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HURTS

Kühl und kühn

HURTS

Geschniegelt, heißt mit messerscharfen Scheiteln und gebügelt, heißt in todschicken Anzügen sitzen sich Adam Anderson und Theo Hutchcraft gegenüber und blicken kalt umher. Kalt und doch unglaublich ruhig und gelassen. Die beiden sind Hurts. Jene fast schon legendäre Truppe, und dies schon lange bevor sie die erste CD auf die Ladentische der Plattenläden wirft. Der Raum wird nicht nur von dieser Kühle durchweht. Sondern auch von Gerüchten und Legenden, die durchs Netz irrlichtern. Da ist von gemäßigtem Telefonterror durch Starproduzent Rick Rubin die Rede. Oder davon, dass die Modewelt, von Slimane über Michalsky bis zu Boss, der Band längst zu Füßen liegt. „Wir haben immer ein Geheimnis gemacht, um das, was wir musikalisch machen oder vorhaben“, gibt Keyboarder Adam Anderson mit einem verschmitzten Lächeln im Gesicht preis, „wir wollten nicht zu früh mit den Ergebnissen unserer Arbeit rausgehen. Dann basteln sich alle eben selbst eine Band und einen Klang in ihrem Kopf zusammen. Und jetzt müssen sie diese Bastelei des Fiktiven mit den Tatsachen unser Platte ‚Happiness’ vergleichen.“

Größtes Popstück aller Zeiten

Eine Tatsache ist, dass auf der CD ein Reigen großartiger, nach Vollkommenheit strebender Popstücke vorliegt. Hurts reduzieren dabei alle bisher bekannten Impulse der Popgeschichte auf ihre Essenz und fügen diese dann mit heutigen elektronischen Mitteln und durchaus jugendlichem Leichtsinn, kühn und überraschend zusammen. Und hauchen ihnen so eine neue, moderne Seele ein. Eine andere Tatsache ist, dass sie dies mit der Eleganz eines Modeschöpfers und der Kälte, die einen Eisverkäufer umgibt, tun. Heraus kommt große Popmusik. Doch was macht große Popmusik aus?

„Große Popmusik gefällt allen, quer durch die Geschmacks- und Stilrichtungen“, postuliert Sänger Theo Hutchcraft, „schau dir Prince oder Madonna an. Michael Jackson oder Lady Gaga. Diese spezielle Musik ist oder war zu ihrer Zeit jeweils einzigartig. Ohnegleichen. Konkurrenzlos. Wenn du auch große Popmusik machen willst, musst du dich nach oben orientieren. Unten sind wir lange genug selbst gewesen.“

Sogleich assistiert ihm Adam Anderson: „Ein großer Popsong ist sofort zu erkennen, wenn du ihn ohne lange darüber nachzudenken, einfach so vor dich hin pfeifen kannst, dann hast du ihn gefunden. Diesen Pfeiftest haben alle unsere Stücke mit Bravour bestanden.“

Hurts wollen demnach Musik erschaffen, die nicht so ist, wie irgendetwas, das vorher schon da war. Eine Musik, die aber dennoch die Essenzen von allem enthält, was jemals da war. Das ist durchaus visionär.



Faszination der Einfachheit

Eine Vision zu haben ist eins. Aber auf dem Weg dorthin letztendlich auch anzukommen, ist etwas völlig anderes.

„Wir haben ja nicht bei Null angefangen, wir haben ja schon in Bands gespielt, die nicht funktioniert haben“, blickt Theo Hutchcraft zurück, „aber diese Erfahrungen haben uns gelehrt, wie man es nicht machen soll. Deshalb haben wir bei Hurts mit dem Einfachen begonnen. Wer das Prinzip des Einfachen versteht und umsetzt, der hat damit eine Basis geschaffen, auf und aus der die großen Dingen dann wachsen können. Und Wachstum braucht Zeit.“

Bei Hurts exakt 16 Monate; denn solange gibt das Duo. Und wie haben sie die zur Verfügung stehende Zeit genutzt?

