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FARIN URLAUB RACING TEAM

Der Luxus-Urlaub

FARIN URLAUB RACING TEAM

Wie viele Tage und Nächte dieser Mann wohl beschäftigt wäre, wenn er ausschließlich die von ihm geschriebenen Songs hören würde? Herr Urlaub weiß es nicht. Lange bis sehr lange, so viel ist sicher, denn selbst wenn Die Ärzte mal die Beine hochlegen, prügelt er im heimischen Studio seine Songs und Alben ein. Dieser Tage bekommt man nun sein drittes Solowerk - ein Doppelalbum - in die Gehörgänge gespült und im Zuge dessen auch auf (fast) jede Frage eine Antwort. Denn auch wenn man mit dem Scorpions-Schenker beim Ärzte-Urlaub nur „Welpenschutz“ hervorruft, erklärt Farin in schwindelerregenden Höhe, warum sein neues Album gar kein „Solo“ verdient hat, aber trotz alledem sein persönlichstes ist.

Über den Dächern Berlins, in einer Lounge aus Glas und Leder, werden exquisite Häppchen gereicht. Alles ist großräumig, durchsichtig und weitläufig, wie in einer wattig ausgepolsterten, schallisolierten Blase. Man sieht die malochenden Bauarbeitermännchen, die bunten Spielzeugautos und die beängstigend wankenden Baukranstäbchen. Hat sich das Wackeln in Kopf und Gliedern fürs Erste gelegt, wirkt diese Stadt von hier oben erstaunlich ruhig und unschuldig, ein wenig wie die heile Welt, in der man nicht zu leben glaubt. In dieser chillenden Ruhe, aber stets auch etwas beunruhigenden Höhe, bekommt man erstmals und exklusiv „Die Wahrheit Übers Lügen“ via Kopfhörer zu hören. Journalisten kommen, essen, hören, schauen, fragen und gehen. Farin Urlaub steht, mit einem Glas Wasser on the rocks, jedem Anwesenden sitzender und lachender Weise Rede und Antwort. Er wirkt so rein, so aufgeräumt, dass man eigentlich vom Glauben an alle Rock N’ Roll-Klischees abfallen will. Farin Urlaub ist der frische Frühling, der seit 26 Jahren mit seiner bereits für ihr Lebenswerk ausgezeichneten Band Die Ärzte in diesem gesamten Zirkus mitspielt und nebenbei auch auf Solopfaden einiges hinterlassen hat. Nichtsdestotrotz redet er über seinen neusten Streich, als wäre es sein erster.

Dabei hat dieser Herr all die Arbeit und den Stress doch gar nicht mehr nötig – warum also so fleißig, Herr Urlaub?

„Na ja, das hält sich doch schon sehr in Grenzen. Schließlich arbeite ich auch manchmal Monate lang kein Stück.“

Stimmt, denn dann macht er – Achtung, Kalauer! – seinem (Künstler-)Namen gern mal alle Ehre. Neben der disziplinierten Studioarbeit und dem hektischen Halligalli auf Tour, nimmt sich Farin für sein Leben gern auch mal eine Mütze voll Zeit, um auszusteigen. Monatelang reist er dann durch die Welt, geht an Orte, die ihn interessieren, genießt die Ruhe, lernt ihm fremde Sprachen (sechs bis sieben beherrscht er derzeit nach eigener Aussage), sammelt Eindrücke und tankt auf.

„Es ist natürlich wunderschön, dass ich so leben kann. Das ist einer meiner größten Luxusse, die ich mir gönne – oder wie ist der Plural von Luxus?“ Es gibt keinen. Aber nichtsdestotrotz: Woher um alles in der Welt nimmt dieser Typ seinen Enthusiasmus und die beständige Motivation, wenn er nach den Abenteuermonaten in die heimischen, weniger sonnigen Studioräume absteigt?

„Ja, Mann, einzig und allein der Spaß daran natürlich! Hört man das nicht?“

Stimmt auch wieder – denn um Geld wird es einem der Ärzte wohl kaum gehen. Und dass man bei solch einem ereignisreichen Leben, wo und wie auch immer es sich abspielt, kaum noch etwas dafür tun muss, um Songs zu schreiben, ist für Urlaub eine Selbstverständlichkeit, die er dankbar annimmt.

„Es klingt seltsam, aber das geht wirklich wie von selbst an. Die Ideen sind unmittelbar da und ich brauche sie dann nur noch aufzunehmen.“

So geschehen vor wenigen Monaten, wenngleich mit einer nicht unwesentlichen Neuerung im Kosmos dieses kreativen Vagabunden.

Dass er auch ohne seine Ärzte gut kann, hat Farin Urlaub schon einige Male auf Solowegen bewiesen. Und „solo“ meint bei ihm auch „solo“, also wirklich ganz allein – zumindest bis dato. Nach dem Debüt „Endlich Urlaub!“ im Jahre 2001 erschien vor drei Jahren „Am Ende Der Sonne“, das düsterste Urlaub-Album bisher. Im Kontext dieses Strahlemannes von düster zu sprechen, klingt nicht nur für Außenstehende, sondern auch für Farin selbst etwas merkwürdig. Damals war er erstaunt, dass sich so viel um Tod, Verzweiflung und Verlassenwerden dreht. Diesmal, bei „Die Wahrheit Übers Lügen“, verwunderte es ihn, dass sich die ersten Songs, die er für dieses Album schrieb, nur um eines drehten: Liebe. Schlussendlich kamen davon dann doch nur zwei auf die finale Albumversion, so dass sich Farin gegen die Beschreibung seines Albums als eine Ansammlung von Liebesliedern deutlich distanziert – und zwar auf allen Ebenen:

