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CASSANDRA JENKINS

Die neugierige Beobachterin

CASSANDRA JENKINS

Von wundersam zu wunderbar: Drei Jahre nach ihrem atemberaubend intimen Meisterwerk ´An Overview On Phenomenal Nature´ gelingt es der New Yorker Ausnahmekünstlerin Cassandra Jenkins auf dem beeindruckenden Nachfolger ´My Light, My Destroyer´ mühelos, ihre natürliche Neugier in betont eklektische Songs zu übersetzen, die eigenwillig und anmutig zugleich sind. Zwischen naturbelassenem Indierock, subtilem Kammerfolk, verschwommenem New Age, feingeistigem Pop mit elektronischer Färbung und kosmischen Jazz-Verweisen findet sie dabei mit großer Selbstverständlichkeit neue Facetten für ihr Tun und lässt so ihr Faible für scharfsinniges Storytelling voller Empathie und mit humorvollen Untertönen hell wie nie zuvor erstrahlen. Im November ist sie bei Konzerten in Hamburg und Berlin endlich auch wieder live in Deutschland zu erleben.

"Ambient-Folk aus flüssigem Gold" – treffender als die Kollegen von Byte FM konnte man den hingetupften Sound kaum beschreiben, mit dem Cassandra Jenkins auf ihrer im Frühjahr 2021 erschienenen Glanztat ´An Overview On Phenomenal Nature´ verzauberte. Auf ihrer zweiten LP entführte uns die amerikanische Singer/Songwriterin damals in die Welt ihrer Erfahrungen und intimsten Gedanken. Dabei übertrug sie ihre herzzerreißenden, bisweilen wehmütig anmutenden Geschichten, die persönliche Tragödien widerspiegeln und vom Wirrwarr unserer Zeit inspiriert waren, klanglich aber nicht in Chaos und Lautstärke, sondern schaffte mit leisen Tönen und sanfter Schönheit das perfekte Ambiente zum Nachdenken und Fallenlassen.

Auf ´My Light, My Destroyer´, dem nun erscheinenden Nachfolge-Album, bedient sich Jenkins der gleichen Tugenden, wenngleich die neue LP unter völlig anderen Vorzeichen entstand. ´An Overview On Phenomenal Nature´ war in Töne gegossene Trauerarbeit, ein musikalischer Nachruf auf die Songwriter-Lichtgestalt David Berman, in dessen Purple-Mountains-Tourband Jenkins hätte spielen sollen, bevor sein plötzlicher Selbstmord nur wenige Tage vor dem geplanten Start der Gastspielreise im Sommer 2019 alles auf den Kopf stellte. Der unerwartete Erfolg des beim winzigen New Yorker Connaisseur-Label Ba Da Bing veröffentlichten Albums machte den Weg frei für eine Zusammenarbeit mit der ungleich potenteren Indie-Plattenfirma Dead Oceans, die in der Vergangenheit schon Phoebe Bridgers, Khruangbin oder Kevin Morby den Weg zu höheren Zielen geebnet hatte. Anders gesagt: Während ´An Overview On Phenomenal Nature´ eine Platte war, die Jenkins machen musste, um ihre traumatischen Erlebnisse zu verarbeiten ("Ich habe das kanalisiert, was ich in diesem Moment wusste – ich fühlte mich verloren", beschreibt sie ihre damalige Gefühlslage im Waschzettel zur neuen LP), hatte sie dieses Mal nicht nur mehr Freiheiten, sondern auch gleich noch einen Vorschuss des Labels zur Verfügung, um ihre Ideen in verführerischen Songs festzuhalten, die sie so fantasievoll ausstaffieren konnte, wie ihr das vorschwebte.

"Das ist eine Erfahrung, die ich noch nie gemacht hatte", gesteht sie, als wir sie im Berliner Büro ihres Labels zum Interview treffen. "Nie zuvor hatte ich ein Blatt Papier unterschrieben, das besagt, dass ich nun, aus vertraglicher Sicht gesehen, ein 'recording artist' bin. Ich bin 40 Jahre alt, und zum ersten Mal in meinem Leben hatte ich das Gefühl: Oh, wow, vielleicht habe ich wirklich eine Art Fünf-Jahres-Plan!"

Unter die Freude über die neuen Möglichkeiten mischte sich aber auch sofort die Erkenntnis, dass sie sich damit auch eine bisher ungekannte Verantwortung aufgeladen hatte.

