Seit 1982 stehen Michael Gira und seine Swans für infernalen Noise-Rock in ohrenbetäubender Lautstärke. Doch zur Veröffentlichung des neuen Albums ´Leaving Meaning´ ist alles anders – da schlägt der 65-Jährige plötzlich ganz leise, verhaltene Töne an.
Michael Gira ist ein Überzeugungstäter: Seit Anfang der 80er gilt der hagere, bleiche Mann als das Mastermind der New Yorker Swans, hat 14 Alben veröffentlicht, Gedichte und Kurzgeschichten geschrieben, sein eigenes Label Young Gods Records gestartet und Tausende von Konzerten bestritten. Ein perpetuum mobile in Sachen ohrenbetäubendem Krach, das – entgegen anderslautender Gerüchte – längst nicht ans Aufhören denkt:„Ich habe nie gesagt, dass ich die Swans einstelle“, so Gira. „Es war nur so, dass uns zuletzt ein bisschen die Frische fehlte. Einfach, weil wir 250 Tage im Jahr auf engstem Raum unterwegs waren. Also entschied ich mich, die Gruppe aufzulösen und stattdessen mit unterschiedlichen Leuten zu arbeiten, deren Musik ich bewundere und deren Persönlichkeit ich als angenehm empfinde.“
Aus den sechsköpfigen Swans ist das Ein-Mann-Projekt von Gira geworden. Ein Multiinstrumentalist und Produzent, der seine Ideen mit einer ganzen Armada an Gästen umsetzt. Darunter die australischen Necks, die Norwegerin Anna von Hausswolff, der Soundtrack-Komponist Ben Frost oder das Balkan-Pop-Duo A Hawk And A Hacksaw. Sie alle bringen etwas von ihrem Sound ein, versorgen Gira u.a. mit Elementen aus Folk, Jazz oder Cabaret und tragen dazu bei, dass ´Leaving Meaning´ das etwas andere Swans-Alben geworden ist: Ruhig, verhalten, geradezu leise. Eine große Überraschung – nur nicht für Gira:
„Ich möchte nicht an einem Ort gefangen sein, an dem alles vorhersehbar erscheint. Bei der letzten Inkarnation der Swans war die Lautstärke sehr wichtig. Allerdings nicht, um die Leute zu foltern, sondern weil sich das, was wir rüberbringen wollten, halt nicht leise erzielen ließ. Aber ich konnte damit nicht weitermachen, weil ich kaum noch etwas höre.“
Epischer Krach
Die lauteste Rockgruppe der Welt – das war nicht Motörhead, sondern die Swans. Eine Band, die ganze Hallen leerdröhnte und mitunter von der Polizei gestoppt werden musste. Dass sie nun einem völlig konträren Ansatz folgt, ist eine faustdicke Überraschung. Allerdings hat das für Gira nichts mit Altersmilde zu tun. Für den 65-jährigen ist es lediglich eine neue Verpackung derselben vertrauten Sache. Inhaltlich bleibe alles wie gehabt: Die Texte drehen sich um Themen wie Liebe, Glauben, Sex und Tod. Das Artwork folgt einer minimalistischen Ästhetik und ´Leaving Meaning´ dauert epische 93 Minuten, verteilt auf zwei CDs oder LPs.
„Was immer die Musik verlangt, bekommt sie auch. Ich würde sie kürzen, wenn ich das Gefühl hätte, dass es notwendig wäre. Aber ich gebe mich nicht der Illusionen hin, dass sie oft im Radio laufen wird. Insofern mache ich, was ich will. Und wenn ich das Gefühl hätte, dass ein Song zwei Minuten dauern sollte, dann würde er das auch.“
Tatsächlich umspannen einige der neuen Stücke bis zu zwölf Minuten, haben etwas Hypnotisches, Meditatives und erinnern in ihrer sinfonischen Schwarzmalerei nicht selten an Nick Cave.
Die Fetisch-Finanzierung
Mit dem entscheidenden Unterschied, dass die Swans kein big business sind. Neue Alben an den Start zu bringen und sie in vernünftigen Studios aufzunehmen, ist für Gira immer noch ein finanzieller Drahtseilakt. Aber:
„Ich habe gelernt zu überleben und immer weiter Musik zu machen. 1990 habe ich mein eigenes Label gegründet, um mich nicht mit dem Blödsinn der Musikindustrie herumschlagen zu müssen. Das hat funktioniert – bis die Leute anfingen, Musik illegal herunterzuladen oder sie für ein paar Cent zu streamen. Um den Einkommensverlust zu kompensieren, habe ich schon zu Beginn der 2000er angefangen, limitierte CDs mit Demos oder Live-Stücken anzufertigen und sie an Fans zu verkaufen, die auf solche Fetisch-Objekte stehen. Dadurch kann ich die richtigen Aufnahmen finanzieren.“
Genau so hat er es auch bei ´Leaving Meaning´ praktiziert. Ein Album, mit dem sich die Swans komplett neu erfinden - und das sie auf der Tour im April/Mai 2020 erstmals im Sitzen präsentieren. Zu erleben bei einem halben Dutzend Konzerten zwischen Leipzig und Köln, die sich ausschließlich auf das neue Material konzentrieren und vielleicht nicht ganz so phonstark aber genauso manisch intensiv ausfallen, wie in der Vergangenheit. Leise ist das neue Laut.
Aktuelles Album: Leaving Meaning (Mute / PIAS)
Foto: Jennifer Gira