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Weil manche Faulpelze diese fantastische Kolumne ja manchmal gar nicht bis zum Ende lesen, das allerwichtigste gleich zu Beginn: Ruhig-frohe Feiertage, liebe Gemeinde. Am besten unter Beschallung mit der prächtigen Kompilation "Lost Christmas" (Memphis Industries), einem kleinen Geschenkkorb voller Weihnachtslieder, die weder ausgenudelt noch mega-obskur sind, sondern in ihrer großartigen Verschrobenheit an die besten Zeiten von IndiePop gemahnen. Schwelgerische Melodien im luftigen Gitarrenkleidchen (Jesca Hoop), zarte DamenGesänge (ganz groß: "We Build Our Houses Well" von Rachael Dadd with Rozi Plain and Kate Stables), fluffiges IndieSynth-Zeugs (Stats!) - hach! Field Music, Warm Digits, The Go! Team, The Phoenix Foundation u.v.a. zelebrieren über 34 Minuten gefühlige, aber durchweg kitschfreie Festtagssongs und wenn ich das richtig verstehe, gehen von jeder verkauften Platte auch noch 2 GBP an eine britische Obdachlosenorganisation. 5Wem aber – aus welchen Gründen auch immer – das ganze Weihnachtsgedöhns auf die Nerven geht, kann selbige mit der exotischen, aber interessanten "Chinese Pudong Pipa Music" massieren, die LIN SHICHENG und GAO HONG unter dem schönen Titel "Hunting Eagles Catching Swans" versammeln. Über eine Stunde wirklich hörenswerte klassische chinesische Lautenmusik vom 2006 verstorbenen Meister Shicheng (der "Ravi Shankar der Pipa" - das ist eine seiner letzten Aufnahmen) und seiner Lieblingsschülerin. 4
Oder man greift gleich zur ähnlich langen "Morning Meditation" (beide ARC Music), in der SUMEET ANAND PANDEY uralte Hindu-Ragas in der "Darbhanga Dhrupad Tradition" vorträgt. Sein auf der Erfahrung von 10 SängerGenerationen fußender Gesang wird auf Pakhawaj-Trommeln und einer Tanpura-(Bordun)Laute nicht minder kompetent begleitet. Beseitigt bei rechtzeitiger Anwendung in Ohr wie Hirn garantiert jedwede "Last Christmas"-Übelkeit. 4
Damit wären wir beim psychedelischen Element, das auch in der "Great Barrier"(Stock) des 10köpfigen (und natürlich australischen) SELFLESS ORCHESTRAs steckt. Mit einer opulenten Streicher-Bläser-ZerrGitarre-BrummBass-DerwischDrums-Session versucht man, dem gefährdeten Korallenriff zu helfen. Fängt stark an, wird dann aber etwas zu ProgRock-ig. 3
Die Polen von YOU.GURU verfolgen auf "Young Adult Fiction" (Antena Krzyku) einen ganz ähnlichen Ansatz mit ganz anderen, nämlich wesentlich elektronischeren Mitteln. Zwischen PostRock, KrautNoise und LSD-Elektronik geht hier sehr viel. 4
"Quentin Compson"(Bam Balam) nennt der gestandene gallische ElektroKrauter RICHARD "HELDON" PINHAS seine zusammen mit STEPHEN O’MALLEY eingespielte, ehrlich gesagt etwas langweilige FeedbackOrgie mit PsychSynth-Verbrämung. SunnO))) pur wäre mir lieber. 3
Eine zwischen düsterem Songwritertum und rockistischem Nihilismus siedelnde Fassung von solcherlei PsychOsen zelebrieren die New Yorker von NIHITI auf "A New Kind of Weather" (Lo Bit Landscapes). Inkl. einer entschleunigten Corona-Fassung von Cindy Laupers "I Drove All Night" (was übrigens – wie ich lernen durfte – eigentlich für Roy Orbison geschrieben wurde!). 4
Für einen etwas Noise-affinen Erben von Tangerine Dream & Co. könnte man BEN CHATWIN halten, denn das meiste auf "The Hum" ist sequenzerschwangere SynthMusik. 3
