Balsam für geschundene Seelen: Mit ihrer letztjährigen Glanztat ´An Overview On Phenomenal Nature´ ist der amerikanischen Singer/Songwriterin Cassandra Jenkins ein monumentales Album geglückt, das von persönlichen Tragödien und dem Wirrwarr unserer Zeit inspiriert ist, klanglich aber nicht auf Chaos und Lautstärke setzt, sondern im Gegenteil mit leisen Tönen und sanfter Schönheit das perfekte Ambiente zum Nachdenken und Fallenlassen bietet. Im August und September stellt Jenkins die LP nun bei Aufritten in Darmstadt und Hamburg auch live in Deutschland vor.
Es gibt Platten, bei denen man sich schon nach ein paar Takten sicher ist, dass sie einen den Rest des Lebens begleiten und begeistern werden. Cassandra Jenkins´ ´An Overview On Phenomenal Nature´, veröffentlicht vor 15 Monaten in den Untiefen des Lockdowns, ist solch eine Platte. „I´m a three-legged dog / Workin´ with what I got / And part of me will always be / Looking for what I lost“ singt die 38-jährige New Yorkerin gleich zu Beginn des Album-Openers ´Michelangelo´ zum wunderbar naturbelassenen Sound einer einzelnen Stromgitarre, die ein wenig klingt, als hätte Neil Young die Finger im Spiel, und sorgt damit nicht nur sofort für Gänsehautfeeling, sondern gibt auch von Beginn an brillant die Richtung vor, die sie mit dem Rest der LP einschlägt. Es geht um Verlust, um das Verlorensein und andere Tiefschläge im Leben, doch Jenkins scheint stets gewillt, die negativen Schwingungen in etwas Positives zu verwandeln – auch wenn es ihr trotz all der bemerkenswerten Ruhe und Gelassenheit, die sie auch beim Westzeit-Interview am Rande ihres Gastspiels in der Volksbühne in Berlin ausstrahlt, nicht immer leichtfällt, die Düsterkeit aus ihren Liedern herauszuhalten.„Die richtige Balance zu finden, kann manchmal richtig schwierig sein, dennoch ist das ein Teil des Prozesses, den ich ganz besonders schätze“, verrät sie. „Ich denke, das ist auch ganz allgemein meine Lebenseinstellung: Wir alle müssen immer wieder schwierige Dinge verarbeiten. So ist das Leben. Das Leben bedeutet Leiden, aber alles, was uns schwerfällt, wird uns formen. Letztlich geht es darum, das Spielerische nicht zu verlieren und trotz allem das Leben zu genießen. Das gelingt mir nicht in jedem Moment an jedem Tag, aber mein ultimatives Ziel ist es, alles so zu nehmen, wie es kommt, und nicht gegen all die Dinge anzukämpfen, die schwierig sind, sondern ihnen zu erlauben, mir den Weg zu weisen.“
´An Overview On Phenomenal Nature´ hat deshalb etwas ungemein Tröstliches, Beruhigendes, Berührendes, wenn Jenkins, Produzent Josh Kaufman und fantastische Mitstreiterinnen und Mitstreiter wie Drummer JT Bates, Saxofonist Stuart Bogie oder Bassistin Annie Nero dafür sorgen, dass die ausgetüftelten, aber nie zu kopflastigen Arrangements im Dunstkreis von Folk und Ambient-Pop bisweilen klingen wie liebevolle Umarmungen. Das gilt ganz besonders für ´Ambigious Norway´, die meditative Hommage an Dave Berman, in dessen Purple-Mountains-Tourband Jenkins hätte spielen sollen, bis der unerwartete Suizid des Dichters und Songwriters nur wenige Tage vor Beginn der geplanten Gastspielreise im Herbst 2019 ihr Leben auf den Kopf stellte. Ihren Schock, ihre Trauer und ihre Verwirrung verarbeitete Jenkins in herzergreifend ehrlichen Songs, die längst nicht alle explizit von Berman handeln, aber oft von seinem Geist und seinem einzigartigen Talent beseelt sind.
Mit der Spoken-Word-Großtat ´Hard Drive´ beweist Jenkins dagegen ein goldenes Händchen für raffiniertes Songwriting, wenn sie ihre philosophischen Grübeleien geistreich als eine Reihe von beiläufigen, fast schon surrealen Konversationen mit einer Security-Dame des New Yorker Met Breuer Museum, einem Buchhalter in einem Restaurant in Topanga, einem Fahrlehrer namens Darryl und einer Wahrsagerin mit Edelsteinaugen auf einer Geburtstagsfeier präsentiert, als gäbe es keine leichtere Übung für sie.
