Spiritualized gehen neue Wege. Nach dem Mammutwerk „Let It Come Down“ vor zwei Jahren, das vier Jahre Planung und Aufnahmezeit verschlang, entstand das neue Album „Amazing Grace“ binnen weniger Wochen und klingt deshalb wesentlich spontaner. „Jason Pierce ist aus den unendlichen Weiten der Klang-Galaxien auf die Erde zurückgekehrt“, schrieb Kollege Marcus Kalbitzer über das neue Spiritualized-Werk „Amazing Grace“ und schloss mit den Worten: „Chef-Prediger Pierce steht wieder mit beiden Beinen auf dem Boden.“
Der Meister selbst hat allerdings eine etwas andere Sicht der Dinge. „Ich weiß nicht, ob ich dem letzten Satz zustimmen würde“, sinniert Jason beim Gespräch mit der Westzeit. „Das neue Album ist sehr stark von der letzten Spring-Heel-Jack-Scheibe inspiriert, an der ich zusammen mit Han Bennink, Evan Parker und Kenny Wheeler gearbeitet habe. Das Physische des Musikmachens hat mir unheimlich viel gegeben. Zu realisieren, dass die Performance wichtiger ist, als sich das Gespielte nachher anzuhören. Genau das wollte ich auf Platte festhalten. Es gibt sehr viele Leute, die davon sprechen, den Livesound auf ihren Platten einfangen zu wollen. Ich glaube, das ist unerreichbar. Den Livecharakter hast du nur, wenn du live spielst. So einfach ist das. Was du einfangen kannst, ist der Moment, in dem die Musiker die Songs noch nicht richtig gelernt haben. Dann sind die Möglichkeiten unendlich. Also haben wir der Band die Demos der Songs erst an dem Tag vorgespielt, an dem wir die Aufnahmen gemacht haben. Wenn Musiker proben, versuchen sie Wege zu finden, wie sie die Songs auf die einfachste Art spielen können. Wir wollten den Moment kurz davor einfangen.“ Was Jason und Co. ohne Frage gelungen ist. Kamen beim Vorgängerwerk „Let It Come Down“ noch viel Technik und mehr als einhundert (!) Musiker zum Einsatz, ist „Amazing Grace“ eine auf großartige Weise schnörkellose Platte geworden. So schnörkellos sogar, dass Spiritualized inzwischen gerade in England gerne in einem Atemzug mit Garagenrockern wie den White Stripes oder Black Rebel Motorcycle Club genannt werden. Und das, obwohl zumindest Letztere ganz klare Nachfahren von Jasons erster Band, Spacemen 3, sind. „Das Album als Garagen-Platte zu bezeichnen, ist nicht mehr als der Versuch der Leute, sie in den modernen Zeiten zu verankern“, winkt Jason ab. „Garagenmusik ist heute zeitgemäß und hip. Ich habe nie gesagt, dass dies ein Garagen-Album ist, und ich glaube auch nicht, dass es eines ist. Garagenrock bedeutet für mich, auf ‚Aufnahme’ zu drücken, und dann heißt es: You get what you get!“Und das hatte Jason bei „Amazing Grace“ ganz und gar nicht im Kopf. Zu puristisch an die Aufnahmen heranzugehen, nur 60er-Jahre-Equipment zu verwenden und sich auch sonst jeglichen modernen Hilfestellungen zu verweigern, ist seine Sache nicht. „Wir sind diese Platte mit all dem Wissen angegangen, das wir bei den Aufnahmen zu ‚Let It Come Down’ angesammelt haben. Unser Ziel war es nicht, uns zurückzunehmen. Es gibt zwar einige Overdubs auf dem neuen Album, aber nur, weil ich dennoch nicht das Gefühl hatte, dass der Gospel-Chor und die Streicher dem Rest der Platte etwas von ihrer Energie nehmen.“ Und genau deshalb ist der Albumtitel, abgesehen vom eleganten Verweis auf den berühmten Gospelsong gleichen Namens, clever gewählt. Die Platte ist nämlich in der Tat nicht nur würdevoll, sondern auch einmal mehr verblüffend.
Weitere Infos: www.spiritualized.com Foto: Sanctuary