Als gäbe es keine leichtere Übung, schüttelt sich das Chicagoer Quartett Ratboys nun schon seit rund zehn Jahren Songs aus dem Ärmel, die mal schwarzhumorig und mal anrührend, mal vom klassischen College-Rock der 90er geprägt und mal mit einer Prise Post-Country gewürzt, vor allem aber stets betont melodiös, abwechslungsreich und fantasievoll sind und dabei trotz aller smarten Cleverness dennoch ohne Umwege auf das Herz der Hörerschaft zielen. Nie allerdings waren Sängerin und Gitarristin Julia Steiner, Gitarrist Dave Sagan, Bassist Sean Neumann und Schlagzeuger Marcus Nuccio besser als auf ihrer neuen, von Chris Walla produzierten LP ´The Window´, die nicht nur das beeindruckendste Ratboys-Album bisher, sondern auch eine der schönsten Indierock-Platten des ganzen Jahres geworden ist.
´The Window´ vereint und perfektioniert all das, was Ratboys auf den vorangegangenen vier Platten ausgemacht hat, doch obwohl sich die vier Amerikaner hier spürbar facettenreicher als zuvor präsentieren, wenn sie sich mit ´Crossed That Line´ auf Power-Pop-Terrain begeben, für das uncharakteristisch ausufernde ´Black Earth, WI´ die 9-Minuten-Marke streifen, bei ´Morning Zoo´ mit heimeligem Country-Twang bestechen oder den Titelsong in folkige Melancholie tauchen, fehlt doch nie der Zusammenhang, fehlt nie das gewisse Ratboys-Gefühl.„Die Songs sind wirklich von einem zum nächsten sehr unterschiedlich“, gesteht Frontfrau Julia Steiner im Westzeit-Interview und erklärt auch gleich, warum das so ist: „Mir ist es sehr wichtig, nie Songs zu schreiben, die sich in puncto Gesangsmelodie oder Akkordfolgen wie frühere Lieder von mir anhören. Allerdings sind meine Fähigkeiten an der Gitarre überschaubar, deshalb benutze ich natürlich gelegentlich ähnliche Akkorde und Tunings – ich erfinde beim Songwriting das Rad nicht völlig neu. Trotzdem glaube ich, dass es – nicht nur bei uns – in der Tat einen schwer greifbaren, geradezu magischen roten Faden gibt, der aus dem Fingerabdruck des jeweiligen Songwriters und seiner ureigenen Perspektive resultiert. Obwohl wir es darauf angelegt haben, Songs zu schreiben, die sich neu und frisch anfühlen, gibt es deshalb trotzdem auch auf unserer neuen Platte ein Gefühl von Beständigkeit, weil die kollektive Bandchemie, die diese Songs hervorgebracht hat, unverändert ist."
Dennoch gab es Neuerungen, die hörbare Spuren auf ´The Window´ hinterlassen haben. So ist das Album die erste Ratboys-Platte, für die alle vier Bandmitglieder von Anfang bis Ende kollaboriert haben. In der Vergangenheit hatte Steiner die Songs allein geschrieben, sie dann mit dem zweiten Urgestein der Band, Dave Sagan, geteilt und erst später Freunde ins Studio eingeladen, die bei den Aufnahmen aushalfen. Für ´The Window´ skizzierte Steiner nur ihre ersten Ideen und arbeitete sie dann gemeinsam mit Sagan, Neumann und Nuccio aus. Die Pandemie sorgte dabei für unverhofft viel Zeit: Die Arrangements der neuen Lieder entstanden über einen Zeitraum von anderthalb Jahren und betonen mehr die Extreme des klanglichen Ratboys-Spektrums als die Lieder zuvor.
Noch wichtiger war aber sicherlich, dass die Band erstmals eine LP außerhalb von Chicago aufgenommen hat, denn entstanden ist ´The Window´ in der Hall of Justice in Seattle, dem Studio des früheren Death-Cab-For-Cutie-Gitarristen Chris Walla, der in den letzten Jahren immer wieder als instinktgeleiteter Produzent betont emotionaler Alben aufgefallen ist.