„Zuerst wird das Lied an der Gitarre oder am Piano geschrieben“, schildert Adam Anderson den Schaffensprozess, „aus der Stille heraus, nur das reine Stück. In seiner reduziertesten Form. Das ist der kreative Ur-Moment. Die erste Eingebung ist dabei immer die beste. Dann dauert es manchmal mehr als fünf Monate, das eigentliche Stück daraus zu machen.“

Hört man sich Hurts-Stücke an, fällt eines sofort auf, über- und ineinander geschichtete Atmosphären. Theo Hutchcraft und Adam Anderson haben diese Atmosphären durch die Addition von vielfältigen kleinen Kontrasten geschaffen.

„Ist es nicht immer die Summe der kleinen Dinge“, fragt Theo Hutchcraft.

„Wir halten es einfach für effektiver, Großes mit kleinen Dingen zu sagen“, fügt Adam Anderson an, „und wer Großes sagen will darf auch keine Angst vor Emotionen haben. Und auch nicht vor der eigenen inneren Leere, die gefüllt werden will.“

Die Räume für diese Emotionen hat vor allem der junge schwedische Produzent aufgemacht, dessen Name auch auf Nachfrage nur genuschelt wird.

„Den Mann kennt bisher niemand und wir haben ihn auch erst ganz zum Schluss persönlich kennen gelernt“, plaudert Adam Anderson, „der Kontakt und die gesamte Arbeit lief ausschließlich übers Netz. Doch die Chemie stimmte von Beginn an. Eine solche Fernbeziehung ist zwar distanzierter, aber deutlich emotionaler. Wenn man sich nicht gegenseitig in die Augen sehen kann, gibt es auch keine Selbstzensur. Die Stücke werden so ehrlicher.“

Für Hurts eigentlich nichts Neues. Hatten sie doch anfangs exakt genauso gearbeitet.

„Fast ein ganzes Jahr lang haben wir nur über das Internet kommuniziert“, nimmt Theo Hutchcraft den Faden auf, „Adam schickte mir Liedfetzen und ich schickte ihm Gesangsspuren zurück. Jedenfalls machten wir schon Musik zusammen, lange, bevor wir uns richtig kennen lernten.“



Theatralische Inszenierung

So viel Elektronik. So viel Synthesizer. So viel kühler Klang. Allein zu Haus der Platte zu lauschen ist ein ganz persönliches Erlebnis. Nur der Hörer und die Platte. Mehr ist nicht zu klären. Live ist alles anders. Da ist mehr zu klären. Das wissen auch die Zwei von Hurts.

„Live stehst du in der Menge“, weiß Theo Hutchcraft, „da sind ganz andere und größere Emotionen im Spiel. Meist größer als erwartet. Deshalb muss es live perfekt sein. Alles.“

Hurts greifen zu theatralischer Inszenierung. Sie kreieren eine ganze Welt rund um ihre Synthie-Klänge. In dieser Bühnenwelt steht unter anderem ein hünenhafter Opernsänger, der die Elektronikeiswürfel zum Schmelzen bringt. Auf die Emotionen aus der Menge antworten Hurts mit noch größeren Gefühlen. Theo Hutchcraft stirbt fast im Kegel des blauen Lichtes unter dem Eindruck der eigenen Lieder, während Adam Anderson zwischen den Tasten des Pianos zu verschwinden scheint und wie der Geist aus der Flasche immer aufs Neue aus ihnen wieder emporsteigt. Mehr Gefühl geht nicht.

Hurts bieten aufregenden Elektropop auf höchstem Niveau. Und in wilden Klangfarben. Changierend, wie es seit „Tears For Fears“ nicht mehr der Fall war. Die Stücke haben alles, was ein zukünftiger Klassiker braucht. Die funktionieren als Fahrstuhlmusik, sie beschallen den Bananenkauf im Supermarkt oder entsteigen den Boxen der weltbesten Stereoanlage. Die Größe der Lieder bleibt bei keinem der genannten Anlässe auf der Strecke. Hurts werden die Leute mit ihrer Musik glücklich zu machen. Und sind so auf dem besten Wege, ein Phänomen zu werden, dem die Massen zujubeln. Theo Hutchcraft und Adam Anderson werden sich selbst dabei zuschauen. Seelenruhig.

Aktuelles Album: Happiness (Four Music / Sony Music)

Foto: Laurence Ellis

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