´Alles in Allem´, das erste reguläre Studioalbum der Einstürzenden Neubauten seit zwölf Jahren, ist alles in allem ein veritabel hübsches Spätwerk geworden. Längst scheppern und rumpeln die fünf Berliner um Sänger und Multitalent Blixa Bargeld, die 1981 ihr erstes Album ´Kollaps´ veröffentlichten, nicht mehr vornehmlich auf selbstgebastelten Instrumenten drauflos, sondern haben sich stärker denn je einem melodischen, eher ruhigen und oft durchaus schöngeistigen Sound verschrieben. Wir unterhielten uns mit Bargeld, der mit seiner amerikanischen und lange im Silicon Valley tätigen Ehefrau Erin sowie der gemeinsamen Tochter in Berlin lebt, über Skype.
Blixa, welche Auswirkungen wird die Coronakrise auf die Kunst haben?"Keine Ahnung, das kann ich nicht beurteilen. Wahrscheinlich wird es demnächst haufenweise schlechte Romane geben."
Willst du nicht einen guten schreiben?
"Nein, ich schreibe Lyrik. Romane waren nie mein Ding, und sie sind es auch jetzt nicht. Ich lese auch keine Romane. Sondern vorzugsweise Sachbücher. Aktuell lese ich ´Die Ordnung der Zeit´ von Carlo Rovelli."
Der letzte Satz auf eurem neuen Album, im Stück ´Tempelhof´, lautet: „Hier komme ich abhanden.“ Magst du dieses Gefühl?
"Der angesprochene Text bewegt sich in einer Grauzone zwischen Schlaf und Nicht-Schlaf. Bei mir kommt es selten vor, dass ich einen Text in einem Rutsch schreibe. In diesem Fall war der Nukleus die Zeile „Vögel nisten/ es wachsen Salvia/ und Bohnenkraut“. Der Rest hat sich nach und nach drumherum abgelagert. Und meistens kann ich es im Halbschlaf nicht verhindern, dass ich über Worte und Formulierungen nachdenke. Manchmal treiben mich meine Ideen auch um 4 Uhr nachts aus dem Bett."
Wie fing es überhaupt an mit ´Alles in Allem´? Hatte sich irgendwann soviel Material abgelagert, dass ihr euch gesagt habt „Jungs, es ist genug da für ein Album“?
"Hier kommt wieder das Schlafen ins Spiel. Ich kam im Januar 2019 aus Hongkong zurück und konnte nicht einschlafen. Da ist mir mitten in der Nacht klargeworden: „Ich muss noch ein Album mit den Neubauten machen“. Vorher stand das zwar immer mal wieder im Raum, aber ich hatte einfach nicht das dringende Gefühl, die Sache wirklich anzugehen. Dann habe ich die Kollegen gefragt, und die wollten auch alle."
´Am Landwehrkanal´ heißt auch ein neues Stück, das zu Zeiten Rosa Luxemburgs spielt. Wärst du gerne dabei gewesen damals?
"Nee. Ich bin lieber der Geist, der durch die Geschichte wandelt. Ich sage in dem Song ja auch „Ich war nicht dabei“. Für mich war nur klar, dass das Stück ´Am Landwehrkanal´ heißen muss, ich wusste bloß noch nicht, was ich damit anfangen soll. Bis Jochen (Neubauten-Gitarrist Jochen Arbeit) meinte: Da haben sie doch Rosa Luxemburg reingeschmissen."
Das ganze Album klingt recht romantisch, um nicht zu sagen: schön. Wirst du warm mit dem Begriff?
"Ich habe nichts dagegen einzuwenden. Dieses Schöne war immer schon vorhanden, selbst auf unserem ersten Album gab es ein Stück wie ´Sehnsucht´. Aber natürlich hat sich die Gewichtung verändert. Die Band Neubauten 3.0 spielt jetzt seit zwanzig Jahren personell unverändert zusammen. Das ist länger als irgendeine Formation von uns vorher. Die Individualität von uns allen, die macht sich natürlich auch stärker denn je bemerkbar. Und wenn es Stillstand gäbe oder die formelhafte Wiederholung des Immergleichen, dann wäre das ja doch sehr traurig."
Du hast die Einstürzenden Neubauten als junger Mann 1980 mitbegründet. Jetzt bist du über 60. Würde der damalige Blixa Bargeld den heutigen wiedererkennen?
"Die Antwort darauf kannst du fast wörtlich nachlesen in ´Susej´ von unserem letzten Album ´Alles wieder offen´. Dort sagt der alte Blixa zum jungen: Was bei dir vorhanden war, ist bei mir immer noch vorhanden."
Eine gewisse Punk-Attitüde hat also nichts mit Alter und Lebensumständen zu tun?
"Wir sind keine Punks, und wir waren nie Punks. Die Punks waren die, die mit den Bierflaschen nach uns geworfen haben. Im Nachhinein als Punk kategorisiert zu werden, fand und finde ich immer noch ärgerlich. Ich habe zu denen einfach nie gehört."
Das neue Album wird allgemein als eure „Berlin-Platte“ bezeichnet. Die Songs heißen etwa ´Grazer Damm´, ´Wedding´ oder eben ´Tempelhov und ´Am Landwehrkanal´. Wie hat sich das Konzept herausgeschält? Ist es überhaupt eins?
"Ich würde bevorzugen, das nicht so zu sehen. Am Anfang der Arbeit wurde ich nach dem Thema gefragt, und ich habe vorsichtig gesagt „Vielleicht hat es irgendwas mit Berlin zu tun“. Es gab zunächst ein Stück, das hieß ´Welcome to Berlin´. Aufgrund mangelnder musikalischer Substanz und der Tatsache, dass es zu sehr als Kommentar missverstanden werden konnte, ist es aber nicht auf dem Album drauf. Ich wollte in dem Text auf witzige Weise meinem Zynismus Ausdruck verleihen, aber es kam rüber wie ein Protestsong, und das mochte ich nicht. Somit ist nicht nur das Stück, sondern auch das Zentrum der ganzen Berlin-Bezogenheit weggefallen. Aber zu dem Zeitpunkt hatte die Idee schon soweit Fuß gefasst, dass andere Lieder davon infiziert wurden, ´Tempelhof´ etwa hatte ursprünglich mal ´Pantheon´ geheißen.
Hast du denn viel zu meckern an Berlin?
"Wenn dem so wäre, dann hätten wir dieses Stück vielleicht veröffentlicht."
Aktuelles Album: Alles in Allem (Potomak / Indigo) Vö: 15.05.
Foto: Mote Sinabel