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RAT TALLY

Neugier als Kompass

RAT TALLY

Als gäbe es nichts Leichteres: Gehüllt in einen facettenreich schillernden Sound aus dem Indie-Universum zeichnet die junge Amerikanerin Addy Harris alias Rat Tally auf ihrem hinreißenden Erstling ´In My Car´ kompromisslos und verletzlich zugleich ihre Suche nach der eigenen Identität und ihren Weg zu persönlichem Wachstum nach und trifft dabei mit einer natürlichen Neugier als Kompass genau den Sweetspot zwischen gefühlsbetonter Poesie und greifbarer Lebensnähe, wenn sie Versagensängste, innere Unruhe und das wohlige Gefühl der Nostalgie zum Motor ihrer Lieder macht.

„Hell yeah!“, sagt Addy Harris, als wir sie beim Westzeit-Interview bitten, uns die Platten zu verraten, die Rat Tally auf den Weg gebracht haben, und erzählt dann mit der gleichen Begeisterungsfähigkeit, die auch ihre Songs befeuert, von Mitskis ´Puberty 2´ („Beim Hören hatte ich zum ersten Mal das Gefühl, dass es auch eine Nische für mich und meine Musik gibt“), hebt Phoebe Bridgers und ihr Debüt ´Stranger In The Alps´ hervor („Ich habe sie damals auf ihrer ersten Tour in einem ganz kleinen Laden in Boston gesehen, und es war magisch!“), erinnert sich an den bleibenden Effekt von Julien Bakers Erstling ´Sprained Ankle´ („Ich habe gut ein Jahr lang nichts anderes gehört! Diese Platte hat mir geholfen, textlich über den Tellerrand zu schauen“), wirft unerwartet ´Welcome Interstate Managers´ von Fountains Of Wayne ins Rennen („Die Platte ist voll mit guten, einprägsamen Songs, und dafür habe ich einfach eine Schwäche“) und outet sich als Fan von Kacey Musgraves ´Golden Hour´ („Auch hier geht es um simple, gute Songs, die unfassbar gut produziert sind. Das Arrangement von ´Slow Burn´ ist unglaublich – und das gilt auch für den Rest der Platte!“).

All diese Inspirationen hallen mal mehr, mal weniger deutlich auch auf´ ´In My Car´ wider, ein Album, auf dem sie mit einem für ein Debüt bemerkenswert ausgeklügelten Sound im Dunstkreis von Indiepop, Alternative Rock und Emo fasziniert und dabei zumeist auch ohne den Einsatz klassischer Refrains die so wichtige einige Note nicht vergisst. Das Album unterstreicht Addys goldenes Händchen für Melodien mit Wiedererkennungswert und ihr Faible für evokative Texte und glänzt mit Songs, die gleichermaßen echt und grüblerisch wirken, ganz egal, ob sie mit Metaphern jongliert oder ihre Anliegen unverblümt in den Fokus rückt. Dabei greift sie immer wieder auf Zeilen zurück, die auf den ersten Blick aus dem Rahmen fallen, aber gerade deshalb in Erinnerung bleiben.

„Ich mag kleine Anspielungen“, erklärt sie. „In einem Song wie ´Spinning Wheel´, der textlich einer meiner Favoriten auf dem Album ist, gibt es das Bild des Spinnrads, aber es gibt auch die Zeile über die Mansons (´I´m just as bad as one of the Mansons´) oder ´You brought a ghost to a fist fight´. Mir gefällt es, hier und da Zeilen zu verwenden, die ein bisschen aus dem Rest herausstechen."

Tatsächlich ist es Addy aber auch wichtig, ihren eigenen Horizont nicht nur als Künstlerin, sondern auch als Hörerin von Musik ständig zu erweitern.

„Als Hörerin versuche ich, die Palette der Genres, mit denen ich mich beschäftige, zu vergrößern“, sagt sie. „Es ist natürlich leicht, bei Songs oder Acts, die man wirklich liebt, steckenzubleiben, aber ich möchte einfach möglichst unterschiedliche Sachen hören. Das ist es, was mich motiviert, neue Musik zu finden. Ich mag es, auf Empfehlungen von Leuten zu hören, die vielleicht nicht in der gleichen Szene wie ich unterwegs sind oder nicht die gleiche Musik hören wie ich. Es gibt noch so viel Musik zu entdecken, und das finde ich sehr aufregend."

Überraschend kommt der Traumstart, den Addy mit ´In My Car´ hinlegt, auch deshalb nur bedingt, weil die Musik für sie praktisch schon ihr ganzes Leben lang ein ständiger Begleiter ist. Früh erhielt sie Unterricht und widmete sich bis zur Highschool vor allem der klassischen Musik. Auf der Kunstschule, die sie besuchte, spielte sie Cello im Orchester, und auch als Songwriterin machte sie schon damals ihre ersten Gehversuche, wenngleich lange nur im Geheimen.

„Erst in der Highschool wurde mir klar, dass Songschreiben etwas war, was ich wirklich machen wollte“, erinnert sie sich. „Allerdings war mir das anfangs geradezu peinlich, bis ich dann von Berklee hörte und mir bewusst wurde, dass Songwriting etwas ist, das man als Hauptfach studieren kann. Das war der Punkt, an dem ich begann, das Ganze ernsthaft zu verfolgen."

Inzwischen im Kreise ihrer Familie in Chicago heimisch, versuchte Addy nach ihrem Studium am renommierten Berklee College of Music in Boston zunächst in Los Angeles einen Neuanfang, wurde dort allerdings nicht wirklich glücklich. Diese Erfahrungen verarbeitete Addy in den Songs der 2019 erschienenen Rat-Tally-Debüt-EP, die treffend ´When You Wake Up´ betitelt war. Im Song ´Rock Of Gibraltar´ heißt es: ´I feel like I was born in the cracks beneath´ und ´Keep the car door unlocked for me / So I can roll out before anyone turns the keys´ - Zeilen, mit denen Addy auf ein unstetes Leben im Dazwischen anspielt, das sich nun auch im Titel und den Texten von ´In My Car´ widerspiegelt.

„Das Dazwischen-Sein ist ein Gefühl, das ich sehr gut kenne“, gesteht sie. „Ich denke, dass meine Songs textlich immer in Bewegung und nie wirklich auf einen Punkt konzentriert sind. Das ist wahrscheinlich eine Reaktion auf mein Leben und wie ich mich dabei fühle. Ich habe das Gefühl, dass ich mich ständig bewege, das gilt besonders für mein Gehirn."

Sie muss lachen. „Ich kann es einfach nicht abschalten!“

Aktuelles Album: In My Car (6131 Records / Bertus)


Weitere Infos: www.instagram.com/rat_tally Foto: Chris Strong


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