"Ich denke, es ist sehr wichtig, ständig nach neuen Inspirationsquellen zu suchen – auch wenn es nicht einfach ist und du dich dafür ständig in unangenehme Situationen begeben musst", sagt Katie Austra Stelmanis, als wir sie Anfang April in ihrem Elternhaus in Toronto erwischen. Hatte sich die charismatische 34-jährige Kanadierin mit ihrem letzten Werk, ´Future Politics´, noch gesellschaftlichen Machtstrukturen gewidmet, zeigt sie sich nun von ihrer verletzlichsten Seite. Mit ´HiRUDiN´, dem vierten Austra-Album, zieht sie einen Schlussstrich unter eine toxische Beziehung und strebt auch musikalisch nach Erneuerung.
Es ist schon auffällig, wie viele Kreative heute die Kunst nicht nur zur Selbstverwirklichung nutzen, sondern ebenso, um im eigenen Leben aufzuräumen und bessere Menschen zu werden. Auch Katie Stelmanis gehört dazu."Ich denke, das ist ein Spiegelbild der Zeit", sagt sie. „"Wir befinden uns – ganz unabhängig vom Coronavirus – in einer Phase der Hoffnungslosigkeit. Vom Wiedererstarken des Rechtsextremismus bis hin zum Klimawandel: Es gibt derzeit nicht viel Gründe, optimistisch in die Zukunft zu blicken. Vielen Millennials und Digital Natives geht es auch finanziell nicht gut. Die wenigsten von ihnen können sich einen Lebensstandard wie ihre Eltern leisten. Weil in den letzten zehn Jahren unsere Versuche, etwas mittels Wahlen zu bewegen, vergebens waren, wenden sich viele jüngere Menschen jetzt nach innen."
Vielleicht auch deshalb machte Katie reinen Tisch, bevor sie ihr neues Album in Angriff nahm, und trennte sich von den meisten der Weggefährten, die sie in den letzten Jahren privat wie professionell begleitet hatten. Unterstützt von wechselnden neuen Mitstreitern lässt sie nun mit dem dunkel funkelnden Electro-Sound von ´HiRUDiN´ freigeistig Pop-Konventionen hinter sich und rückt ihre betörende Stimme mehr denn je in den Mittelpunkt.
"Viele der Neuerungen waren gewissermaßen Überlebensmechanismen“, gesteht sie. "Allerdings stellte sich schnell heraus, dass ich genau das gebraucht hatte, um mich wieder inspiriert zu fühlen. Ganz neue Leute an meiner Seite zu haben, war der Knackpunkt bei der Arbeit an der neuen Platte.“"
Um möglichst schnell die richtigen Musiker und – erstmals – auch externe Produzenten zu finden, griff Katie zu unkonventionellen Mitteln.
"Die ersten Sessions für die Platte waren so etwas wie Speed-Dating", verrät sie. "Ich habe einfach mit allen, mit denen ich zusammenarbeiten wollte, eine Session vereinbart, um zu sehen, was daraus wird, und habe tatsächlich aus jeder dieser Situationen wertvolle Erfahrungen mitgenommen. Ich war richtig sauer auf mich selbst, dass ich auf diese Idee nicht eher gekommen bin, denn ich hätte schon früher sehr viel lernen können."
So entstand – u.a. mit Rodaidh McDonald (The xx, Sampha, Savages) und Joseph Shabason (The War On Drugs, Destroyer, Diana) als Co-Produzenten – die handgemachte Basis der Songs, für die so unterschiedliche Künstler wie Joan Armatrading, Mount Kimbie, Mica Levi oder Sons Of Kemet als Inspiration dienten.
"Ich wusste, dass ich eine Platte machen wollte, die betont warm klingt“, sagt Katie. "Mein letztes Album entstand komplett ´in the box´, dieses Mal wollte ich etwas machen, das reichhaltiger und lebendiger klingt."
Erst im Anschluss an die Live-Sessions holte sie die Lieder im weiteren Produktionsverlauf in ihren elektronisch geprägten Klangkosmos zurück und hatte einen Riesenspaß dabei, die vorhandenen Spuren und Sounds in ihre Einzelteile zu zerlegen. Dabei stellte sie auch ihre beeindruckende, klassisch ausgebildete Stimme stärker ins Zentrum. Der Gesang spielt auf ´HiRUDiN´ auch deshalb eine so große Rolle, weil Katie die Texte dieses Mal so wichtig waren wie nie. Während viele andere junge Musiker damit beginnen, ihr Tagebuch zu vertonen, und sich mit wachsender Erfahrung mehr und mehr von strikt persönlichen Inhalten entfernen, ist es bei Katie praktisch umgekehrt.
"Das stimmt!", bestätigt sie. "In gewisser Weise ist die neue Platte also die erste, bei der ich wirklich persönliche Texte geschrieben habe. Das geschah nicht zuletzt deshalb, weil ich zum ersten Mal Spaß beim Texten hatte. Zuvor dachte ich immer, ich sei schlecht darin, aber sobald ich diese Sichtweise ablegen konnte, öffneten sich für mich vollkommen neue Türen."
Trotz der persönlichen Natur der Songs war Katie das Thema ihres neuen Albums lange nicht klar.
„Ich hatte etwa 60 oder 70% der Lieder geschrieben, bis ich einen roten Faden identifizieren konnte“, sagt sie. „Es gehört auch zu den Erfahrungen, die ich über die Jahre gesammelt habe, dass ich heute weiß, dass eine Platte ein Thema braucht. Bei den ersten beiden Alben habe ich darüber nicht nachgedacht und es hat mich auch nicht interessiert. Ich sah in den Platten einfach nur einen Haufen Lieder. Heute ist mir klar, dass es den Hörern hilft, ein Album zu verstehen, wenn es einen thematischen Bogen gibt. Jetzt schreibe ich Lieder, bis sich ein Thema herausschält, und die weiteren Songs entstehen dann mit diesem Wissen im Hinterkopf.“
Nachdem sie die schwierigen Zeiten, die hinter ihr liegen, nun auch künstlerisch aufgearbeitet hat, sieht Katie selbst in den ungewissen Zeiten der COVID-19-Pandemie hoffungsvoll in die Zukunft.
"Der Gedanke an weitere Kollaborationen macht mich sehr glücklich", sagt sie. "Jetzt, da ich zurück in Toronto bin, gibt es jede Menge Künstler, mit denen ich gerne zusammenarbeiten würde. Deshalb ist mein Ziel jetzt erst einmal, mein Studio einzurichten und dann, sobald das wieder möglich ist, ganz viele Leute einzuladen, um gemeinsam zu arbeiten und Spaß zu haben!"
Aktuelles Album: HiRUDIN (Domino)
Weitere Infos: www.austra.fyi Foto: Virginie Khateeb