Die sechs Kanadier von Hey Rosetta! sind über die letzten Jahre zu Straßenkindern mutiert. Sie haben länger im Tourbus gesessen, als sie die heimischen Wände in St. John's, in der Provinz Neufundland und Labrador sehen durften. Sie scheuen sich nicht, für lediglich zwei Konzerte nach Deutschland zu kommen. So verwundert es nicht, dass sich das Unterwegssein auch in die Lieder der Truppe gefressen hat. „Das kann ja gar nicht ausbleiben, wenn du jetzt schon über fünf Jahre im Tourbus zusammenhockst, abends auf der Bühne stehst und dann irgendwo auf fremden Sofas schläfst“, erzählt Sänger und Komponist Tim Baker, „das greift einfach massiv in dein Leben ein.“
Vom Winde verwehtEin Lied, welches das vagabundierende Leben zum Thema hat, trägt -wie das gesamte zweite Album- den Titel „Seeds“ Darin wird die Geschichte von Samenkörnern erzählt, die vom Wind in alle Himmelsrichtungen getragen werden.
„Das Samenkorn ist einerseits das Symbol dafür, das etwas Neues heranreift, etwa ein Stück“, erklärt Sänger und Komponist Tim Baker. „andererseits symbolisiert die Reise, auf die es durch den Wind, geht, unser ständiges Leben im Tourbus. Die durch das Reisen provozierten Lieder sind zunächst nur Bruchstücke, Entwürfe oder Umrisse. Eine endgültige Klarheit kann ein Stück auf Gastspielreisen nicht erhalten. Zu schnell überlagern die nächsten Erlebnisse das vorhergehende.”
So füllt sich Seite um Seite des Skizzenbuches und prall liegt es dann auf dem heimischen Tisch von Tim Baker. Diese Kurzaufenthalte nutzt er dann zum Ausformulieren.
„Das aber funktioniert nur in der Isolation“, stellt er klar, „ich brauche die Einsamkeit, um aus ihr die Signale zu erhalten, die ich brauche, um aus den Bergen von Melodiefetzen und Wortsplittern schlüssige Lieder zu machen. Das ist zunächst Reduktion angesagt; denn erstmal muss alles weg, was dem Stück nicht dienlich ist.“
Im Dialog mit den Liedern
Wenn Tim Baker dann mit Piano oder in letzter Zeit immer mehr mit der Gitarre an den Stücken sitzt, tritt er in einen Dialog mit ihnen.
„Wenn du das Stück von dem ganzen unnötigen Ballast befreit hast, stellt es dann seine Ansprüche“, beschreibt er den Entstehungszusammenhang, „so weiß das Lied sehr genau, wann es Streicher braucht oder Bläser oder einfach mal nur eine Mandoline, wann es pur und im akustischen Gewand bleiben muss oder üppig wachsen darf.“
Ist all das geklärt und die Stücke in ihrer Entwicklung an dem Punkt angelangt sind, dass Tim Baker rundherum stolz auf das Lied ist, dann geht es damit in den Proberaum. Dort verändern sie sich noch einmal und dann kommt der Bühnentest.
„Das Stück ‚Young Glass’ würde nicht so klingen, wie auf dem Album, hätten wir es nicht unzählige Male dem Bühnenfeuer ausgesetzt“, lacht Tim Baker, „und dann gab es im Studio noch den Produzenten Tony Doogan; der auch noch Veränderungen vorgenommen hat. Dabei hat er immer gesagt, wir sollten ihm und seinen Ratschlägen einfach nur vertrauen.“
Einem, der seine Finger bei Belle and Sebastian, The Delgados oder Mogwai im Spiel hatte, dem darf man wohl auch vertrauen. Band und Produzent haben es gemeinsam geschafft, dass hier Garagenrock höchster Güte erklingt. Die Rohheit dieses Klangs wird einerseits bewahrt, darf aber auch ihre zarte Seite in Form von leichten Pianoläufen, die von einer Flöte konterkariert werden, zeigen. Und dann im nächsten Moment die Hardrock-Seite raushängen zu lassen. Das Stück ´Parson Brown´ ist ein wunderbares Beispiel dafür. Zusätzlich ist es noch durch dem bei den Inuit entlehnten kehligen Gesang und Streichern mit Dramatik und Emotion in besonderer Weise aufgeladen. Spätestens hier wird deutlich, dass Hey Rosetta! Sich nicht an einem Klang festbeißen. Sie trauen sich etwas und frönen der Vielfalt. Wohlgemerkt der Vielfalt und keineswegs der Beliebigkeit.
Und wie mit Samen, der in die Erde gelegt wird und erst nach einiger Zeit wächst und gedeiht, so ist es auch mit den Stücken von Hey Rosetta! Sie brauchen Zeit, um sich zu entfalten. Lässt der geneigte Zuhörer ihnen diese Zeit, so darf er sich auf wunderbar gereifte Stücke voller Energie, Emotion und Kraft freuen. Hey Rosetta! kreieren im Endeffekt Lieder, an denen man sich, hat man erst einmal entdeckt, nicht mehr satt hören kann.
Aktuelles Album: Seeds (Unter Schafen Records / Al!ve)
Foto: Vanessa Heins-Horiz