„Als wir 2021 mit Chris in Kontakt kamen, hat es uns ehrlich gesagt ein wenig überrascht, wie sehr er an einer Zusammenarbeit mit uns interessiert war und wie sehr er sich mit uns in wirklich detaillierte Gespräche über die Songs vertieft hat. Gerade in puncto Betonung der Extreme haben wir Chris viel zu verdanken. Die Platten, an denen er gearbeitet hat, weisen nicht unbedingt einen klanglichen Fingerabdruck auf, aber seine besondere Begabung besteht darin, die Vision eines Künstlers herauszukitzeln, sie wirklich voranzutreiben und sie dadurch zu bestätigen. Er gibt den Künstlern viel Freiheit und ermutigt sie, alles zu geben, um so das Maximum dessen zu erreichen, was ihnen vorschwebt. Das ist ihm mit vielen Death-Cab-Platten gelungen, mit ´The Con´ von Tegan And Sara und definitiv mit der Foxing-Platte, an der er 2018 gearbeitet hat (`Nearer My God´), die ein großer Quell der Inspiration für uns war. Ich denke, das ist sein unverwechselbares Markenzeichen. Er hat uns definitiv dazu angehalten, unseren Ideen zu folgen, und hat nie gesagt: ‚Das brauchen wir doch nicht!‘ oder ‚Warum sollten wir das überhaupt ausprobieren?‘ Er war stets die positive treibende Kraft."
Das Resultat dieser Herangehensweise ist ein Album, das spielfreudig und durchaus abenteuerlustig ist, ohne je das Wesentliche, den Song, aus den Augen zu verlieren.
Die Metapher des Fensters, die dem Album seinen Titel gibt, taucht derweil gleich in mehreren Songs auf, vor allem natürlich im fabelhaften Titelsong. Geschrieben hat Steiner den Text wenige Tage nach dem Tod ihrer Großmutter im Juni 2020.
„Sie war nicht an Covid erkrankt, aber wegen der Pandemie konnte mein Opa sie nicht persönlich im Pflegeheim besuchen, um sich zu verabschieden“, erklärt Steiner im Presseinfo. „Am Ende stand er vor ihrem Zimmer und verabschiedete sich durch ein offenes Fenster. Viele der Textzeilen sind direkte Zitate der Dinge, die er in diesen Momenten zu ihr gesagt hat."
Die Themen für ihre Lieder in ihrem engsten persönlichen Umfeld zu finden, ist nicht neu für Steiner, doch an welchem Punkt wurde ihr bewusst, dass diese tragisch-schöne Episode Material für einen Song bieten würde?
„Schon 2018 hatte ich aus dem Nichts die Idee, einen Song namens ´The Window´ zu schreiben“, erinnert sie sich. „Ich habe nur ein bisschen für mich gejammt, fand eine Akkordfolge und diese eine Zeile für das Fenster, und ich wusste, dass es sich richtig gut und irgendwie mysteriös anfühlte. Ich wollte den Song unbedingt schreiben, aber ich wusste zunächst nicht, wovon er überhaupt handeln sollte. Mir war allerdings bewusst, dass er einen echten emotionalen Anker brauchte. Für den Moment habe ich die Idee deshalb beiseitegelegt und mir gesagt: Sobald es einen Sinn ergibt, nehme ich sie wieder in Angriff. Als ich dann mit meiner Mutter telefonierte und sie mir vom Tod meiner Großmutter berichtete, aber auch die detaillierte Geschichte erzählte, wie sie, meine Schwester und mein Großvater sie besucht haben und sich durch das Fenster verabschiedet haben, begann ich sofort alles mitzuschreiben, denn ich wusste: Das ist der Song, das ist ´The Window´!"
Auf dem neuen Album ist das Lied das musikalische wie emotionale Herzstück, aber auch sonst zeigt die Band auf der LP eindrucksvoll, was passiert, wenn man sich selbst treu bleibt, zielgerichtet und unbeirrt den einmal eingeschlagenen Weg weiterverfolgt und sich dabei nicht von den Verheißungen des schnellen Erfolgs in der Musikindustrie aus dem Konzept bringen lässt. Für Ratboys, das wird schnell deutlich, ist die Musik eine Lebensaufgabe, ein Langstreckenlauf, kein Sprint, bei dem man Trends hinterherjagt. Auch die Headline-Tournee durch Deutschland im November, mit der die Ratboys an die fabelhaften Supportauftritte für Julien Baker im vergangenen Jahr anknüpfen werden, ist nur eine Etappe.
„Das Lustige ist: mein Opa, von dem wir gerade schon gesprochen haben, sagt immer, wenn wir uns sehen: ‚Ich weiß, dass ihr schon bald einen Hit haben werdet!‘, und natürlich ist es schön, wenn viele Leute deine Musik hören möchten, aber das war nie unsere Ambition“, verrät Steiner lachend. „Unser Ziel ist es, einfach weiter Platten zu machen, über die jemand – wann auch immer – stolpern kann. Eines Tages, wenn wir tot und begraben sind, entdecken die Leute hoffentlich unser Gesamtwerk und stellen fest: Da ist für jeden etwas dabei!"
Aktuelles Album: The Window (Topshelf Records / Bertus) VÖ 08.09.
Weitere Infos: www.ratboysband.com Foto: Alexa Viscius