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MISTY BOYCE

Das hörbare Herz

MISTY BOYCE

Es ist doch immer wieder erstaunlich, wie heutzutage selbst extrem produktive Musiker(innen) wie Misty Boyce unter dem Radar einer größeren Öffentlichkeit durchrutschen können, obwohl sie allerbestens vernetzt sind und – wie im Fall von Misty – nicht nur bereits seit Jahren in eigener Sache tätig sind, sondern obendrein durch ihren Job als Session Musiker z.B. als Keyboarderin in der Band von Sara Bareilles prinzipiell im Spotlight stehen. Sei es drum: Das soll sich nun alles ändern. Das rührige Label Make My Day wird dafür Sorge tragen, dass Misty Boyce mit einer Special Edition ihres vierten Albums „Genesis“ nun auch bei uns als Songwriterin, Recording- und Touring-Artist bekannt wird. Dabei liest sich Misty's Resümee heute schon recht beeindruckend: Als Keyboarderin unterstützt sie Sara Bareilles seit ca. 2013 – hat aber auch anderen Künstlern wie Sting oder Ingrid Michaelson schon diesbezüglich unter die Arme gegriffen. Ihre ersten eigenen Songs veröffentlichte sie 2008. Es folgte 2010 ihre erste, selbst betitelte LP, 2013 die EP „Tough Love“, 2015 die LP „The Life“, 2017 „Get Lost“ und 2020 – mitten in der Pandemie – eine erste Version des Albums „Genesis“, die jedoch aufgrund der Lockdown Umstände gar nicht richtig promotet werden konnte, so dass April Michelle „Misty“ Boyce die um 2 Tracks erweiterte, offizielle Neuauflage gerade recht kommt. Aber lassen wir sie doch mal selbst berichten, wie das alles zusammenhängt.

Misty hat schon relativ früh angefangen, eigene Songs zu schreiben. Wo sieht sie denn ihre musikalischen Wurzeln?

„Oh als ich anfing hörte ich zunächst mal Reba McIntire und Super-Country Musik. Jewel war ein großer Einfluss und später kamen dann Fiona Apple, Tori Amos und Radiohead und die cooleren Sachen hinzu. Ich denke aber dass die Pop-Country-Struktur tief in meinem System verwurzelt ist, so dass ich dieser nicht wirklich entfliehen kann. Die Sachen, mit denen ich damals anfing, könnte man in etwa als 'Alternative Folkpop' bezeichnen."

Wie ist denn die Zeitschiene das „Genesis“-Projekt betreffend?

„Der älteste Song ist 'Telephone' – den haben wir als Single schon 2019 aufgenommen“, berichtet Misty, „den haben wir im Februar oder März 2020 – unmittelbar vor der Pandemie – als Single veröffentlicht und anschließend 'The Clearing' – mein Duett mit Doe Parao. Das Album 'Genesis' folgte erst danach. Mein Produzent, Jon Joseph und ich haben das während der Pandemie eingespielt. Der Plan war ursprünglich gewesen, das Album in diesem großartigen Studio in El Paso aufzunehmen. Wegen der Pandemie waren wir allerdings gezwungen, uns in L.A. einzubunkern und haben beschlossen, zusammen in Quarantäne zu gehen, um das Album dann gemeinsam aufnehmen zu können. Es wusste in der Pandemie ja keiner so recht, was zu tun wäre – aber auf dem Material zu sitzen, bis die Pandemie vorbei wäre, wollte ich auch nicht. Ich wollte es also veröffentlichen, weil es ja immerhin ein Herzensprojekt war und ich mich mitten im Prozess befand."

Und mitten in der Pandemie.

„Ja, ich wollte einfach meinen Plan in die Tat umsetzen, obwohl die Welt gerade unterging“, berichtet Misty, „wir haben es dann also veröffentlicht – aber für Musik interessierte sich in dieser Zeit kaum jemand. Es war einfach zu viel los – die Pandemie, der George Floyd Mord, die Wahlen und die anschließenden Querelen. Es war eigentlich ein schreckliches Jahr, Musik zu veröffentlichen und das Album verschwand sozusagen im Äther. Deswegen war ich geradezu glücklich, das Album dann jetzt sozusagen neu aufzulegen – damit es endlich auch mal jemand zu Gehör bekommt."

Wie ist Misty die Sache denn musikalisch angegangen? Mit einer bestimmten Idee im Kopf oder offen für alles mögliche? „Ich hatte schon eine bestimmte Idee im Sinn“, gesteht Misty, „denn Jon Joseph und ich sind große Fans von Andy Shauf und Phoebe Bridgers. Ich bin zudem noch ein Fan von Wayne Shorter, Herbie Hancock und Miles Davis. Was ich anstrebte, war eine Scheibe wie sie Andy Shauf oder Phoebe Bridgers machen – aber mit ein paar beißenden Wayne Shorter Elementen. Das habe ich Jon jedenfalls gesagt, als wir die Arbeiten angegangen sind.“

Viele der Ideen, die auf „Genesis“ verwirklicht wurden, haben ganz eindeutig mit der Art der Produktion zu tun. Wessen Idee war es aber dann, die Songs mit Jazz-Phrasierungen (und teilweise auch Soli) anzureichern?

„Das war meine Idee“, erklärt Misty, „ich habe Jazz-Piano an der Uni studiert. Jon hasst nämlich Jazz und ich habe ihn praktisch dazu bringen müssen, das mit einzubinden – aber geschmackvoll. Er hat es mich dann schließlich auch machen lassen."

