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QUICKSILVER

V.A.

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Beginnen wir mal mit einer re-re-issue. HELDONs erste Platte "Electronique Guerilla" kommt jetzt als "50th Anniversary Edition" (Bureau B): eine feine, gelegentlich GniedelGitarren-durchwirkte Synth- und Filter-Orgie Baujahr 1974 inkl. GastBeitrag von Monsieur Deleuze (der Meister rezitiert Nietzsche-Aphorismen aus "Menschliches, Allzumenschliches"). "All tracks made with an AKS Synthi and a LESPAUL gibson, 1954" stand (beim Original in gewöhnungsbedürftiger Groß-/Kleinschreibung) hinten auf dem Cover. Aber bitte fragt mich nicht nach dem Unterschied zur vor sechs Jahren ebenfalls von Bureau B verantworteten Edition... wie schon in WZ 04/18: 3.
Wer sich schon in den 80ern etwas engagierter mit deutscher Musik jenseits von Udo Lindenberg oder Spider Murphy Gang auseinandergesetzt hat, dem dürfte die Hamburger Band X-MAL-DEUTSCHLAND ein Begriff sein – auch wenn die Damen (+Herr(en), in etwas spätere Inkarnationen war übrigens der kürzlich leider verstorbene Abwärts-Chef Frank Z. involviert) in UK-DarkWave-Kreisen erfolgreicher waren als in ihrer Heimat. Was ich allerdings erst seit einem Flohmarkt-Besuch am letzten Sonnabend weiß, ist, dass der Bandname offenbar auf den Titel eines schon 1961 erschienenen Buchs des damaligen (und heute nicht unumstrittenen) ZEIT-Feuilleton-Chefs Rudolf Walter Leonhardt zurück geht. Egal: das New Yorker Label Sacred Bones möchte etwas gegen das Vergessen tun und arbeitet die (Früh)Geschichte der Band mit der Sammlung "Early Singles (1981 – 1982)" auf. Darunter sind natürlich auch Stücke, die wir (zugegeben einige Jahre später, so einfach war das hinter der Mauer ja alles nicht) auch im Osten sehr gefeiert haben. Leider ist das Wiederhören aber eine kleine Enttäuschung, denn sowohl der auf einem Brecht-Gedicht beruhende und von Alfred Hilsberg damals auf seiner legendären "Lieber zuviel als zuwenig"-Compilation veröffentlichte "Kälbermarsch" kommt genau wie das ebenfalls zuerst auf ZickZack erschienene "Incubus Succubus" heute seltsam dünn und schwächlich, also relativ schlecht gealtert herüber. Gerade noch: 3
X-Mal-Deutschland-Gründerin ANJA HUWE hatte sich eigentlich von der Musik abgewandt, aber ihrer Freundin Mona Mur gelang es irgendwann doch, sie zu etwas gemeinsamer Studioarbeit zu überreden. Das Resultat heißt "Codes" (beide Sacred Bones) und klingt deutlich besser, logischerweise auch "heutiger". Im von einer scharfen Gitarre eröffneten super-zappeligen "Rabenschwarz" finden sich zu treibenden beats so schöne Zeilen wie "Wir bitten nicht mehr, wir machen / Wir flehen nicht mehr, wir handeln" oder "Wir wissen schon, was gestern war / Wir haben es überlebt!". Es dominiert rhythmusorientierte unterkühle Härte, aber mit dem diese ansprechende Platte beschließenden "Hideaway" stellt Huwe unter Beweis, dass sie auch Balladen kann. Mindestes: 4
Auch ZINN aus Wien ist eine (hier nun wirklich "reine") Frauenband und zwar eine, die sich sehr für Philosophie zu interessieren scheint, heißt ihr neues Album doch "Chtuluzän" (Staatsakt) und das ist ein Begriff, den sie bei der kalifornischen Biologin und feministischen Philosophin Donna Haraway ausgeliehen haben (die versteht unter Chtuluzän ein zukünftiges, aus dem Holo- oder Anthropozän (bei ihr auch Kapitalozän) heraus führendes (leider ziemlich utopisches) Zeitalter, in dem "artenübergreifende ökologische Gerechtigkeit" herrscht und Mensch und Natur zu gemeinsamer Harmonie finden). In "Maschine Sag" behaupten Zinn zwar "I wanna dance with my AI-friends", aber so richtig viel Neues haben uns die drei Österreicherinnen dann leider doch nicht mitzuteilen. Der Sound orientiert sich an den deutschen IntellektuelloIndiePop-Bands der 10er Jahre (manchmal vielleicht auch an FSK, leider ohne deren tiefsinnige Leichtigkeit zu erreichen) und auch die Zinn-Variante der "Seeräuber-Jenny" (Brecht geht immer) platzt nicht gerade vor Originalität. Solide, aber (zumindest für mich) manchmal etwas langweilig. 3
