, waren "Cherry Pie" und "Smooth Operator" mein heimliches KontrastProgramm zu DAF, Nurse with Wound oder Human League und doch spürte ich genau, dass Sades Musik keineswegs bloßer SchmuseJazzPop war (es hält sich hartnäckig das Gerücht, Sade Adu hätte "Diamond Life" 1983 auch mal dem (sonst) absolut geschmackssicheren und offenen FeinschmeckerLabel Les disques du Crépuscule angeboten und dort hätte man das Potential der Platte nicht erkannt). Warum das von Bedeutung ist? Eigentlich gar nicht, aber "Tchenbé!" (Underdog), die neue Platte der karibisch-französischen Band DOWDELIN, erinnert mich einfach an vielen Stellen an eine Art "Uptempo-Sade". Das liegt sicher an Olivyas hier im Vergleich zu den beiden Vorgängeralben noch prägnanteren Gesang, aber auch am Verzicht auf (zuviel) Elektronik, insbesondere bei der BeatErzeugung - nicht nur "Le derniere Fois" würde gut auf ein "Diamond Life"-update passen. Martinique und Lyon, AfroBeat und französischer Elektro(Rock)Pop, Texte auf Kreol, Französisch und Englisch - eine feine weltmusikalisch-tanzflurige Melange! 4
Auch ANDREAS DORAU begleitet mich seit mehr als 40 Jahren, allerdings ohne dass ich jemals wirklich zu seiner Fanbase gezählt hätte. Seine neue Scheibe heißt "Wien" (Tapete) und widmet sich der ja zweifellos sehr besuchenswerte Donaumetropole "aus der Sicht des unvoreingenommenen Touristen, des Besuchers und Außenstehenden". Nach wie vor ist seine Stimme gewöhnungsbedürftig (ganz besonders für einen Mann, der inzwischen auch die "60" geknackt hat), die Beats sind noch immer (für meine Begriffe sogar zu) flott, das SoundDesign (Ü30-)clubkompatibel. Wieder mal nicht schlecht, ohne richtig gut zu sein. Dorau-Fans werden das natürlich völlig anders sehen, aber für mich ist das einzig wirklich Bemerkenswerte an dieser Platte das Stück "Lass uns spazieren gehen", in dem er an die grandiose Performance "Aus der Mappe der Hundigkeit" von Valie Export und Peter Weibel erinnert: "Sitz!" "Platz!" "Fuß!" "Aus!". 3
Schnipo Schranke war ein geniales Projekt; dass sowas aber oft mehr ist als die Summe seiner Teile, sieht man an den anschließenden Solokarrieren der beiden Protagonistinnen. Während Daniela Reis mit ihrem Mann Ente Schulz als Ducks On Drugs schon fast in die "das ist wirklich nicht gut!"-Kiste sortiert werden muss, versucht es FRITZI ERNST wie schon bei "Keine Termine"(2012) auch auf "Jo-Jo" (Bitte freimachen) mit DIY-SinnkrisenBalladen. Das funktioniert mittelprächtig, obwohl z.B. "Kratzer" ein wirklich schöner, um zwei energisch gehämmerte KlavierAkkorde gestrickter Song ist. Mit dem ebenfalls von einem StakkatoKlavier geprägten Liebes(?)Lied "Märchen" verneigt sie sich - zumindest sich in meinen Ohren - noch einmal vor ihrer alten Band. Kommt inklusive eines relativ einfallslosen, weil sich recht dicht am Original entlang hangelnden "Mad World"-Covers. 3
Dazu passt ganz gut der gitarrengetriebene TrashSynthPop von BRABRABRA, die von einem auf 100 Stück limitierten quietschegelben Tape völlig zurecht "Danger! Danger! Danger!" (Kitchen Leg) schreien. Die drei in Berlin gestrandeten Damen schwingen zwischen punkigen Passagen und sanften Songs hin und her, legen dabei deutlich mehr Wert auf Power und Ausdruck denn auf technisch-handwerkliche Vollkommenheit und leben so den alten DIY-Traum unbekümmert weiter. 4
Ebenfalls vermittels der guten alten Magnetbandkassette setzt der Hamburger NoiseBastler DAVID WALLRAF seine LärmReise fort. Wie schon auf der vor ziemlich genau einem Jahr erschienenen bemerkenswerten MC "The Commune Of Nightmares" arbeitet Wallraf auch bei "Crudeltá Necessaria" (Karl) von einem theoretisch sauber durchgearbeiteten Fundament aus mit genau der richtigen, vor allzu arger Verkopfung schützenden Prise klanglicher Freiheit. Die um das Werk von Pasolini kreisende (und auch KlangSchnipsel aus dessen Filmen verarbeitende) Musik ist einmal mehr ganz und gar wundervoll, nur eben nichts für Menschen mit schwachen Nerven. In "Porcile" hängt ein verzerrtes Husten über Fragmenten italienischer Volkslieder und auch "La Nuova Periferia" ist eine schöne NoiseSchleiferei. Durch "Petrolio" pulst ein tiefer BassTon und auch darüber brummt der Lärm...wie gesagt: wundervoll. 5