Wesentlich stärker finde ich da das dritte Werk der minimalistischen SNOW PALMS. "Land Waves" (beide Village Green) pulst wie frühe Steve-Reich-Platten, Megan Gooedersons Stimme flötet dazu subtile Silben in zarter Verschränkung. Kurz: es klappert und klimpert gar wundervoll in melodischen Patterns. 5
Das Info bemüht Blondie, PJ Harvey und Patti Smith – daran reichen IZZY & THE BLACK TREES zwar noch nicht ganz heran, aber der fuzzige PunkRock auf "Trust No One" (Antena Krzyku) hat durchaus Charme. 4
Ganz anders, nämlich semi-akustisch-entspannt kommt der clever-spannende, dezent elektr(on)ifizierte Americana-AltFolk von WAYNE GRAHAM, mit dem ich – obschon das sonst wirklich nicht meine Baustelle ist – erstaunlich viel anfangen kann. "1% Juice" (K&F) hat was! Und aufpassen: "Wayne Graham wants you to know one thing: We are a band, not a person!". 4
In etwas seichterem Schönklang kann man mit "People On Sunday" (Leaf) baden. Auch DOMENIQUE DUMONT ist kein Mensch, sondern eine Band und die evoziert aus Synthies, Gitarren etc. einen freundlich-verträumten Soundtrack. Was der mit der "Neuen Sachlichkeit" der 1920er zu tun hat, bleibt mir aber schleierhaft. 3
Ein in Berlin musizierender Franzose versteckt sich hinter dem sperrig schönen Namen LE COMMANDANT COUCHE-TÔT ET SON MAGNIFIQUE ORCHESTRE DE CLAVIERS, um auf einer gleichnamigen EP (Black Milk) Wurlitzer-getriebenes Baa-Baa-Chor-Gezwitscher über RareGrooves zu legen. Das Info verweist auf Air, Gainsbourgh und Film Noir. Stimmt beinahe. 4
Den seltsamen Namen "Schlotterschaum" (RAR/Motor) haben FLIEDERKIND ihrer 2. SynthPop-CD gegeben. Fast 40 Jahre nach Rheingold, Alphaville & Co. ist solche Musik ja eigentlich entbehrlich, aber Hauptzweck war hier wohl sowieso eher die stolze Präsentation der Band-eigenen PPG-Wave-Synthie-Sammlung. 2
1985 benannte sich in Leipzig DIE ZUCHT, dem systemischen Druck nachgebend, in DIE ART um - ich habe seinerzeit auf deren Konzerten so manchen Schweißtropfen vergossen. Warum aber die alten Recken die genauso alten Stücke (darunter Klassiker wie "Chrome" und "Endlos") jetzt nochmal neu einspielen und als "Heimatlied" (Major Label) veröffentlichen mussten, bleibt ihr Geheimnis. Denn wenn Makarios mit 61 die im Rückspiegel eben doch etwas arg aus juvenilem Lebenskummer gespeisten Texte intoniert, wirkt das bei aller (für mich hier aus nostalgischen Gründen gar nicht so passenden) klanglichen und spieltechnischen Perfektion irgendwie unpassend. 3
Weil der Albumtitel "Good Morning Erlenbach" (Tapete) ein Geschenk von Superpunk Carsten Friedrichs ist, habe ich bei MARCEL GEINs CD nochmal genauer hingehört. Ich hätte aber meinem ersten Eindruck vertrauen sollen: das ist leider nur ein nicht notwendiger PeterLicht-Abklatsch. 2
Zum Schluss noch ein (langer) Blick in die Ecke mit den ElektronikNerds: "Macau Peplum" erschien 1999 bei Noise Museum, jetzt wird DENIS FRAJERMANs avantgardistisch-schönes ori-/ambi-ent-Meisterwerk wiederveröffentlicht. Und wieder bleibt das Rätsel, wieso noch keiner diesen Mann nach einem "Made To Measure"-Beitrag gefragt hat. 4
