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PHOEBE BRIDGERS

Everybody´s Darling

PHOEBE BRIDGERS

Mit ihrem sensationellen Debütalbum ´Stranger In The Alps´ katapultierte sich Phoebe Bridgers vor drei Jahren aus dem Stand auf den Indie-Folk-Olymp, doch das war erst der Anfang einer beinahe einmaligen Erfolgsgeschichte. Ihre Bandprojekte Boygenius (mit Julien Baker und Lucy Dacus) und Better Oblivion Community Center (gemeinsam mit Conor Oberst von Bright Eyes) sowie ein goldenes Händchen in puncto Social-Media-Selbstvermarktung sorgten dafür, dass die charismatische 25-jährige Kalifornierin weit jenseits der Kernzielgruppe ähnlich inspirierter Musikerinnen – weiblich, jung, todunglücklich – praktisch über Nacht zu „everybody´s darling“ wurde. Jetzt erscheint ihre hinreißende zweite Solo-LP, ´Punisher´.

Phoebe Bridgers eilt von Erfolg zu Erfolg. Entsprechend selbstbewusst klingt sie auch auf ihrer neuen Platte, auf der sie den mit ihrem Erstling eingeschlagenen Weg unbeirrt weiterverfolgt und trotz weiterhin schön düster-poetischer Texte in Sachen Dynamik, Melodie und Intensität einen gewaltigen Satz nach vorn macht. Dass sie in den letzten Jahren künstlerisch und menschlich gewachsen ist, aber dennoch nicht die Bodenhaftung verloren hat, zeigt sich auch im Westzeit-Interview. Sympathische Anflüge von Unsicherheit und Selbstkritik mischen sich unter eine typisch kalifornische Nonchalance, wenn sie analog zu ihren wie in Stein gemeißelten Songs auch bei unserem Gespräch ehrlich, wortgewandt, clever und oft mit einem Lachen stets die richtigen Worte findet.

„Ich hatte lange Zeit die Wahnvorstellung, dass meine nächste Platte nach ´Strangers In The Alps´ mein zweites Soloalbum sein würde", gesteht sie. „Dann ergaben sich aus heiterem Himmel all diese Möglichkeiten [mit Boygenius und BOCC] und ich sagte mir: ´Das musst du einfach machen, das hört sich fantastisch an.´ Trotzdem war ich ganz versessen darauf, sofort die nächste Soloplatte in Angriff zu nehmen. Tatsächlich habe ich diese lange Zeit aber wirklich gebraucht, um die Songs zu schreiben. Viele von ihnen sind auf Tournee entstanden, und ich hätte sicherlich über ganz andere Themen geschrieben, wenn ich nicht so viel unterwegs gewesen wäre.“

Doch nicht nur textlich hinterließen die Kollaborationen und die anschließenden langen Konzertreisen rund um den Globus Spuren, bisweilen beeinflussten sie auch die Arrangements der neuen Lieder – oder wie Bridgers selbst es ausdrückt:

„Mit einem Haufen trauriger Lieder unterwegs zu sein war prima, aber keinen einzigen schnellen Song zur Verfügung zu haben, wenn du dich auf der Bühne mal depressiv fühlst, war… scheiße! Dieses Mal habe ich deshalb bei den Aufnahmen stärker darauf geachtet, dass es auch Spaß machen wird, die Lieder live zu spielen.“

Für ´Punisher´ hat Bridgers deshalb ihre typische Symbiose aus niederschmetternder Ehrlichkeit und poppiger Eingängigkeit weiter perfektioniert und gemeinsam mit langjährigen Weggefährten und den Mitstreitern von Boygenius und BOCC auf eine musikalisch breitere Basis gestellt. Ein bisschen mehr Elektronik, vereinzelter Trompeteneinsatz und ein insgesamt etwas weniger zartes Klangbild sorgen nun für mehr Abwechslung und eine triumphierende Grundstimmung.

So wurde etwa aus der Ballade ´Kyoto´ während der Aufnahmen eine wuchtige Indie-Rock-Nummer, in der Bridgers die Erfahrungen einer Japan-Tournee thematisiert: die Furcht, den eigenen Erfolg nicht verdient zu haben.

„Zu glauben, dass mir die lange Schlange vor der Konzerthalle wirklich zusteht, fällt mir immer noch schwer“, sagt sie und muss lachen. „Allerdings hoffe ich auch, nie an den Punkt zu kommen, an dem ich denke: ´Ach, das ist doch selbstverständlich!´ Vielleicht geht es in dem Lied auch ein wenig darum, sich schuldig zu fühlen, wenn man sich Zeit für die schönen Dinge des Lebens nimmt, aus Angst, dass das den Anfang vom Ende bedeuten könnte. Nimm doch nur mal all die tollen Schauspieler, die sich mit der Zeit zu Arschlöchern entwickelt haben. Johnny Depp glaubt von sich selbst, dass er der Wahnsinn ist, und deshalb hassen ihn jetzt alle.“

Viele der neuen Lieder sind für Bridgers deshalb auch kleine Reminder, Erinnerungen an die Fallstricke, die eine wachsende Popularität zwangsläufig mit sich bringt. Gleichzeitig dokumentieren die Texte auch den beeindruckenden Wachstumsprozess der letzten Jahre.

„Wenn ich heute meine erste Platte höre, dann höre ich ein KIND!“, sagte sie lachend. „Aber wer weiß? Vielleicht höre ich das neue Album in fünf Jahren und denke mir: ´Verdammt, Mitte 20 hattest du echt harte Zeiten durchzustehen!´“

Unverändert dagegen ist, dass ihr das Songwriting als Ventil dient, am eigenen Leib Erlebtes zu verarbeiten. Während sich andere Künstler mit zunehmendem Erfolg mehr und mehr aufs Storytelling verlegen, drehen sich auch Bridgers´ neue Lieder stets um sie selbst.

„Ein Lied an sich dient erst einmal nur dazu, mir die Dinge von der Seele zu schreiben“, bestätigt sie. „In Interviews darüber zu reden und mit Freunden, die meine Songs gehört haben, über meine Gefühle zu sprechen – das ist ein bisschen wie Therapie. Mit den Liedern sage ich zunächst nur: ´So fühle ich mich.´ Im Anschluss daran ständig darüber zu sprechen, das ist das eigentliche Verarbeiten. An dem Punkt bekomme ich die guten Ratschläge oder kann loslassen.“

Man könnte auch sagen: Mit ´Punisher´ ist Phoebe Bridgers mehr denn je bereit, sich selbstbewusst der Dunkelheit zu stellen.

Aktuelles Album: Punisher (Dead Oceans / Cargo)


Weitere Infos: phoebefuckingbridgers.com Foto: Olof Grind

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