Für "covalent radii revisited" (attenuation circuit) hat Hans Castrup, den wir wie Wallraf (u.a.) von diversen Karl-Veröffentlichungen kennen, einmal mehr seinen MaschinenPark befragt und dessen Antworten mit denen vom "attenuation circuit"-Boss Sascha Stadlmeier aka. EMERGE verschränkt. Das Ergebnis ist gleichfalls sehr experimentell, siedelt aber im Vergleich zu Wallraf dichter am Ambient. Ausgangsmaterial waren Klavier- und StreicherSounds, die die beiden SoundArtisten in den einzelnen tracks unterschiedlich stark bearbeiteten. Nach dem subsonischen Sirren von "c.r.r. I" (ent)gleitet "c.r.r. II" in ein aleatorisches Klavier, "c.r.r. III" nimmt den experimentell-ambienten Faden wieder auf, wogegen CASTRUP/EMERGE bei "c.r.r. V" wieder mit dem (vermeintlich) chaotischen Klavier spielen. Dazwischen knorkst, knirscht und knarzt es bei dieser wohl auch als tönende Ergänzung einer Ausstellung mit Castrup-Gemälden und Stadlmeier-Fotoarbeiten konzipierten CD herrlich eigentümlich...was auch wichtig zu sein scheint: "EMERGE is also & always der Bund des dritten Auges". 5
Aus dem gleichen Stall stammt eine CD(R), die sich vier Künstler teilen: GERALD FIEBIG, NHWRF, GEHIRN.IMPLOSION und CARSTEN VOLLMER füllten die siebente Ausgabe der Reihe "THING" (attenuation circuit) mit 4 jeweils ungefähr viertelstündigen, bis auf Fiebigs "Last Street Song" recht harschen NoiseEtüden, zu denen ich mir jede Menge Notizen gemacht habe; wobei ich gerade feststellen musste, dass ich den wertvollen GedankenZettel verbummelt habe und wegen des drückenden Abgabetermins nicht mehr die Zeit finden werde, mich rechtzeitig nochmal gebührend in diese LärmWelt zu vertiefen. Deshalb die simple, aber sehr ernst gemeinte Empfehlung an alle Freunde abseitig-experimenteller Herausforderungen: "Hört da unbedingt mal rein!". 5
RONAN COURTY ist ein französischer Kontrabassist, der sein Instrument für das Album "Synesthesia" (Ormo) einer wahren Tortur unterzog. Auf der A-Seite hören wir nämlich Klänge, die er durch "violent, alienating and obsessive rubbing of the bow on the string" erzeugte. Es kommt dadurch nicht nur zu packend-minimalistischen KlangSchichtungen und -Überlagerungen, sondern auch zu (zwar physikalisch determinierten, dennoch irgendwie mystischen) ObertonSchwingungen und SubResonanzen. Dieses Material bildete zugleich den Ausgangspunkt für die um SynthesizerSounds, aber auch Töne von Stimmgabeln und Senf(!)Gläsern erweiterte "Ideasthesia"-Fassung der Synästhesie auf Seite B. Hier ist das KlangBild etwas diffuser, aber doch dem auf der "akustischen" Seite nicht unähnlich. Meditationsmusik 2.0? Oder doch der Soundtrack zu futuristischen Ritualen? 4
Klanglich deutlich entspannter, aber keinesfalls flach ist der von den Nürnbergern Philipp Hager und Christian Büdel aka. ZEMENT gespielte MotorikRock aus der FortgeschrittenenKlasse der Neu!/La Düsseldorf-Schule, den sie auf "Passagen" (Crazysane) etwas zugespitzter und emotionsfreier (kurz: "zeitgemäßer") inszeniert haben. Einiges (z.B. "Making a living") erinnert an frühen ACR-MaschinenFunk, das Info erwähnt nicht ganz grundlos auch Trans Am und LCD Soundsystem (die gleichfalls annoncierten "Animal Collective"-Spuren finde ich persönlich hier hingegen weniger). Repetitiv pluckernde Sequenzer zelebrieren "static in motion". In e-motion. Und auch wenn das SchmierSax-Solo in "The night we saw the holy ghost" die intelligente Strenge ein kleines bisschen stört sind diese "Passagen" fürwahr "Journeys to a beautiful nowhere". 5
