Wenn es eine Konstante in der langen musikalischen Laufbahn der isländischen Songwriterin Emiliana Torrini gibt, dann eigentlich nur die, dass es da keine Art von Vorhersehbarkeit im Tun gibt. Mit wirklich jedem neuen Projekt betritt Emiliana Neuland und zeigt sich dabei als eine der kreativsten, neugierigsten, experimentierfreudigste und somit unberechenbarsten Vertreterinnen ihrer Zunft. Ihre Laufbahn begann Emiliana zunächst mit dem Einspielen von Coverversionen und schloss sich 1997 der Band Gus Gus an. Seither zeigte sie sich stets offen für Kollaborationen – etwa als Songwriterin oder/und Sängerin für The Thievery Corporation oder Kylie Minogue, Paul Oakenfold, Kid Koala oder zuletzt dem belgischen Colorist Orchestra, mit dem sie bereits mehrfach zusammen arbeitete. Ihre Karriere als Solo-Künstlerin verlief sozusagen parallel dazu: Ihr internationales Debüt-Album „Love In The Time Of Science“ bot von Roland Orzabal stilvoll produzierten Art-Pop, das Folgealbum „Fisherman's Woman“ zeigte Emiliana im Folk-Modus, ihr Durchbruchsalbum „Me And Armini“ enthielt ihren größten Hit, den Indie-Pop-Song „Jungle Drum“ und auf „Tookah“ - ihrem bisher letztes Album unter eigenem Namen von 2013 – experimentierte sie mit Produzent Dan Carey zugleich mit Electronica, Art-Pop und Club-Elementen in einem ansonsten organischen Umfeld. Mit dem nun vorliegenden Album „Miss Flower“ fasst sie verschiedenste musikalische Inspirationen in einem elektronischen Umfeld auf eher experimentelle Weise zusammen. Und das betrifft nur die musikalischen Aspekte ihres Tuns.
Die Frage, die sich als erstes aufdrängt, ist die warum über 10 Jahre zwischen Emiliana's letzten Arbeiten als Solo-Künstlerin liegen?„Na ja – ich hatte halt Babies“, erklärt Emiliana, „und ich denke, wenn man ein Solo-Album macht, dann wird das zu einem weiteren Baby. Zwei echte waren da erst mal genug. Und als Musiker wird man ja auch zu einer Art Fischer – man ist ständig von zu Hause weg. Ich hatte nun halt das Glück, dass ich eine Weile zu Hause bleiben konnte. Ich konnte ja gelegentlich durchaus schon noch etwas arbeiten – aber ich war freier als zuvor und konnte auf die entsprechenden Gelegenheiten warten, die sich ergaben."
Eine Auszeit zu nehmen, bedeutet ja auch, dass man sich den üblichen Routinen seines Jobs entziehen kann. Emiliana sagte ja ein Mal, dass sie sich zuletzt auf der Bühne manchmal gefühlt habe, als wasche sie ihre Wäsche. „Ja, es gab da ja auch noch das Bedürfnis, mich weiterzuentwickeln“, fügt Emiliana hinzu, „um das tun zu können, muss man sich aus seiner Komfort-Zone herausbewegen. Beispielsweise, wie ich es dann mit dem Colorist Orchestra getan habe."
Wie spielte denn die Pandemie da mit hinein? War das dann eher Fluch oder Chance?
„Ich bin einfach zu Hause geblieben“, berichtet Emiliana, „ich lebe jetzt wieder in Island – und wir hatten dort ja eine etwas andere Erfahrung mit der Pandemie. Was die Arbeit betraf, so war das ja nicht so toll – ein bisschen wie ein Armageddon. Ich hatte aber alles in allem eine vergleichsweise gute Zeit, denn ich mag es, auch mal für mich sein zu können."
Der Hintergrund der Frage nach dem Einfluss der Pandemie ist der, dass Emilia ihr neues Projekt nicht wie üblich – basierend auf ihren Song-Ideen – anging, sondern sozusagen mit Fremdmaterial arbeitete. Nach dem Tod der Mutter ihrer besten Freundin Zoe fand sie auf deren Speicher in London eine Kiste mit an diese gerichteten Liebesbriefen unterschiedlichster Adressaten. Der Name der Mutter war Geraldine Flower – und Emilia kam auf die Idee, das Leben dieser Frau – der Titel-gebenden „Miss Flower“ - anhand von Anekdoten aus eben diesen Liebesbriefen dann in Form einer musikalischen Collage zu würdigen. Zusammen mit ihrer Freundin - die zufällig die Ehefrau von Emilia's Songwriting-Partners Simon Byrt ist, der schließlich auch an dem Projekt beteiligt wurde - machte sich das Trio dann daran im Heimstudio über einen mehrjährigen Prozess von den Details der Briefe inspirierte Songs zu generieren.