Bevor wir uns hier aber wieder verquatschen: "Fasse Dich kurz!" hieß es in DDR-Telefonzellen. Deshalb schnell weiter mit dem Geständnis, dass ich auch die "Radio Sessions BBC 1996 – 2011" (Tapete) von COMET GAIN gern besser fände, allein: es will nicht gelingen. Denn obschon ich mich durchaus (noch immer) als Fan des guten alten IndieNoisePop bezeichnen möchte, fehlt mir bei dieser Kopplung von RadioAufnahmen der Briten irgendwie das zwingende, eine erneute Veröffentlichung rechtfertigende Element. Angenehm, aber nicht unbedingt notwendig. 3
Da gefällt mir der fein gesponnene ShoeGazePop der Dänen von MELTWAY schon besser. "Nothing Is Real" (Through Love) ist mit seinem Gitarrenwänden (oder -perlen) und dem zarten DamenWisperGesang komplett aus der Zeit gefallen, hat aber was. Für Freunde von Slowdive und My Bloody Valentine, ich denke bei solchen Klängen auch immer gern an die 92er Debut-CD der leider völlig vergessenen Prager Band The Ecstasy Of Saint Theresa. 4
Die in Berlin lebende MARLA HANSEN mischt auf "Salt" (Karaoke Kalk) unter eine elektronische Grundierung Streicher-, Klavier- und Gitarren-Klänge und vermengt das Ganze zu elegantem ElektroDarkSiSoPop. 4
Ähnliche Baustelle, nur deutlich mehr französische coolness und Grandezza versprühend: "Rooting For Love" (Duophonic Super 45s – ein toller Name für ein Label!) von der göttlichen LAETITIA SADIER. Die Stereolab-Chanteuse versucht z.B. "Panser L’Inacceptable" und schichtet dafür schon mal Stimmen in quasi-avantgardistischer Manier zu (digitalen) call-and-response-Türmchen, lässt eine drum-machine stoisch zischen, zaubert gleichermaßen mit Synths wie akustischen Instrumenten - dazu ihr wunder-dunkler englisch-französischer Gesang: sehr schön (aber trotzdem nicht die beste Sadier-Platte, das bleibt für mich bis auf Weiteres ihr Solo-Debut "The Trip"). 5
Schlichte GitarrenLieder von großer Schönheit präsentiert NICHTSEATTLE. Lethargisch und oft auch etwas resignativ und damit umso realitätsnäher singt sie mal im Satzgesang mit ihrem Chor, mal ganz allein Texte voller tiefer Poesie, oft auch voller Verzweiflung und manchmal doch mit ein wenig Hoffnung. Da reicht ein Stücktitel nicht aus, hier hat jedes Lied einen Doppelnamen (z.B. "Beluga (Eigentumswohnung)" oder "Keinen Kaffee (Türrahmen)"). Ohne jede – ob nun aufgesetzte oder nicht – coolness begegnet uns Katharina Kollmann beinahe nackt, aber höchst aufrichtig. Hört z.B. mal in "Frau sein" rein, ein unfassbar schönes Stück, simpel und offen. "12 neue Lieder aus der Prekarität" - die immer ein wenig gelangweilt wirkende Stimme verströmt dabei eben nicht die oben befürchtete coolness, sondern eher eine Art Müdigkeit. Unendliche Müdigkeit wegen bedingungsloser Ehrlichkeit. 5
Manchmal braucht es aber auch einfach nur schön eins auf die 12, am besten mit etwas Überlegung. Das kriegen wir von drei Damen namens Sal, Bea und Raquel, die sich als SHOOTING DAGGERS auf die Spuren von Riot Grrrl- und QueerCore-Bands wie Hole, Bikini Kill oder Team Dresch begeben, aber auch zu filigranen ShoeGazeDreamPop-Passagen von Lush’scher Schönheit fähig sind. "Love & Rage" (New Heavy Sounds) bringt es schon im Titel auf den Punkt: Gefühl und Härte, Wut und Affekt - ein lauter Schrei (bei Sängerin Sal im wahrsten Sinne des Wortes), vielleicht nicht unbedingt nach Liebe, sondern nach Respekt und Anerkennung. 4
