Als Mitglied von Codeine und Come wurde Chris Brokaw in Indierockzirkeln schon vor drei Jahrzehnten zur Legende, als Sideman unterstützte er GG Allin genauso wie Thurston Moore und die Lemonheads. Heute ist der inzwischen 56-jährige Amerikaner als Solist in vielen Genres zu Hause, mit seiner neuen LP ´Puritan´ sorgt er allerdings dafür, dass das Band zur Vergangenheit nicht ganz abreißt.
Chris Brokaw mag sich nicht festlegen. Zuletzt veröffentlichte er ein Instrumentalalbum mit hinreißenden Solo-Coverversionen von Prince und David Bowie (´The Hand That Wrote This Letter´), schuf ein in Richtung Jazz deutendes Ensemblewerk (´The End Of The Night´) und verwandelte während des Lockdowns ´Heaven´ von den Rolling Stones in ein atmosphärisch-hypnotisches 31-Minuten-Monster. Auf ´Puritan´ widmet er sich, noch dazu in klassischer Power-Trio-Besetzung, erstmals seit ´Gambler´s Ecstasy´ aus dem Jahre 2012 wieder Rock-Songs mit Gesang und thematisiert dabei mit einem Hauch von Emo seine Zeit in Seattle, die er selbst rückblickend als „desaströs“ beschreibt. Inzwischen lebt er wieder in seiner alten Heimat Cambridge, Massachusetts, und auch wenn die COVID-19-Pandemie in den vergangenen zwölf Monaten viele seiner Pläne durchkreuzt hat, ist er derzeit doch alles andere als unglücklich.„Der positive Effekt der Pandemie auf rein persönlicher Ebene war, dass ich zu Hause geblieben bin“, gesteht er im Westzeit-Interview. „Ich fasse nicht oft Neujahrsvorsätze, aber letztes Jahr hatte ich ein paar gefasst, und Nummer eins war: Zu-Hause-Bleiben. Ich habe also bekommen, was ich wollte! ´Zu Hause´ ist dieser Tage etwas Schönes für mich!“
Daheim absolvierte Brokaw nicht nur gleich in den frühesten Tagen der Pandemie eine Reihe Online-Konzerte, sondern er gibt auch sein Wissen weiter. Via Skype unterrichtet der Multiinstrumentalist inzwischen praktisch täglich Gitarre, Schlagzeug und Bass und hofft, das auch im Leben nach der Pandemie beizubehalten. Allerdings will er deshalb sein altes Leben nicht vollends hinter sich lassen.
„Wie ich mich kenne, wird irgendwann der Punkt kommen, an dem ich wieder auf Tournee gehen will“, sagt er. „Aber vielleicht wird das etwas anders aussehen als in der Vergangenheit, jetzt, da ich weiß, wie sehr ich das Leben daheim genieße.“
Obwohl sein letztes Rock-Album so lange zurückliegt, war Brokaw nicht in Eile, ´Puritan´ fertigzustellen. Den Grundstein für die neue Platte legte er bereits 2017, kurz nachdem er an die Ostküste zurückgekehrt war. Gemeinsam mit Schlagzeuger Pete Koeplin und später auch mit Bassist Dave Carlson verkroch er sich im Proberaum, zunächst einmal nur, um ein Gefühl für seine Mitstreiter und die neuen Songs zu bekommen, mit denen er seine schwierige Zeit in Seattle verarbeitete.
„Ich hatte es nicht eilig, etwas aufzunehmen oder live zu spielen“, erklärt er. „Irgendwann schien es, als würden wir uns auf ein Album zubewegen, aber wir haben uns der Sache sehr langsam angenähert.“
Gastbeiträge – Tricia Anderson und Claudia Groom übernehmen bei zwei Songs den Gesang – waren genauso erlaubt wie Lieder aus einem anderen Kontext. Ergänzt werden die Trioaufnahmen auf ´Puritan´ deshalb durch zwei Nummern, die gemeinsam mit Thalia Zedek von Come entstanden.
„Die Songs mit Thalia wurden aufgenommen, als wir Ende 2018 zusammen auf Tour waren“, verrät er. „Ich mochte die Idee, sie mit dem Bandmaterial zu kombinieren, es schien in Ordnung zu sein.“
Dennoch hatte Brokaw keine Probleme, die richtige Abfolge der Lieder für das Album zu finden:
„Die Reihenfolge entsteht stets intuitiv. Dieses Mal stehen die Songs am Anfang, bei denen ich das dringendste Bedürfnis hatte, sie den Leuten vorzuspielen. Als ich mich an die Reihenfolge machte, hörte der Sohn meiner Freundin ständig ´Nevermind` von Nirvana und mir fiel auf, wie frontlastig das Album ist. In dieser Hinsicht ist ´Puritan´ mein ´Nevermind´.“
Trotz der persönlichen Färbung der Texte ist Brokaw weit davon entfernt, mit den neuen Liedern schlichtweg sein Tagebuch zu vertonen.
"Meine Lieder sind nicht wie Johnny-Cash-Songs – bei den meisten weiß vermutlich nur ich selbst, wovon sie wirklich handeln“, sagt er. Auch beim Albumtitel entschied er sich letztlich gegen die offensichtlichste Wahl, wie er abschließend verrät:
„Zwischenzeitlich wollte ich die Platte ´The Story Of Seattle´ nennen, weil sich die Lieder mit den Nachwehen meiner Zeit dort beschäftigen. Letztlich symbolisiert der Titel ´Puritan´ nun meine Rückkehr nach New England. Ich schaue vorwärts – nicht zurück!“
Aktuelles Album: Puritan (12XU)
Weitere Infos: chrisbrokaw.com