"Mir war bewusst, dass damit ein gewisser Druck einhergeht, und den habe ich erst einmal versucht beiseite zu schieben", erinnert sie sich. "Ich versuchte mir einzureden, dass ich den Druck nicht spüre und dass alles prima ist. Mir aber letztlich einzugestehen, dass ein gewisses Maß an Druck vorhanden ist, dass es notwendig ist, zu wachsen, und anzuerkennen, wo ich in meinem Leben stehe, fühlte sich wirklich wichtig an. Es gibt eine Menge Introspektion auf der Platte, in Bezug auf die Entscheidungen, die ich treffe, und wie absurd sie sich manchmal anfühlen."

Doch auch wenn die Erfahrung, Künstlerin "mit Brief und Siegel" zu sein, für sie neu ist: Geboren und aufgewachsen im Herzen von Manhattan, wurde Jenkins die Musik genauso wie ihren ebenfalls künstlerisch aktiven Geschwistern Stephanie und Reid praktisch in die Wiege gelegt. Ihr Vater Richard war Zeit seines Lebens Musiker, und als er das Interesse seiner Tochter für die Musik bemerkte, sorgte er dafür, dass sie von Kindesbeinen an von geistreichen Klängen umgeben war. Im Gespräch mit dem britischen Rough Trade Blog erinnerte sich Jenkins kürzlich, dass die beiden ersten Platten, die ihr Vater ihr gab, ´Kind Of Blue´ von Miles Davis und ´Blue´ von Joni Mitchell gewesen sind:

"Ich finde es toll, dass er mir zwei klassische Alben mit der Farbe Blau gegeben hat. Ich habe eine sehr persönliche Beziehung zu diesen Platten, weil ich einen Jazz-Vater habe. Ich glaube, viele meiner Freunde haben Steely-Dan-Väter, aber ich habe einen Jazz-Vater, und das hat sich auf mich übertragen."

Wie das klingt, kann man auf ´My Light, My Destroyer´ hören, wenn Jenkins ganz im Geiste der altgedienten Freigeister enge Genregrenzen für nichtig erklärt und für ihre neuen Songs bei unbeschwerten Laurel-Canyon-Vibes, ohrwurmigem Indie-Pop, luftigem Dream-Pop, unwirklichem Ambient-Flair, bodenständigen Americana-Klängen und dezenten Schlenkern zum Jazz-Saxofon fündig wird und mit atmosphärischen Field Recordings und stimmungsvollen Spoken-Word-Passagen auch die eigene Note nicht vergisst. Ihr Vater prägte Jenkins aber nicht nur musikalisch. Auch die Tatsache, dass sie die Fallstricke der modernen Musikindustrie mit beeindruckender Gelassenheit umkurvt und ihr Hauptaugenmerk mit einer heutzutage selten gewordenen Selbstverständlichkeit auf die Musik und nicht auf unentwegte Selbstdarstellung und Promotion der eigenen Sache legt, lässt sich auf seinen Einfluss zurückführen. Jenkins erinnert sich:

"Als wir klein waren, hat er uns zusammengerufen und gesagt: 'Also, die Sache mit der 'Musikindustrie' – er hat das immer in virtuelle Anführungszeichen gesetzt – ist die…' Deshalb bin ich mir schon von klein auf dieses mysteriösen Musikgeschäfts bewusst, von dem er ständig sprach. Ich habe das zunächst mit einem 'Ja, Dad, was auch immer!' abgetan, aber heute denke ich, dass er mich um jeden Preis vor einigen der Erfahrungen beschützen wollte, die er selbst gemacht hat. Seit ich klein war, wurde mir klipp und klar gesagt: Mach die Musik nicht zu deinem Lebensunterhalt, damit tötest du das, was du am meisten liebst. Ich denke, es ging ihm darum, die Musik selbst zu beschützen. Das zu begreifen, klingt furchtbar klug für ein junges Kind, aber vielleicht ist das der Grund, dass ich stets versucht habe, mich da rauszuhalten. Jetzt werde ich tiefer denn je hineingezogen, in dem Wissen, dass alles irgendwann einfach implodieren könnte. Aber selbst, wenn die Musikindustrie morgen aufhört zu existieren, wird sich das nicht auf meine Beziehung zur Musik auswirken."

Vielleicht auch deshalb sah Jenkins keinen Grund, sich für ´My Light, My Destroyer´ klanglich zu beschränken, und so ist der Weg von hemdsärmeligem Americana-Charme zu der Uferlosigkeit moderner Klangwelten nie weit. Ganz offensichtlich hat sie dabei die Bedürfnisse der individuellen Songs über das Gesamtkonzept des Albums gestellt. "Ich gehe ein Album praktisch nie mit einem Konzept an, weil mich das sehr schnell langweilt", verrät sie.