Erst im letzten April gab’s via Klanggalerie ein Dokument der Zusammenarbeit von JAC BERROCAL/VINCENT EPPLAY/DAVID FENECH, schon legen die drei "Exterior Lux" (beide Klanggalerie) nach. In ähnlicher Stimmung wie Frajerman, aber etwas dichter an Jazzstrukturen arbeiten sich die drei mit Trompete und reichlich ElektroTechnik an durchdachten Improvisationen ab. 4
ERIK GRISWOLD entlockt seine "Wallpaper Music IV" einem "bowed piano" – was die orgelhafte DroneTextur des 30Minüters erklärt. Einen 6-Minuten-Extrakt daraus als "Radio edit" anzubieten, zeugt von viel (vergeblichem) Vertrauen in die Innovationsfreudigkeit von Radiosendern. 4
Landsmann und Labelkollege CHRIS ABRAHAMS spielt sein Klavier deutlich konventioneller, verhüllt die beiden jeweils ca. 20minütigen impressionistischen Figuren aber doch mit einem leichten Schleier aus zarter Übersteuerung. Und auch hier gibt’s einen 6-Minuten-"excerpt". Für’s Radio? Das kann doch kein Zufall sein! 4
David Brown aka. CANDLESNUFFER quält auf "Eggs From A Vanished Chest"(alle Room40) intensiv die Saiten, reißt und schabt, kratzt und schlägt – Fred Frith macht sowas auch gern. Diese von elektronischen Verfremdungen durchzogenen Gitarrenimprovisationen erscheinen nur als DL. Und realistischerweise ohne Radio-Edit. 4
Obwohl MATS ERLANDSON "everything else" gespielt hat, suchte er sich Verstärkung an Posaune, Tuba, Geige und Kontrabass, um auf 2 LP-Seiten-langen Stücken schwedische "Minnesmärke" (Hallow Ground) zu erkunden. Drone, Meditation, Konzentration: fordernde KlangTiefenForschung mit einigen Schabereien und Knisterungen. 4
Im Vergleich dazu ist das Cello-schwangere "skins n slime" von OLIVER COATES beinahe zugänglich. Kunstvoll übersteuerter Schmalz und flüsternde Frauen in semi-minimalistischem setting. 4
"Overdriving" scheint gerade ein sehr beliebtes Stilmittel zu sein, denn auch bei "In a Word" (beide RVNG Intl.), #16. der FRKWYS-Reihe, werden IAN WILLIAM CRAIGs zarte KlavierTupfen von DANIEL LENTZ mittels Distortion verwischt. Eine edle Arbeit aus meditativer Schönheit im Sinne eines Harald Budd (danke, liebes Infoblatt!) in feiner Balance von fremdartigen Gesangslinien, avantgardistischem detuning und dekorativem ElektroSchmutz. 4
Als Teil der "Mind Travel Series" erscheint "Like This Maybe Or This" (Ici d’ailleurs), das Ergebnis der Zusammenarbeit von GEINS’T NAÏT + L.PETITGAND. Letzterer scheint dabei für die gelegentlich die entrückten KlangKonstrukte aus Piano, ElektroOrchesterZauber und StimmFetzen durchdringenden Elemente rauen Industrials zuständig zu sein. Einen Extrapunkt für die SuperFotos im artwork! 5
Zurück in die Hoch-Zeiten des collagenhaften Cut-Up-Industrials á la Nurse With Wound versetzt zumindest mich der "Summer Of Seventeen"(Karlrecords) von – na? - genau: SUMMER OF SEVENTEEN. Während im besagten Sommer 2017 die Waldbrände um Seattle wüteten, trafen sich Leute von u.a. Zen Mother, Mamiffer und Split Cranium um aus field-recordings, ElektroKrach und AvantJazzGedanken etwas sehr Aufregendes zu destillieren. Dass hier Noise-vocals im Whitehouse-style auf dramatisch-bedeutsam angeschlagene Akustikgitarren treffen, ist nur eine Facette dieser an selbigen sehr reichen LP. Damit kriegt man ganz sicher auch einen böller-freien Silvesterabend gecrasht! 5
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