„Das ist die klassische Geschichte, dass das Leben oft die besten Geschichten schreibt”, sagt sie bescheiden. „Ich schreibe lediglich das auf, was passiert ist, aber dadurch, dass ich es aus meiner Perspektive betrachte, drehe und wende ich es ein wenig. Das Schöne dabei ist, zu überlegen, was oder wen du unters Mikroskop legst.”
Doch aus welchen dieser oft beiläufig erscheinenden Momente macht Jenkins am Ende Songs für die Ewigkeit, und welche bleiben nur flüchtige Begegnungen mit Fremden, die schnell wieder vergessen sind?
„Das ist eine wirklich tolle Frage!”, erwidert sie lachend. „Ich denke, es hängt davon ab, wie empfänglich ich in diesem Moment bin. Ständig alles durch die Linse der Schreiberin zu betrachten, kann ziemlich überwältigend sein, dennoch sehe ich Dinge jeden Tag, überall, das hört nie auf.“
Ähnlich wie viele ihrer Lieblings-Songwriter, Dichter und Schriftsteller beleuchtet sie mit ihren Beobachtungen oft simpelste, alltäglich erscheinende Situationen und Ereignisse. „Die Haltung eines Beobachtenden einzunehmen, ist eine wunderbare Art, Dinge zu verarbeiten, es ist eine Meditation in Sachen Akzeptanz“, ist sie überzeugt. „Ob ich später daraus einen Song mache oder nicht, ist nur selten meine Motivation. Ich beobachte, ich verarbeite, ich schreibe auf. Ich stelle mir das wie einen Satz Tarotkarten vor. Erst wenn ich mich hinsetze, mir die Charaktere anschaue und meine Beobachtungen zusammenführe, nehmen sie Bedeutung an.“
Vielleicht auch deshalb war Jenkins nicht wirklich auf das erstaunliche Echo vorbereitet, das ihr zutiefst persönlich gefärbtes Album weltweit ausgelöst hat. Vor allem in ihrer amerikanischen Heimat kam Ende 2021 kaum eine Endjahres-Bestenliste der Medienvertreter ohne ´An Overview On Phenomenal Nature´ aus, und bisweilen konnte die LP von ihrem Label Ba Da Bing gar nicht schnell genug nachgepresst werden, um die Nachfrage zu befriedigen. Aber Hand aufs Herz, ein bisschen muss sie doch gespürt haben, dass ihr da ein ganz besonderes Album geglückt ist?
„Ich war tatsächlich total überrascht“, antwortet sie. „Ich erinnere mich, dass wir zur Veröffentlichung lange überlegt haben, wie wir sicherstellen können, dass wir alle 300 Exemplare der Vinyl-Erstauflage verkauft bekommen. Ich habe dann all meine Freunde und meine Familie angeschrieben und sie angebettelt, dass sie die Platte als Weihnachtsgeschenk vorbestellen.“
Sie lacht. „Jetzt wünschte ich, dass ich wenigstens ein Exemplar der Erstauflage für mich behalten hätte...“
Ließ Jenkins mit ´An Overview On Phenomenal Nature´ tiefe Einblicke in ihr Seelenleben zu, ist das clever betitelte Schwesteralbum ´(An Overview On) An Overview On Phenomenal Nature´, das seit Kurzem endlich auch auf Vinyl zu haben ist, eher ein künstlerischer Blick hinter die Kulissen. Mit bislang unveröffentlichten Songskizzen, Demos und verworfenen Aufnahmen kann man hier an der Entstehung des fraglos ergreifendsten Albums des letzten Jahres teilhaben, sich von zunächst klanglich vollkommen anders interpretierten Songs wie ´New Bikini´ und ´Hailey´ überraschen lassen, sich in der seelenruhig fließenden Instrumentalversion von ´Ambigious Norway´ verlieren oder sich ´American Spirit´ hingeben, dem einzigen Lied, das auf dem letztjährigen Album nicht zu finden war und das doch auf schwer zu erklärende Art all die Magie der LP in weniger als fünf Minuten zu bündeln scheint. Weil die bittersüße Nummer anders als die anderen Songs schon vor der Berman-Tragödie entstanden war, dauerte es eine Weile, bis Jenkins bewusst wurde, dass sie den gleichen Geist atmet wie der Rest von ´An Overview On Phenomenal Nature´.
„In gewisser Weise ist der Song tatsächlich so etwas wie eine Keimzelle, denn er ist in der gleichen Welt zu Hause: Er handelt von einer bestimmten Person, ist sehr amerikanisch und spiegelt die Art von Sanftheit wider, mit der ich mich für gewöhnlich Menschen nähere. Er vermittelt einen Blick auf etwas sehr Düsteres, aber mit viel Liebe.“
Aktuelles Album: An Overview On Phenomenal Nature´ / (An Overview On) An Overview On Phenomenal Nature´ (Ba Da Bing)
Weitere Infos: cassandrajenkins.com Foto: Wyndham Boylan-Garnett