Damit wir uns nicht falsch verstehen: „Genesis“ ist keine Jazz-Scheibe geworden – aber in Sachen Harmonieführung, Phrasierung und Improvisation ziehen sich klar erkennbare Elemente durch die ganze Songsammlung. Besonders deutlich wird der Ansatz bei einigen geschmackvollen, reduzierten Live-Videos, die Misty mit ein paar Studiomusikern in Lockdown-Sessions einspielte und die daran erinnern, wie die Urväter dieses Ansatzes – Steely Dan – in den frühen 70ern an diese Sache herangegangen sind.

Wonach suchten Jon und Misty denn musikalisch?

„Ich suchte nach einer Balance aus Handwerk, schönen Worten und klanglicher Ausgeglichenheit“, buchstabiert Misty das Lehrbuch aus, „aber – mir ist eigentlich die Aufrichtigkeit noch wichtiger. Kann ich die Essenz des Songs oder Künstlers hören? Das will ich hören und das ganze technische Zeug interessiert mich eigentlich nicht wirklich. Ich will jemandes Herz hören können – und wie er das gemacht hat, interessiert mich nicht. Es ist wohl ein Mischung aus produktionstechnischem Geschick, Feinabstimmung und großartigem Songwriting. Nimm aber jemanden wie Daniel Johnston. Der hatte so etwas ja gar nicht zur Verfügung – nur eine akustische Gitarre und eine kaputte Stimme - und bringt mich trotzdem zum heulen."

Das klingt alles ziemlich logisch – erklärt dann aber noch nicht das interessante und abenteuerliche Sounddesign von „Genesis“.

„Also sagen wir mal so“, führt Misty aus, „nun, da ich mit 'Genesis' eine Scheibe gemacht habe, die ziemlich cool ist, will ich eigentlich wieder zu einer Schreibweise finden, in der ich aufrichtig bin und mein 'Selbst' erkennen kann. Ich frage mich allerdings, ob ich da mutig genug für bin – und ich fürchte, ich bin es noch nicht. Wenn ich mich hinsetze und Schreibe, dann spüre ich immer noch zuweilen den Filter, der fragt, ob die Leute das, woran ich gerade arbeite wohl cool finden könnten. Ich würde aber gerne schreiben, was ich gerade fühle."

Was ja zu den eher schwierigeren Aufgaben einer Songwriterin gehört.

Kommen wir mal zum Thema der Scheibe: „Genesis“ ist ja bekanntlich das Buch Mose – oder die Geschichte des alten Testamentes. Im Wesentlichen erzählt Misty diese Geschichte anhand von miteinander verwobenen Szenen, Erinnerungen, Allegorien und Beispielen nach – nur aus der Perspektive einer Frau und nicht des üblichen Adam-Rippen-Krams. Wie ist sie denn auf diese Idee gekommen?

„Seufz“, beginnt Misty ihre Ausführung, „im Vorfeld dieses Projektes passierten ja eine Menge für Frauen. Beispielsweise auch die MeToo-Bewegung. Das war es, was mich dazu brachte, mein Leben in einem ganz neuen Licht zu betrachten. Und auch die alten Geschichten aus der Bibel, die wir unbewusst in uns verkörpern. Ich blickte also in mein Innerstes und erlaubte mir, mit der Schöpfungsgeschichte der Bibel eine alternative Form des Geschichten-Erzählens zu erforschen. Ich betrachtete erst mal die Schöpfungsgeschichte aus einer indigenen Tradition. Eine Himmelsfrau, die vom Himmel fällt und dabei Samen verteilt, Gänse, die ihr ein Bett bereiten zur Landung. Sie geht als Säherin durch das Land und verbreitet durch ihre Arbeit Freude und bringt Nahrung für alle. Das ist eine Schöpfungsgeschichte, die auch mir zusagt – während die biblische Version sich ja darauf bezieht, dass Eva alles Schuld ist, weil sie eine Sünderin ist und alles versaut hat, so dass wir heutzutage uns heutzutage alle hassen und die Menschheit ziemlich schrecklich ist. Warum nur?"

Na ja – wegen der Interpretation der Bibelgeschichte durch dumme weiße Männer halt. Es geht Misty Boyce ja offensichtlich auch gar nicht um Religion, sondern das Erforschen spiritueller Aspekte, right?

„Ja – das ist eine großartige Frage“, überlegt sie kurz, „ich denke nicht dass Religion und Spiritualität voneinander getrennt sind. Religion versucht die Spiritualität und die Natur genauso zu erklären, wie die Wissenschaft. Wir labeln das nur, weil uns das ansonsten verwirren würde. Für mich ist alles spirituell: Wissenschaft, Religion – es sind alles am Ende irgendwie Geschichten. Ich bin daran interessiert in die Welt der Natur einzutauchen ohne die normativen und kulturellen, geschlechtsspezifischen Regeln zu beachten. Wenn ich das Ganze einfach als Wesen betrachte, dann ergibt sich eine vollkommen andere Wahrnehmung, als die, die mir durch meine Kultur vermittelt wurde."

Gibt es denn für Misty noch einen kreativen Lebensplan irdischer Natur? Immerhin ist sie seit einiger Zeit verheiratet und Mutter eines kleinen Babys?

„Ja, ich denke doch“, meint sie, „ich würde gerne als Songwriterin weiter arbeiten und mit meiner Familie auf Tour gehen. Mein Mann Steve (Goold) ist ein großartiger Drummer und im Herbst wollen wir als Familienband auf Tour gehen. Mal schauen, wie das funktioniert. Wir werden einfach die Songs als solche spielen – und dann wird man sehen, dass diese den ganzen produktionstechnischen Kram nicht unbedingt brauchen."

Aktuelles Album: Genesis (Make My Day / Indigo) VÖ: 05.08.



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