Blumfeldinterview. Vorher: Eine perverse Mischung aus Freude und Panik überkommt mich bei der Abklärung des Termins. Lieblingsband und was wird sich ändern, wenn ich Jochen Diestelmeyer persönlich sprechen darf? Bisher habe ich kreischende Teenager auf Popkonzerten nicht wirklich verstanden. Zum Glück erklärt sich mein bester Freund Thomas bereit, diese alles verändernde halbe Stunde gemeinsam mit mir zu erleben. Immerhin, das neue Album „Jenseits von Jedem“ ist beschwingter denn je, und die Stimmung ist trotz drückender Hitze (zumindest auf Seiten der Band) relativ gelöst.
Hat es euch geschmerzt, dass Peter Thiessen ausgestiegen ist?Zum einen war es schon abzusehen mit der Produktionsphase der zweiten Kante- Platte, es war sicherlich für ihn schwierig, das zeit- und aufwandsmäßig zu händeln und vor der Herbsttour 2001 gabs halt so ein Gespräch wo er das auch gesagt hat, dass er nicht mehr genau weiß wie er das so hinkriegen soll. Die Herbsttour haben wir dann quasi als interne Abschiedstour gemacht.
Habt ihr euren Live-Keyboarder Vredeber Albrecht vorher schon gekannt?
Ich hatte über Sampler von Berlin-Tokio ein paar Stücke von seinem Projekt Commercial Breakup kennengelernt. Wir hatten beschlossen, die Platte machen wir zu dritt und proben die Sachen in der Triobesetzung in vertrauter Atmosphäre und nach der Plattenproduktion, als es darum ging, wer spielt jetzt live mit, haben wir uns auf ihn geeinigt.
Warum ist das Angst-Motiv der letzten Platte verschwunden?
Gerade weil es auf der letzten Platte schon thematisiert worden ist. Aber trotzdem, wenn man sich denkt „alles macht weiter“, machen sicherlich auch Ängste weiter, aber die stehen halt bei der Platte nicht im Fokus wie bei der letzten.
Ist das Stück „Alles macht weiter“ von Rolf Dieter Brinkmann inspiriert?
Nee, ist es nicht, ich hab davon gehört, dass es im Internet so Auseinandersetzungen darüber gibt, ob es sich darauf bezieht. Da fiel mir das auch erst auf, aber dass ich das Gedicht mal gelesen hab liegt auch schon 15 Jahre zurück. Auf eine Art habe ich das bestimmt in mich aufgenommen, aber mehr auf so eine Art wie man „We all live in a yellow submarine“ in sich aufgenommen hat. Der Titel dieses Stückes bezieht sich eher auf eine der letzten Zeilen von „Eines Tages“ („Alles macht weiter, die Welt geht nicht unter“, Old Nobody 1999).
Ist der Albumtitel dann auch aus „Eines Tages“ herausgenommen worden („jenseits von Jedem, mit dem Leben im Rückstand“)?
Genau, diese Zeile spielt schon länger eine Rolle. Es gibt so Stellen bei „Eines Tages“ wozu es zum Teil auch Songs gibt. Es gab mal so eine Überlegung von mir, dass man ein Album macht das „Eines Tages“ heißt, die Stücke heißen dann „Im Zentrum des Zweifels“, „Mit einem Fuß in der Wildnis“ etc. Aber das ist dann halt aus irgendwelchen Gründen nicht zustande gekommen, die Stücke tauchten auf eine andere Art auf.
Es erscheint auf „Jenseits von Jedem“ immer wieder das Motiv Gott, sei es in „Sonntag“ der Rückgriff auf Gott, der seine Schöpfung betrachtet oder die letzten Zeilen der Platte. Bringst du einen persönlichen Gottesglauben in diese Stücke ein?
Weiß ich nicht, man kann sich ja auch Gedanken über diese Figur „Gott“ machen ohne an sie zu glauben oder von ihr überzeugt zu sein. Das kann man ja tun, das ist ja eine eingetragene Marke. Die Figur steht ja für etwas, und damit kann man sich ja auseinandersetzen. Weil man glaubt oder nicht dran glaubt, das sei mal jetzt dahin gestellt. Da bin ich mir vielleicht auch gar nicht so sicher.
Warum nimmt diese Platte, die erste nach 11. September und Irakkrieg keinen Bezug mehr auf Weltpolitik sondern eher auf gesellschaftliche Probleme?
Was heißt „mehr“? Beim letzten Album ist ja schon teilweise etwas gesagt worden, was sich später dann auch bewahrheitet hat und was soll man jetzt da noch mehr zu sagen? Es war auch wirklich grotesk zu erleben als „Testament der Angst“ rauskam, hieß es von allen Seiten „Bäh, was soll das denn?“ und zweidrei Monate später , die ganzen folgenden zwei Jahre war es dann wirklich so: Angst vor Europa, der USA und der NATO und ihren Interessen.
Gibt es denn diesmal keinen Angelpunkt?
Konzeptalben, die sich als Konzeptalben so ausstellen, finde ich wenig überzeugend. Dann kann man auch Rockopern machen oder Operetten. „Jenseits von Jedem“ ist ein Album mit Stücken drauf, die in einer bestimmten Reihenfolge angeordnet sind und sicherlich auch etwas miteinander zu tun haben. Ich glaube, dass jedes Album einen Dreh- und Angelpunkt hat und dass man sich selbst trauen muß, zu sagen: das ist jetzt mein Schlüssel, das ist mein Dreh- und Angelpunkt. Ob wir das so gemeint haben ist dann erst mal egal. Das ist alles da drin bzw. da drauf.
Nachher: Thomas und ich haben uns entgegen unserer Pläne, alle Bandmitglieder miteinzubeziehen, fast ausschließlich mit Jochen unterhalten. Ein Gefühl der Erleichterung, gegenseitige Nachfrage, ob es wohl gut war oder nicht. Die Antwort ist auf dem Diktiergerät, das ich drei Wochen in der Schublade liegen lasse. Und jetzt bin ich in der Wirklichkeit. Alles verändert sich? Alles macht weiter.
Foto: Sonja Niemeier