"Ich bewundere Leute, die auf diese Art und Weise arbeiten und von diesem Standpunkt aus ein Album erschaffen, aber ich kann das nicht. Ich baue es nach und nach auf, und die Songs zeigen mir, was der nächste Schritt ist. Jeder weitere Schritt enthüllt sich sozusagen auf dem Weg. Man kann also auf jeden Fall sagen, dass ich mich vor allem auf die Songs konzentriert habe. Ich denke, jeder Song ist seine eigene kleine Lektion und sein eigener Ausdruck einer Idee und ein Ausdruck der Dinge, die ich liebe. Am Ende ist so eine Sammlung von Ausreißern zusammengekommen."

Die Referenzen, die sie bei den Aufnahmen abgesehen vom allgegenwärtigen David Berman im Kopf hatte, reichen von Tom Petty über Annie Lennox und Neil Young bis hin zu David Bowies finalem Album ´Blackstar´, gleichzeitig hinterließen aber auch die Heroen ihrer Highschool-Zeit (Radiohead, The Breeders, PJ Harvey und Pavement) und Schriftstellerinnen wie Anne Carson, Maggie Nelson und Rebecca Solnit Spuren in den neuen Liedern.

Statt eines uniformen Sounds sind es deshalb eher unterschwellige Muster und Jenkins' unverwechselbar sonore und doch betont ruhige Stimme, die dem Album einen Rahmen geben.

"Positiv ausgedrückt kann man sagen, dass die Platte eklektisch und auf gewisse Weise vielfältig ist", sagt Jenkins, bevor sie lachend hinzufügt: "Man könnte aber auch sagen, dass sie unausgewogen ist, je nachdem, wie man sie einordnen möchte. Ich denke, auf dieser Platte habe ich die Tatsache verinnerlicht, dass ich ein echter Schwamm bin, der ganz viele verschiedene Eindrücke in sich aufsaugt. Ich verarbeite damit, was ich in den letzten zwei Jahren erlebt habe, denn dadurch, dass ich plötzlich weltweit getourt bin und bei Musikfestivals aufgetreten bin, habe ich unglaublich viel neue Musik kennengelernt. Zuvor hatte ich nur die kleine Welt um mich herum gesehen, und auch wenn das wie ein Widerspruch klingt, wenn man wie ich aus New York stammt, ist es doch nur ein kleiner Ausschnitt der Welt mit einem sehr begrenzten Blickwinkel auf das, was musikalischer Ausdruck sein kann. Die Songs sollten diese neuen Erfahrungen genauso widerspiegeln wie das, was ich in New York erlebt habe, nämlich jeden Abend zu Konzerten zu gehen und manchmal in nur einer Nacht eine Ambient-Show und den Solo-Jazz-Auftritt eines Freundes zu sehen. Ich habe auf viele Dinge reagiert und sie sind alle durch denselben Filter – mich! – gelaufen, und deshalb ist genau das die verbindende Kraft. Dabei war ich überrascht, wie sehr eine Stimme für Zusammenhalt sorgen kann, und das habe ich mir zunutze gemacht."

Anders als beim mit einer ganz kleinen Gruppe von Mitstreitern eingespielten Vorgänger tauchen auf dem neuen Album viele alte und neue Bekannte aus Jenkins' Umfeld als Kollaborateure auf. Unterstützung fand sie bei Co-Produzent Andrew Lappin (L'Rain, Slauson Malone 1) ebenso wie bei Hand Habits' Meg Duffy, Katie Von Schleicher, Zoë Brecher (Hushpuppy), Daniel McDowell von Amen Dunes, Josh Kaufman (der ´An Overview On Phenomenal Nature´ produziert hatte) und die für ihre Zusammenarbeit mit Hayley Williams und Bartees Strange bekannte Stephanie Marziano. Auch Jenkins' langjähriger Live-Schlagzeuger Noah Hecht ist dabei, und mit Adam Brisbin und Ian Davis kehrten bei den Aufnahmen auch zwei Musiker zurück, die 2017 bereits auf dem Jenkins-Debütalbum ´Play Till You Win´ gespielt hatten. Sogar einige Familienmitglieder fanden ihren Weg auf "My Light, My Destroyer". Jenkins' Mutter Sandra ist die verbale Sparringspartnerin für ein herrlich beiläufig anmutendes Gespräch in ´Betelgeuse´, ihr Bruder Reid half bei den Streicherarrangements und spielte Geige beim leisen Instrumental-Ausklang ´Hayley´ sowie beim heimlichen Highlight ´Aurora, IL´, mit dem die quälende Einsamkeit eingefangen wird, die man spürt, wenn man während einer laufenden Tournee nach einer COVID-Infektion in einem Hotelzimmer in der titelgebenden Stadt im Mittelwesten in die Selbstisolation gezwungen wird.