„Das ‚Du’ ist übrigens nicht immer zwangsläufig ein ‚Ich’ in meinen Texten, sondern auch oftmals eine empathische Sichtweise. Man sollte niemals den Fehler machen, das lyrische mit dem realen Ich zu verwechseln. Eigentlich gibt es inhaltlich auch niemals einen stringenten roten Faden auf meinen Alben, das wäre doch total langweilig. Aber je älter ich werde, desto dichter kommen die Lieder an mich heran. Deshalb würde ich schon sagen, dass dies mein persönlichstes Album ist.“

Und das, obschon er erstmals die Tür zu seinen intimen Aufnahmeräumen öffnete, also alles andere als allein an diesem Album arbeitete. Die Demos sammelte er zunächst in altbewährter Manier allein zusammen, setzte sich aber daraufhin mit seiner Farin Urlaub Racing Team-Band an die Ausarbeitung und Aufnahmen dessen. Herausgekommen ist ein Album, das in seiner Entstehung schon fast nach - Achtung, noch mehr Wortwitz! – Urlaub klingt. Farin kam nämlich „nur“ die Rolle des Gitarristen, Sängers und Produzenten zu, so dass er die Zeit und erstmals auch die Möglichkeit hatte, von Außen auf den gesamten Entstehungsprozess zu schauen. Damit konnte er sein Soloprojekt gänzlich aus den Angeln heben!

„Es sind erstmals Musiker involviert, die das können, was sie da tun. Als Schlagzeuger zum Beispiel habe ich auf meinen Soloplatten davor immer an der absoluten Obergrenze gespielt. Und das musste dann auch noch heftig geschnitten werden, damit es überhaupt nach einem Schlagzeug klingt. Darüber hinaus sind mehr Meinungen zum Arrangement der Songs von anderen Personen aus der Band eingeflossen, wodurch viel mehr unterschiedliche Ideen in den Songs stecken. Ergo: Dieses Album ist viel besser geworden, finde ich.“

Ob er sich denn auch mal Inspirationen bei anderer Bands aus hiesigen Gefilden einholt und im Zuge dessen erste Namen von Hamburger und Berliner Bands fallen, wird Farin nicht ungemütlich, aber doch unmissverständlich:

„Wie kann ich hierzu etwas sagen, ohne komplett unsympathisch herüberzukommen? Sagen wir mal so: All diese Bands existieren bei mir nicht. Olli Schulz ist der einzige, den ich häufig und gern hören. Und dann noch Muff Potter, weil die halt anders als der Rest sind. Die anderen sagen mir nichts.“

Ähnlich diplomatisch reagiert er auf dem Themengebiet „Hannover – Scorpions – Schenker“, gab es in der jüngsten Vergangenheit doch bei einem Ärzte-Konzert einen bizarren und einige Rock N’ Roll-Klischees bestätigenden Besuch von Rudolf Schenker, „der dachte, dass er mit offenen Armen empfangen werde. Dem war aber nicht so, woraufhin die Situation ihren Lauf nahm. Der Typ hat einen Welpenschutz, eine Art Beißhemmung, bei mir ausgelöst. Ich sage nichts.“

Im Gegensatz dazu gibt Farin klipp und klar zu verstehen, dass der Input seines Racing Teams groß und essentiell für „Die Wahrheit Übers Lügen“ war. Aus diesem Grund hat dieses Album auch kein Solo als Präfix verdient. Vielmehr ist es ein weiteres Debüt, an dem Farin Urlaub gewerkelt hat, ein Bandalbum, das er allein in dieser Form nicht hätte machen können. Man fragt sich aber schon, warum er dies dann nicht gleich mit seiner anderen Band aufgenommen hat. Nutzt Farin Urlaub etwa sein Racing Team dafür, um sich auszutoben? Ist FURT ein leichter Weg, die Ideen auf Platte zu bannen, die Rod und Bela abschmettern oder einfach nicht in den Ärzte-Kontext passen?

„Also bitte, was dürfen Die Ärzte nicht machen? Wir sind doch die Band mit der absoluten Narrenfreiheit schlechthin.“

Klare Ansage, auch wenn Farin im nächsten Satz ein wenig einlenkt:

„Aber natürlich ist es so, dass wenn ich auf dem einem Ärzte-Album einen Ska-Song anschleppe, dann weiß ich, dass kein zweiter Ska-Song darauf und auch nicht auf dem nächsten Album erscheinen wird.“

Aber eben weil er diese große Liebe zu den Backbeats verspürt, lebt er diese im Rahmen von FURT soweit aus, dass auf seinem neusten Nichtsolo-Werk ein Reigen aus Bob Marley, Queens Of The Stone Age und Johnny Cash zu hören ist. Säuberlich verteilt auf zwei Tonträger gibt es auf der „Büffelherde“ Rock und Pop im besten Urlaub-Sinne und auf dem „Ponyhof“ die Dancehall- und Reggae-Stücke auf die Ohren. Auf keiner Seite fehlt: die smarte Unterhaltsamkeit eines Herren, der das alles gar nicht mehr nötig hätte. Und er ließe das alles sicher auch bleiben, wenn es ihm nicht so unglaublich viel Spaß machen würde. Was für ein Luxus!

Aktuelles Album: Die Wahrheit Übers Lügen (Völker Hört die Tonträger)

Foto: Erik Weiss

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