Im Spannungsfeld von Zerbrechlichkeit und Energie, niederschmetternder Trostlosigkeit und erhebender Stärke katapultierte sich Julien Baker 2015 mit ihrem wunderbar minimalistischen Erstling ´Sprained Ankle´ aus dem Stand in die erste Liga der Indie-Folk-Heldinnen. Der herbstlich-melancholische Nachfolger ´Turn Out The Lights´ ist dunkler, schwerer und komplexer, in seiner elektrisierenden Intensität aber nicht minder beeindruckend.
Doch es sind längst nicht mehr nur ihre intimen Songs, die aufhorchen lassen. Dass Julien Baker queer identity, christlichen Glauben und Südstaaten-Herkunft vereint, erweckt inzwischen vielerorts mindestens genauso großes Interesse. Anfangs fiel es der Singer/Songwriterin aus Memphis nicht immer leicht, über das „Paradoxon meines Lebens“, wie sie es selbst nennt, zu sprechen, aber das hat sich mittlerweile gewandelt. „Ich bin mir meiner repräsentativen Rolle mehr und mehr bewusst und möchte das nutzen“, erklärt sie, als wir sie am Vortag ihres 22. Geburtstags in Berlin treffen. „Ich denke, im derzeitigen politischen und sozialen Klima sollten Künstler – und Menschen allgemein – den sozialen Diskurs nicht aus ihrem Tun ausschließen.“Ihre veränderte Geisteshaltung bildet Baker auf ´Turn Out The Lights´ auch musikalisch ab, öffnet neue Türen, ohne deshalb die Verletzlichkeit ihres Debüts einzubüßen. Nicht nur, dass sie nun des Öfteren ihre Stromgitarre gegen ein Klavier eintauscht, neu ist auch, dass Streicher bei einer Reihe Lieder die oft brutale Ehrlichkeit der Texte ein wenig abfedern und sich Baker so gewissermaßen auf offener Bühne verstecken kann. „Ja“, stimmt sie zu, „die Streicher geben den Hörern die Gelegenheit, für eine Weile die Aufmerksamkeit auf etwas anderes als die Texte zu richten.“
Denn autobiografisch sind auch die neuen Songs, allerdings liegt der Fokus dieses Mal weniger auf Baker selbst. Stattdessen machte sie sich zu einer Figur in ihren eigenen Geschichten. „Als ich ´Sprained Ankle´ schrieb, dachte ich überhaupt nicht daran, dass mir jemand zuhören könnte“, gesteht sie. „Die neuen Songs bin ich dagegen viel gewissenhafter und bewusster angegangen. Ich wollte nicht mehr darüber schreiben, wie ich alles ruiniere und gleichzeitig die Existenz jeder Form von Hoffnung verleugne.“ Doch obwohl Baker heute viel gefestigter ist – auch ´Turn Out The Lights´ spiegelt hart erkämpfte Weisheit wider, wenn sie innere Konflikte und ihre Auswirkungen auf zwischenmenschliche Beziehungen beleuchtet. „Das klingt total Sartre-mäßig, aber: Schmerz ist unausweichlich!“, sagt sie bestimmt. „Mir ging es dieses Mal darum, das zu kommunizieren, aber gleichzeitig auch Freude zuzulassen.“ Baker weiß um die heilende Wirkung der Musik. Nirgends wird das deutlicher als bei der eindringlichen Schlussnummer ´Claws In Your Back´, dem Gegenstück zu ´Go Home´, dem bedrückenden Finale des Debüts. „Damals habe ich davon gesungen, dass ich das Elend der Welt am liebsten gegen eine, angeblich friedvollere Ebene eintauschen will“, erinnert sie sich. „In ´Claws In Your Back´ heißt es dagegen: ´I take it all back, I change my mind. I wanted to stay.´ Ich bin jetzt an einem Punkt, an dem ich sage: Ich ertrage alles Leid der Welt, wenn ich dadurch die Freuden des Lebens genießen kann.“
Aktuelles Album: ´Turn Out The Lights`(Matador/Beggars Group/Indigo)
Weitere Infos: julienbaker.com Foto: Nolan Knight