Derweil hat Jenkins die Texte der neuen Lieder bereits als "destillierte Versionen verschiedener Geschichten und Erfahrungen" beschrieben. Inhaltlich, das lassen bereits die Gegensätze von "Licht" und "Zerstörung" im Albumtitel vermuten, widmet sie sich nicht zuletzt dem Konzept zyklischer Dualität, das mehrfach anklingt. Dass die Platte im Morgengrauen beginnt und endet – Sinnbild für die Hoffnung auf einen Neubeginn und gleichzeitig die Erinnerung an die harsche Realität, die im Licht zum Vorschein kommt – mag man da kaum für Zufall halten.

"An der Idee der Dualität gefällt mir, dass es sich nie um vollkommene Gegensätze handelt", sagt sie. "Es ist immer auch eine Verknüpfung vorhanden, sodass man ihre innewohnende Verbindung ebenso anerkennt wie ihre Unterschiede. Das klingt zugegebenermaßen ziemlich abstrakt, aber für mich bedeutet das, zu versuchen, in die Rolle der neugierigen Beobachterin zu schlüpfen."

Bisweilen nutzt sie das Schreiben aber auch dazu, sich ihre eigenen Unzulänglichkeiten bewusst zu machen, so wie sie das in ´Tape And Tissue´ tut.

"Ich denke, dass mir das Songwriting dabei hilft, zu erkennen, wenn ich nicht ehrlich zu mir selbst bin, und das sieht man überall auf dem Album", sagt sie. "Manchmal hatte ich Zeilen, die sich anfühlten wie das, was ich sagen wollte oder wer ich sein wollte, aber dann musste ich mir eingestehen, dass das nicht aufrichtig war.”

Gleich mehrfach gibt es auch Anknüpfungspunkte an die Vergangenheit, wenn Jenkins bewusst auf Wörter und Formulierungen zurückgreift, die in früheren Songs bereits eine Rolle gespielt hatten, oder Story-Fäden vorangegangener Platten wieder aufnimmt. Ein Stück weit geschieht das mit Absicht, bisweilen ist es aber auch lediglich Resultat ihres Ansatzes, den Songs ihren Willen zu lassen.

"Ich denke, dass es bestimmte Ideen gibt, mit denen man einfach noch nicht fertig ist", sagt sie. "Sie bleiben bei dir und gewinnen im Laufe deines Lebens immer wieder neue Bedeutungen."

In ´Clams Casino´ spinnt sie deshalb die Geschichte des navyblauen Anzugs aus dem ´An Overview On Phenomenal Nature´-Highlight ´Ambiguous Norway´ weiter, den sie ursprünglich auf der Tournee mit David Berman hätte tragen wollen und der ihr letztlich als Outfit ihrer eigenen Tournee diente, bis sie ihn bei einem der letzten Auftritte ihrer Gastspielreise in San Francisco bei einem Sturz ruinierte, und im gleichen Song führt sie die Zeile "No one's home in a hotel bar" zurück zu ´Hotel Lullaby´ von ihrem LP-Erstling.

"Ich habe das geschrieben, bevor ich so viel getourt habe wie jetzt", gesteht sie. "Das ist mein jüngeres Ich: 'Du dachtest, du wärst eine tourende Musikerin? Das war doch Kinderkram!' Das ist irgendwie lustig. Gleichzeitig erkenne ich damit auch die Tatsache an, dass ich das hier schon sehr lange mache. Es ist eine Wahl, die ich wieder und wieder treffe. Manchmal fühlt sie sich wie ein Fehler an – das ist doch keine Art, sein Leben zu leben! – und das ist etwas, mit dem ich mich auseinandersetzen muss."

Trotz vieler Zweifel hat sich Jenkins stets für die Musik entschieden, vielleicht auch, weil ihr bewusst ist, dass ganz im Sinne der dualistischen Betrachtungsweise der Unterschied zwischen gut und schlecht oft gar nicht so gravierend ist, wie es im ersten Moment scheint, oder wie sie es selbst abschließend ausdrückt:

"Manchmal bist du in einem Hotelzimmer, das jeden an seinen Lebensentscheidungen zweifeln lassen würde, aber manchmal musst du dann einfach nur die Tür öffnen und nach draußen gehen, und schon geht es dir wieder gut!"

Aktuelles Album: My Light, My Destroyer (Dead Oceans / Cargo) VÖ 12.07.


Weitere Infos: cassandrajenkins.com Foto: Pooneh Ghana

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