Wer es lieber dämonisch und düster mag, der ist vielleicht bei "Part 1" (Pelagic) von einem Projekt mit dem rätselhaften Namen I HÄXA richtig (wobei das "I" eigentlich klein geschrieben gehört, ist bestimmt wichtig!). I Häxa sind die Sängerin Rebecca Need-Menear (Teil des britischen Choir Noir) und der Produzent Peter Miles und diese 16-Minuten-EP ihr erstes gemeinsames Produkt (wer hätte das bei diesem Titel erwartet?!). Mal schweben gespenstische Hall-vocals durch SynthAtmosphären, mal Vocoder-Verzerrungen durch harschen GrobKornLärm, mal eine klare Stimme über einem einsamen Klavier – am Cello erleben wir Maddie Cutter, die (Co-)Chefin des Parallax Orchestras. Das die single-sided EP beschließende "Sapling" ist dabei erstaunlich zapplig und beinahe (ein wenig) lichtdurchtränkt, aber im Großen und Ganzen regiert hier mal samtene, mal stachlige Dunkelheit. Wir bleiben aufmerksam. 4
Auch erstmal nur als EP, aber auf eine ganz andere Zielgruppe ausgerichtet: "An Only Me Is A Lonely You" (Traumton), das neue Werk von HOLLER MY DEAR. Pop mit viel Funk und einer Prise Jazz, die Sängerin überzieht noch immer hier und da ein klein wenig, aber im Grunde ist diese gehobene Unterhaltungsmusik schon recht gut gelungen und eine stabile Startbahn für Kommendes. 4
Damit nähern wir uns allmählich dem Tanzflur und für den hätte ich mindestens vier Vorschläge:
Als erstes wären da die zwar ziemlich "massenkompatiblen", deshalb aber keineswegs schlechten ElektroSwing-tracks von CARAVAN PALACE. Die neue CD heißt "Gangbusters Melody Club" (MVKA) und setzt dort fort, wo "<Iº_ºI>" und "Chronologic" endeten: bei sehr solider, fein produzierter und halbwegs intelligent inszenierter modernistischer Nostalgie. Und jetzt: Alles Lindy Hop! 4
#2 ist die LP "Wat Ik Dacht Toen Ik Lag (The Dub Remix Album)" (Krachladen Dub/Makkum), auf der sieben NeoDubHelden von einiger (zumindest landesweiter) Prominenz Hand an Stücke des "Dutch juggernaut" namens ZEA legen: The Ex-Chef Andy Moor (den wir vielleicht nicht als allererstes in die Dub-Ecke gesetzt hätten, aber wenn man weiß, dass hinter Zea The Ex-Gitarrist Arnold de Boer steckt, wird das schon klar), die Kölner Desmond Denker, Phanton und Begritty, Yürke aus Düsseldorf, sowie die Hamburger Dubheads Knarf Rellöm (hier als Dubby King Knarf) und Istari Lasterfahrer. Es hallt und trommelt und basst munter dahin, klassische StudioSpielchen treffen auf einen richtig fetten Groove und am besten ist wirklich der Sax-durchseuchte "Dub Specie Ludens" von olle Knarf. Ich hab NackenMuskelMuskelKater vom Kopfnicken! 5
Als #3 könnte man es mit SCHNIEKE (aka. Özgür Akgül) und dem Titel des openers seiner CD "Hedyie" (Asphalt Tango) halten: "Tanz mir den Untergang". Zu elektronischem DabkeDub tirilieren die Melismen: undergroundDisko in Anatolien – cool. 4
Für eher Afrika-affine Leute wäre #4: "Obedun" (Drift Recordings), eine Remix-LP mit Stücken von Afro(und Acid!)Jazz-Legende BUKKY LEO in Bearbeitungen von Gilles Peterson, Leslie Lawrence, Dennis Bovell und Orlando Voorn. Yoruba-vocals über brodelnden AfroBeats in Dub, verspielte Sax-Impros vom Meister zu AcidGrooves, relaxter SoulFunk und eine laid-back-Sax-geladene "Summer Sax Breeze" – schüttel was Du hast! 4
Was uns direkt in die weite Welt der Weltmusik geführt hat: Die AMSTERDAM KLEZMER BAND mischt auf "Bomba Pop" (Vetnasj) beinahe jungle-ige drum-patterns unter die KlezmerBläser - "Choices & Consequences" ist schon ein feines Stück Musik. Später finden sich auch Splitter von Reggae, Merengue und Cumbia – Langeweile bleibt hier auf jeden Fall draußen! 4
Strenger erscheinen(!) die neun auf der chinesischen Pipa-Laute gespielten Stücke auf "Alondra" (ARC). Dabei ist Pipa-Meisterin GAO HONG alles andere als fundamentalistisch unterwegs, nachdem sie zuletzt mit dem senegalesischen Kora-Virtuosen Kadialy Kouyate zusammengearbeitet hatte, trifft sie nun auf den FlamencoGitarristen IGNACIO LUSARDI MONTEVERDE. Zwei große ZupfinstrumentenBeherrscher, die hörbaren Spaß am aufeinander Zugehen, miteinander Kommunizieren und füreinander Spielen haben. Und falls Kalle Laar für Trikont doch noch mal eine CD mit weiteren "La Paloma"-Interpretationen zusammenstellt (es wäre dann die siebte), fände er hier eine durchaus gelungene Fassung. 4

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