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SELIG

Selig sind die Friedfertigen

SELIG

Mit dem achten Studioalbum beschreitet das Hamburger Quartett einerseits neue Wege. Andererseits geht es teilweise auch zurück zu den Wurzeln. Was das alles genau bedeutet, erfuhr die Westzeit bei einem langen, Corona-konformen Spaziergang mit Sänger Jan Plewka.

Es ist ruhig in dem Ort vor den Toren Hamburgs, in dem Plewka und Schlagzeuger Stephan „Stoppel“ Eggert wohnen. Die Straßen sind wie leergefegt. Auch beim Spaziergang durch den Wald, unweit der Stelle, wo sich die Band Selig seinerzeit gegründet, und viele schöne Stunden zugebracht hat, trifft man keine Menschenseele. Die derzeitige Pandemie-Situation hat eben doch irgendwie etwas von Endzeitstimmung. Dazu kommt, dass man beim Interview in einer Entfernung von zwei Metern nebeneinander herläuft.  Da bekommt selbst ein iPhone Probleme, die Worte neben dem Laubgetrampel der Füße exakt akustisch abzubilden. Andererseits ist so ein Spaziergang idyllisch. Und entspannend. Wie größtenteils die Musik der zwölf Tracks von „Myriaden“. Denn Deutschlands „erste Grungeband“ ist nachdenklicher, empathischer geworden. Dafür rast die Welt scheinbar in einem irrsinnigen Tempo auf ihren Untergang zu. Passenderweise zieht sich das Thema Umweltzerstörung wie ein roter Faden durch das gesamte „Myriaden“-Album. So beschreibt der Titelsong z.B. die permanente Vernetztheit in einem Meer aus Bildschirmwänden. Mit „Selig“ enthält die CD sogar erstmals einen Titel, der den Bandnamen trägt, der sich ansonsten jedoch in seiner Wortwahl kompakt der Message des Gesamtwerkes anschließt. Zitat: „Feuer, Feuer überall, die Welt rast weiter mit Überschall am richtigen Moment vorbei in die Diktatur der Raserei“. Je mehr die Lyrics aufrütteln, desto entspannter klingen subjektiv die Instrumentierungen. Während „Selig“ noch ungemein rockt, kommt „SMS K.O.“ schon im klingenden Gewand einer Ballade daher. „Süßer Vogel“ erinnernd fast „schlagernd“ an die Jugend, obwohl der Song -ohne den deutschen Gesang- gar als französisches Pop-Chanson durchgehen würde. Die Single „Spacetaxi“ groovt sich in Richtung Funk ein, während das „Paradies im Traumrausch“ zu einem psychedelischen Sound-Trip einlädt.

Doch die psychedelische Ära der Formation scheint größtenteils vorbei. Wo Plewka und Eggert sich mit Basser Leo Schmidhals oder dem in Berlin lebenden Gitarristen Christian Neander früher im Studio über die besten bewusstseinserweiternden Dinge unterhalten haben, diskutierte man diesmal in den Aufnahmepausen darüber, wer wohl das beste Hochbeet angelegt hat. Die Jugend ist halt mit dem „süßen Vogel“ davongeflogen. Dafür sei der Spirit der Sturm- und Drang-Phase bei den „Myriaden-Sessions“ wieder da gewesen. Ganz davon abgesehen, dass „Myriaden“ zudem genau dort aufgenommen wurde, wo im Jahre 1994 auch das Debutalbum eingespielt worden war – nämlich in den H.O.M.E.-Studios von Franz Plasa. Damals wie heute zeichnete sich Plasa als Produzent verantwortlich.

Plewka: „Wir sind zwar ruhiger und konzentrierter geworden, es wurden auch weniger Drogen und Getränke konsumiert – aber das Gelächter war das gleiche. Zwischen den Aufnahmen hingen wir wie früher zusammen rum, sind mittags in Planten und Blomen spazieren oder abends ins Lemon gegangen.“

Doch trotz, oder gerade wegen der Entspanntheit, benennet das Quartett deutlich, was ihm gegen den Strich geht.

„Selig sind die Friedfertigen“, so Plewka. „Wir wollten ein Album machen, auf dem jeder Song ein Liebeslied für den Planeten und für das Miteinander ist. Unser Traum wäre, damit einen Samen zu legen, aus dem etwas Schönes und Positives wächst.“

Die Hippie-Ideale sind also doch nicht ganz verschwunden. „Myriaden“ ist politisch engagiert, gleichfalls menschelt es.

Plewka: „Wir sind seit geraumer Zeit, angesteckt durch unsere Kinder und Fridays for Future, Aktivisten. In unserem Proberaum ging es kaum um andere Themen als die Klimakatastrophe und den aufkommenden Faschismus. Wir sind einfach der Ansicht, dass im Moment mehr falsch als richtig läuft. Unser Ziel war es, das auf selige Art und Weise auszudrücken. Auf ‚Myriaden‘ geht es darum, wie wir als Menschen miteinander und mit dem Planeten umgehen. Es ist der Versuch, aufrichtig zu sein in einer unaufrichtigen Zeit.“

Plewka ist merklich nachdenklicher geworden. Zum Beispiel hätte er nie gedacht, dass es einmal so weit kommen würde, dass er Probleme bekäme, mit der Musik den Lebensunterhalt zu bestreiten. In den 1990er Jahren, so meint er, hätte man durch CD-Verkäufe genug Geld eingenommen, um gut leben zu können. Doch die Zeiten haben sich geändert. Durch Spotify kommt kaum noch etwas an Tantiemen herein, und die Konzertlandschaft liegt derzeit völlig brach. Aber es gibt einen Silberstreif am Horizont: Wenn die Inzidenzwerte nicht abermals explodieren, gibt es am 13.03. im Bremer Pier 2, sowie am 06.05. in der Hamburger Barclaycard Arena „Myriaden“-Release-Shows, die strikt den Hygienebestimmungen unterliegen. Ab Ende September soll dann die „richtige“ „Myriaden-Tour“ mit derzeit 21 geplanten Konzerten in Deutschland und Österreich stattfinden.

myriaden.seligmusik.de

Aktuelles Album: Myriaden (Vertigo Berlin / Universal) VÖ: 12.03.

Foto: Sven Sindt

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