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POLARKREIS 18

Populärer Größenwahn

POLARKREIS 18

Plötzlich war er da und nahm seinen Lauf: Der Polarkreis 18 zog vor wenigen Jahren von Dresden aus in die Weiten der hiesigen Rock- und Popwelt, um diese mit innovativen Soundkaskaden zu einer besseren zu machen. Nun muss der Nachfolger beweisen, was das Debüt damals gesät und ins Rollen gebracht hat. Keine leichte Aufgabe, speziell dann, wenn man mit Opulenz, Größe und etwas Wahn im Sinn hantiert. So klingt Polarkreis 18, 2.0 – aber Beta, bitte!

Enthusiasmus und Begeisterung sehen anders aus. Die Jungs von Polarkreis 18 schauen müde und zerknautscht drein. Einer checkt Emails in der Ecke, ein Anderer blickt stillschweigend in die Runde. Zum Glück aber sind Felix und Christian bereit zu reden. Über das, was sie in der nahen Vergangenheit beschäftigte und in Gänze einspannte: das neue Album. Nach Monaten harter Arbeit wurde vor vierzehn Tagen erst der letzte Song dieses Albums fertig gemischt, womit am Tag dieses Interviews also alles noch ganz frisch und unverdaut für die Jungs ist:

„Ich höre es mir gar nicht an. Man hört so viele Fehler, man kennt all die anderen Versionen der einzelnen Songs und diese nun sollen dann also die endgültigen sein. Da fragt man sich natürlich: War die Entscheidung für diese Endversionen die richtige? Dieser Frage will ich mich momentan einfach nicht stellen.“

Man meint den Worten des Polarkreis 18-Sängers Felix Räuber entnehmen zu können, dass es ein harter Kampf war. Selbst wenn der Titel des schlussendlichen Gesamtwerks ein Höchstmaß an Klar- und Reinheit ausstrahlt, so umgibt „The Colour Of Snow“ auch ein Wechselbad essentieller Kompromissfindungen und emotionaler Berg- und Talfahrten. Schlagzeuger Christian Grochau unterstreicht dies, verpackt es nur anders:

„Mit dieser Platte haben wir erstmals gelernt, wie man gemeinsam als Band die Dinge umsetzt. Wie man sich gemeinsam Ziele setzt, diese erreicht oder eben auch nicht erreicht. Das war eine enorme Gruppenerfahrung und sehr wichtig für unsere nächste Platte.“

Ja, Christian und auch Felix sind gedanklich in der Tat schon einen Schritt weiter: bei einem dritten Polarkreis 18-Album.

Dabei ist doch alles noch so frisch. Vor gar nicht allzu langer Zeit haben diese Jungs noch unter dem Namen Jack Of All Trades in Dresden Radau gemacht. Dass mit diesem Namen nichts zu holen sein würde, merkte die Band zu ihrem Glück selbst sehr schnell und ließ Änderungen folgen: mehr Pop, mehr Post-Irgendwas, mehr Elektronik, mehr Experiment und Polarkreis 18 war geboren. Eine selbstproduzierte For-Free-EP vor vier Jahren zog lokales Abgefeier und Interessenten aus dem überregionalen Business nach sich. Als uncool verschriene Nachwuchs- und Talentwettbewerbe wurde mitgenommen und erfolgreich verlassen, bis dann im letzten Jahr das selbstbetitelte Debüt auf Motor erschien. Nicht ohne Grund haben die Dresdner sich damals „aus businessstechnischer Sicht“ für jene Labelheimat und damit gegen Sinnbus Records entschieden.

„Das ist von dem Standpunkt, an dem wir jetzt sind, der richtige Schritt gewesen, auch wenn das schon eine sehr emotionale Geschichte damals war. Aber wir hätten das jetzige Album nicht so realisieren können, wenn wir uns damals nicht so entscheiden hätten. Es geht nun mal auch immer um Finanzielles, gerade dann, wenn man große Musik machen möchte.“

In dieser großangelegten Musik von Polarkreis 18 meinte Indie-Deutschland dann sein jüngstes Eigengewächs aus Radiohead, The Notwist und Sigur Ros gefunden zu haben. Die Schneise der Begeisterung zog sich schnell und nachhaltig durch sensible Indieherzen, anspruchsvolle Musikerohren und auch dicke Majoretagen.

