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DIE ÄRZTE

Ist das noch Punkrock?

DIE ÄRZTE

Die Ärzte sind zurück. Mit ´ZeiDverschwÄndung´ wirft die CD ´auch´ bereits ihre EP-Schatten voraus. Die Beste Band der Welt - so nennen sich Die Ärzte selbst und die Fans nennen sie erst recht so - feiert 2012 ihr 30-jähriges Jubiläum. Alles beginnt 1982, als Sänger und Gitarrist Farin Urlaub gemeinsam mit Schlagzeuger Bela B. und Bassist Sahnie in einem besetzen Haus in Kreuzberg, damals noch West-Berlin, spielten. Nachdem Sahnie 1986 aus der Band fliegt, legen sich Die Ärzte mit Hagen Liebing bis zu ihrer Auflösungspause 1989 einen angestellten Bassisten zu. Als Die Ärzte 1993 ihre Musikgeschäfte wieder aufnehmen, steht der chilenischstämmige Ex-Gitarrist der Rainbirds Rodrigo González als Bassist mit auf der Bühne. Nach drei Jahrzehnten feinstem, augenzwinkerndem Punkrock sind Die Ärzte so locker drauf, dass sie kein Problem haben, ihr Album an einem Freitag den Dreizehnten auf den Markt zu bringen.

Im launigen Gespräch redet Farin Urlaub über Punkrock, den Fluch der Lustigkeit, übers Liederschreiben oder den musikalischen Schlüsselmoment, der ihn zum Musiker machte.

Gleich im ersten Stück der neuen Platte „auch“ stellt ihr die Frage ‚Ist das noch Punkrock?’ Die greife ich gleich einmal auf ...

“... aber wir beantworten sie ganz elegant nicht, eher bieten wir ein deutliches ‚hmm, kann sein, weiß nicht’ an. Das soll ja auch so bleiben, Die Ärzte als Enigma. Ich find’ das gut.”

Den Schalk in euren Stücken habt ihr jahrelang gesäugt, großgezogen und gepflegt ...

“... ja, das schon. Aber er ist bei Die Ärzte nicht mehr das definierende Element. Das haben wir spätestens mit dem letzten Album abgeschüttelt. Jetzt ist er nur noch da, wenn wir ihn da haben wollen. Aber er ist niemals notgedrungen da. Es gab eine Zeit, da war kein Text ohne Scherz. Diese Zeiten aber sind glücklicherweise vorbei. Hätten wir das nicht gestoppt, wären wir dem Fluch der Lustigkeit ausgeliefert gewesen. Das wäre auch nicht schön gewesen, ...”

Wie entstehen eure Lieder im Detail?

“Früher ist jeder von uns mit fertigen Stücken ins Studio gekommen. Den anderen wurde dann gesagt, du machst das und du das und exakt so, wie ich mir das vorstelle. Das war wirklich sogar ganz extrem. Gerade ich war für ausgefallene Demos geradezu berüchtigt, und dann habe ich kompromisslos darauf bestanden, dass das Stück nach meinem Gusto umgesetzt wird. Die Zeiten sind Gott sei Dank vorbei. Jetzt sind Demos nur noch Diskussionsgrundlage. Im Einzelfall kommt es vor, dass alle sagen, das lassen wir so, das ist doch perfekt. Meist ist es aber so, dass noch diskutiert wird - auch schon mal heftiger. Nie jedoch beim Text. Da ist immer einer federführend. Es gibt lediglich ein einziges Kriterium bei der Arbeit an einem Stück, es muss uns allen dreien gefallen. Dann ist es auf der Platte. Da wird nicht irgendwie Marktforschung betrieben. Da wird auch nicht gefragt, bei welcher Taktzahl die meisten Leute tanzen. Wir arbeiten da eher nach dem Motto: ‚einfach mal machen.’”

Gibt es bei euch auch Stücke, die etwa, wie guter Wein, reifen mussten. Stücke, von denen ihr sagt: ‚Das haben wir vor fünf Jahren mal beiseite gelegt, lass uns doch mal schauen, ob damit jetzt etwas geht?’

“Das ist jetzt tatsächlich das allererste Mal in der Bandkarriere vorgekommen, dass ich ein Demo ein zweites Mal angeschleppt habe. ´Cpt. Metal´ist ein Demo von 2000 oder so. Wo ich mich damals gefragt habe, wie können die das ablehnen? Wie können die so eine Perle ignorieren?? Gut, das frage ich mich bei jedem Lied, das die Kollegen ablehnen. Aber bei dem hat es mich wirklich gefuchst. Und als wir dann geprobt haben, um letztes Jahr unter dem Namen Laternen Joe ein paar Konzerte zu spielen, da habe ich ´Cpt. Metal´ noch mal rausgekramt, auf der Akustikgitarre vorgespielt und alle haben gesagt: ‚Ist ja total geil.’ Als ich darauf hinwies, dass die Kollegen dieses Stück vor vielen Jahren schon mal abgelehnt hatten, entgegneten sie: ‚Haben wir? Aber das ist doch wirklich gut.’ Zum Schluss war es dann endlich auf dem Album. Das war aber wirklich das erste Mal, dass ein Stück solch eine Karriere hinter sich hat. Normalerweise ist es so, wenn ein Stück nicht zündet, dann wird gleich und ohne Umschweife das nächste aufgerufen. Wir schrieben schließlich genug. Wir hatten insgesamt 43 Lieder für dieses Album. Aufgenommen haben wir über 20, auf das Album ´auch´ haben es dann 16 geschafft.”