Wenn überhaupt, dann über den Verweis auf die zeitliche Nähe (naja!) zu Neu! et al. finde ich eine schwankende Brücke zu den jüngsten re-issues von S.Y.P.H.-Material. Neben der dem einen oder anderen sicher vertrauten Debut-LP "S.Y.P.H." sind das zunächst (mehr ist schon angekündigt!) die "Pure Freude Singles" (beide Tapete). Darunter die drei anscheinend bisher tatsächlich noch unveröffentlichten herrlich freien Stücke "Zirpenknirspel", "Stahlregen" und das zwar 1979 der ersten 7" ihren Namen gebende, auf dieser aber damals gar nicht enthaltene "Viel Feind viel Ehr". Wo diese wie auch die auf der 82er Doppel-7" "Der Bauer im Parkdeck" (1982) erschienenen Nummern noch angenehm experimentell und von launigen IrritationsMomenten und (zeittypischen) RAF- oder sogar (natürlich New-Wave-Ironie-getränkten) Liedermacher-Reminiszenzen durchsetzt daher kommen, wirkt das Album nach wie vor janusköpfig. Eine Seite mit in diesem Sinne wirklich konservativ-rumpeligem SchrammelPrügelParolen-Punk (wir denken an die Hits "Industriemädchen" und "Zurück zum Beton"!), die Rückseite enthält uva. die schöne StimmenKrachDrums-Kakofonie (das) "Partir", wohingegen sich bei "What happens" die Fehlfarben-Zukunft (und trotz fehlender direkter personeller Überschneidungen für mich auch die der Family 5) andeutet. Und spätestens bei "Kein Ziel" fragt man sich auch heute noch: ist das noch die gleiche Band wie auf Seite A? Stilprägend und historisch wertvoll bleibt das natürlich zweifellos trotzdem. 3 / 4
Zum Schluss muss ich auf der so verzweifelten wie erfolglosen Suche nach einer brauchbaren Überleitung nochmal eine (vermeintliche) zeitliche Nähe strapazieren. Schließlich stammen die ersten Wort- und LautMeldungen von MAX GOLDT auf seinen legendären Rubbermind-Kassetten auch von 1981. Das hat aber mit seinen anhaltend erfolgreichen "Lese-Live"-CDs bestenfalls am Rande zu tun, denn dort schenkt uns Onkel Max seit über 30 Jahren ("Nirgendwo Fichtenkreuzschnäbel, überall Fichtenkreuzschnäbel" erschien anno 1993!) in schöner Regelmäßigkeit Tonträger voller sorgsam kuratierter LesungsMitschnitte (den vorher schon fast strengen Jahresrhythmus hatte er zwar nach der 2021er 2CD "Genieß Deinen Starrsinn an der Biegung des Flusses" ausgesetzt, aber wir hoffen für die Zukunft natürlich das Beste, also die Wiederaufnahme des selbigen!). Das aktuelle Prachtwerk trägt den einmal mehr hinreißenden Titel "Komischerweise schrie ich Hallo statt Hilfe" (HörBuch Hamburg), der zugehörige UnterTitel erläutert: "Vierzehn Texte 1997 bis 2024". Fast 160 Minuten köstlichster WortKulinarik enthalten die beiden SilberScheiben - vom "Edelgas-Erlebniszentrum Kötzschenbroda" geht’s über den "Besuch der Bonbonfabrikanten" bis in die Schweiz, denn: "Am besten ist Zürich". Auch seiner Verwunderung über das Erscheinen seines Namens auf Platz 209 der Anfang 2022 veröffentlichten "Cicero"-Liste der "500 wichtigsten Intellektuellen" verleiht der Autor wortreich Ausdruck. Ursächlich für die Aufnahme in diese laut Herrn Goldt "mehr oder weniger noble" Liste waren übrigens seine in einem dem schönen Goldt-Almanach "Der Krapfen auf dem Sims"(2001) entstammenden Text namens "Mein Nachbar und der Zynismus" geäußerten Vorgaben zum Umgang mit der BILD-Zeitung. Ich zitiere hier - ohne diese nochmals mit dem in oben genanntem Bändchen abgedruckten Originaltext verglichen zu haben - die auf "Komischerweise schrie ich Hallo statt Hilfe" im Abschnitt "Mit sechs Sätzen auf Platz 209" zu hörende Fassung: "Diese Zeitung ist ein Organ der Niedertracht. Es ist falsch, sie zu lesen. Jemand, der zu dieser Zeitung beiträgt, ist gesellschaftlich absolut inakzeptabel. Es wäre verfehlt, zu einem Redakteur dieses Blattes freundlich oder auch nur höflich zu sein. Man muss so unfreundlich zu ihnen sein, wie es das Gesetz gerade noch zulässt. Es sind schlechte Menschen, die Falsches tun." Dem ist weder vom Meister selbst noch von mir irgendetwas hinzuzufügen. Geschweige denn zurückzunehmen. 5

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