Eine schlimme Ausgangsposition, wenn man diese Erfolgsgeschichte weiterspinnt. Denn der nächste logische Schritt ist, ein zweites Album folgen zu lassen – und zwar hurtig! Deshalb machten sich Polarkreis 18 bereits während des Tourens zum Debüt ans neue Werk, „mit Stift, Zettel und Computer.“ Sie malten und skizzierten ihre ersten Ideen und Bilder, um nach einer kurzen Erholungspause dann unmittelbar den Kampf mit dem nächsten Schritt aufzunehmen. Während zuvor das Songwriting und die akribische Produktionsarbeit Hand in Hand gingen und ein einziger Sound schon mal den Impuls für einen neuen Song geben konnte, wollte die Band in seiner 2.0-Version von Grund auf anders arbeiten. Keine Knöpfchendreherei und kein Soundfetischismus im Vorfeld, sondern der Song und seine Struktur sollten zuoberst fokussiert werden. Dieser Weg war ein guter, wenngleich auch beschwerlicher Ansatz, wie Felix im Nachhinein gesteht:

„Natürlich hat alles wieder viel zu lang gedauert hat. Weil wir am Ende dann doch mehr wollten als zu Beginn.“

Als Beispiel: Aus dem geplanten Streichquartett wurde ein opulentes Orchester. Die Entwicklung und das Schreiben der dazugehörigen Partituren haben selbstredend ihre Zeit in Anspruch genommen. Interessant ist dieser Umstand deshalb auch, weil die Aufnahmen des gesamten Orchesters auf Ende Mai fest terminiert werden mussten, einem Zeitpunkt also, an dem noch niemand wusste, wie das Orchestrale mit den Bandarrangements zusammen klingen würde – weil bis dato noch vieles in den Songs nicht an seinem finalen Platz war. Eine gewagte Arbeit, die etwas auf Lücke, damit aber auch auf ein gewisses Urvertrauen in die eigene Sache setzt. An diese Sache glaubte auch das bunte Produzentenduo, das aus Mario Thaler (The Notwist, Slut, u.v.a.) und Jochen Naaf (PeterLicht, Dorfdisko) bestand.

„Mit ihnen hatten wir zwei schützende Berater an unserer Seite, die mit ganz unterschiedlichen Ansätzen und Geschmäckern an die Songs herangetreten sind. Solche Berater sind gut, immer vorausgesetzt natürlich, sie verstehen die Musik und teilen das Gefühl der Band.“

Aber auch die Zeit mit diesen helfenden Händen und Köpfen verflog viel zu schnell. Gut nur, dass der Thaler so nett war und den Jungs sein Equipment borgte, damit sie daheim weitermachen konnten. Die ungeduldige Presse wurde derweil mit Zwischenergebnissen bemustert, die zumindest den Kurs aufzeigen sollten, an dem Polarkreis 18 sich derweil noch weiterhangelten und aufrieben.

Aber nun sitzen sie ja zum Glück da und halten es in den Händen. Geschafft und doch irgendwie froh, dass sie diesen zweiten Riesen in ihrem Kosmos bezwungen haben und ihre Kreise weiterziehen können. Mit einem Werk aus Bombast und Monumentalem im Gepäck, steckt ihnen diese musikalische Fantasy-Fahrt noch so sehr in den Knochen, dass sie diese selbst nicht beschreiben können. Mit keinem Wort können sie sich auf diesem Album erklären. Sie schweigen. Bis sie mit ihren Wurzeln, der Musik der verpönten 90er, konfrontiert werden und loslachen müssen.

„Natürlich habe ich“, gesteht Felix, „das 90er-Dancefloor-Zeug und den Trance, diese Form des kitschigen, atmosphärischen Techno, abgefeiert. Aber ich glaube nicht, dass man uns darauf zurückführen oder irgendwelche grundlegenden Parallelen aufmachen kann.“

Vielleicht hat er Recht mit dieser Selbsteinschätzung, auch wenn „The Colour Of Snow“ Anknüpfungspunkte zur 90er-Ästhetik bietet. Der anspruchsvolle, zuweilen verkopfte Ansatz von Polarkreis 18 wirkt jetzt eisiger, straighter und dancelastiger und kommt in seiner Ausformulierung der orchestralen Liebe zum opulenten Pop immer näher. Aber anstatt den Blick auf das Hier und Jetzt zu richten, blicken Felix und Christian schon wieder einen Schritt weiter:

„Eigentlich sind wir gerade an dem Punkt angekommen, an dem man sich bereits an eine neue Platte setzen möchte“, so Felix.

„Ich kann mir vorstellen, dass wir für unser drittes Album ins Ausland gehen werden, denn derartige Orchester-Partituren sind in Deutschland nur selten gefragt geschweige denn überhaupt umsetzbar. Und ich glaube, dass wir das vielleicht auf der nächsten Platte brauchen. Aber bis dahin müssen wir uns als Band auch auf kreativer Ebene weiterentwickeln und unsere eigenen Bilder viel klarer fassen.“

Am 18. Polarkreis herrscht eben stets Weitsicht und schwebt die Idee, mit einer Art Überdimensionalem und Extraterritorialem zu spielen, schon immer in der eisigen Luft und in den klugen Köpfen. Ein Ende? Nicht auszudenken! Deshalb ist hier im zweiten Entwurf von Polarkreis 18 auch die Rede von einer „Beta-Version“ und einem ersten „Ansatz von populärem Größenwahn“, den man spüren soll - und hören kann.

Aktuelles Album: The Colour Of Snow (Universal)

Foto: Matthias Popp

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