Seid ihr eigentlich auch nach dem vielen Jahren vom Phänomen Die Ärzte noch überrascht?

“Absolut, immer noch. Und immer wieder. Du musst dir die momentane Situation einfach mal vorstellen: es ist noch kein Ton vom neuen Album veröffentlicht, es ist noch kein Plakat geklebt und noch keine Anzeige geschaltet. Wir haben lediglich auf unserer Webseite bekannt gegeben, wir gehen auf wieder Tournee. Kurz danach war fast alles ausverkauft. Ich sage dann nicht, das habe ich erwartet, das ist doch klar, schließlich sind wir Die Ärzte. Ich raufe mir jedes Mal wieder die Haare und sage, das kann doch alles nicht wahr sein. Natürlich ist das ein super Gefühl. Aber doch sei die Frage gestattet: ‚Was ist das? Was wäre beispielsweise, wenn wir ein Scheiß-Album rausbringen würden?’ Ich will jetzt nicht sagen, dass wir eine gewisse Verantwortung haben; denn wir sind ja eine Band, die dafür berühmt ist ihren eigenen Kopf zu haben. Wir haben es ja nie darauf angelegt, Erwartungen zu erfüllen, sondern eher, diese zu unterlaufen.”

Gab es in deiner Kindheit oder Jugend einen musikalischen Schlüsselmoment, der so prägend war, dass du selber Musiker sein wolltest?

“Es gab zwei völlig unterschiedliche. Der erste und wahrscheinlich der wichtigere, auch wenn Bela das furchtbar finden wird, war, als ich mit neun Jahren meine Sympathie für die Gitarre entwickelte. Ich hatte immer schon Volkslieder geträllert und dachte, so eine Begleitung, das wäre doch ganz schön. Dann lauschte ich einer Radiosendung über eine Band, von der ich zu diesem Zeitpunkt noch nie gehört hatte, The Beatles. Und doch kannte ich jedes Lied. Jedes Lied. Ich dachte mir, das kann doch nicht wahr sein. Ich bin dann zu meiner Mutter gegangen und habe ihr das Erlebnis erzählt. Meine Mutter lachte und sagte: ‚Was glaubst du denn, was du die ersten vier Jahre deines Lebens ausschließlich gehört hast?’ Danach war ich der größte Beatles-Fan und habe angefangen Gitarre zu spielen. Bis 1976/77 hatte ich das Gefühl, dass der Unterschied zwischen den Musikern, die Platten veröffentlichen und mir so groß ist, dass ich mir ein Musikerdasein abschminken konnte. Ich konnte vielleicht zur eigenen Belustigung Gitarre spielen. Aber es reichte keinesfalls, um dies vor Publikum zu tun. Dafür war ich viel zu schlecht. Und dann kam die Punkrock-Revolution. Ich bin nicht sofort Punker geworden, aber als ich Punkmusik gehört habe, wusste ich sofort, das kann ich auch. Das war die Initialzündung. Danach stellten sich nur zwei Fragen. Hast du was zu sagen und hast du eine gute Melodie. Mit beidem konnte ich dienen. Und das bis heute.”

Beim Hören des Albums ´auch´ geistert sofort das Wort Potpourri durch Hirn. Musikalisch ist das Album sehr breit angelegt. ´Aus jedem Dorf ein Köter´, wie es Farin Urlaub selber keck formuliert, oder auch ´DiskoMetalAvantgardePrimitivPunkPopElek-troBeat.´ Trotz der angekündigten Vielfalt sind die Lieder diesmal wieder wesentlich gitarrenlastiger. Eine Klavierballade etwa ist nicht dabei. Aber auch ein Brachialknaller, wie ´Junge´ vom 2007er-Album ´Jazz ist anders´ fehlt diesmal. Die Stücke zünden nicht sofort und brauchen eine Weile, um Fahrt aufzunehmen. Dafür hat jedes einzelne Stück großes Entdeckungspotential. ´auch´ ist auf jeden Fall eine Platte, in die man sich einhören muss. Eins ist und bleibt jedoch so wie eh und je: zusammengehalten wird die Musik, so vielfältig sie im Einzelfall auch sein mag, immer durch den grandiosen Die Ärzte-Charme. Diesmal wird ihm allerdings deutlich mehr Leistung abverlangt, als bei der Vorgänger-CD.

Aktuelles Album: auch (Hot Action Records / Universal)

Foto: Jörg Steinmetz

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