„Ich weiß gar nicht, ob das mit der Pandemie zusammenhing – was aber durchaus möglich ist. Es ist ja aber andererseits auch recht schwierig, ständig in Konzepten über sich selbst zu denken, wenn man Songs schreibt. Mit zunehmendem Alter interessiert man sich ja auch immer weniger für sich selbst. Wenn man 20 ist, dann geht es ja einzig um Dich selbst. Wenn man 30 ist, dann sollte man sich auch für andere interessieren und wenn man 40 ist dann spielen solche Überlegungen gar keine Rolle mehr. Deswegen finde ich es wunderbar, auch mal über andere schreiben zu können."
Wie lief denn die Sache chronologisch ab?
„Nun wir fanden die Briefe und Zoe hat mir dann einen Brief gereicht und gesagt: 'Du musst diesen Brief lesen'. Dieser war an 'Miss Flower' gerichtet und ich dachte mir: Das ist wirklich unglaublich. Ich habe Zoe dann vorgeschlagen, zusammen mit Simon Byrt, ihrem Ehemann, einen Song aus diesem Brief zu machen, damit sie sich ein wenig besser fühlen sollte, denn Geraldine war gerade verstorben und alles war noch sehr rau. Sie meinte dann, dass das eine schöne Idee sei – und so kam der Stein ins Rollen.“
Woran liegt es denn, dass die Stücke dieses Mal weitestgehend mit elektronischen Mitteln realisiert wurden?
„Weil ich die Texte dieses Mal zuerst geschrieben hatte – was für mich ganz neu war – entstand die Musik ganz organisch, hauptsächlich aus Experimenten heraus. Wir sind jeden Tag ins Studio gegangen und haben nach der Regel eines Clowns gearbeitet – also etwas genommen – einen Sound von meinem Keyboard etwa - und damit herumgealbert, bis ich dann zum Beispiel sagte: 'Wartet mal – daraus könnte doch eine Melodie werden'. Es war dann mehr wie ein Spiel als Arbeit. Es war sogar weniger als Arbeit. Und dann ging es darum, zu improvisieren.“
Das trifft sicherlich für die meisten Tracks zu – denen die lockere, konzeptfreie Arbeitsweise deutlich anzuhören ist. Auf der anderen Seite gibt es aber auch andere Arten von Tracks wie z.B. „Black Lion Lane“ - einen perfekt strukturierten Indie-Pop-Song.
„Das liegt daran, dass 'Black Lion Lane' keinen der Briefe zur Grundlage hatte“, räumt Emiliana ein, „wir hatten uns einen Zeitraum von zwei Wochen gesetzt, in denen ich die Songs einsingen sollte. Ich hatte aber das Gefühl, dass die Scheibe noch gar nicht fertig sei und war deswegen verzweifelt, weil wir noch gar nicht die Stimme von Geraldine selbst gehört hatten, denn wir hatten keine Briefe von ihr. Deswegen habe ich diesen Song ganz normal geschrieben – über Geraldine als junge Frau in den 60's in der 'Black Lion Lane' – einer Straße in der Gegend. Das entstand dann wie ein Film vor meinem geistigen Auge. Für mich ist das Ganze wie ein Soundtrack für diesen Film.“ Das erklärt dann auch, dass dieser Song vollkommen unterschiedlich zu den anderen Tracks ist. Vorausgesetzt, Emiliana entscheidet sich dazu, diesen Song als Single auszukoppeln hätte der die Chance zu ihrem neuen „Jungle Drum“ zu werden.
Das letzte Stück auf der Scheibe - „Golden Thread“ - kommt in der Form einer klassischen Piano-Ballade mit Dreampop-Flair daher und gehört somit zu den weniger experimentelleren Tracks der Scheibe. Seltsamerweise wendet sich ein Typ namens Reggie in dem Song aber nicht an Miss Flower oder Geraldine, sondern an eine Marylin. Was hat es denn damit auf sich?
„Das ist eine komplizierte Geschichte“, holt Emiliana aus, „als dieser Typ Reggie Geraldine aus Australien schrieb, dass er sie heiraten wolle – wie so viele in den Briefen, die wir gefunden haben – nahm sie das als Zeichen, dass er sie vielleicht gar nicht liebe. Das hing mit dem freigeistigen Charakter Geraldines zusammen. Sie reist schließlich nach Australien und trifft dort diesen Mann um ihn zur Rede zu stellen. Er war ein sehr interessanter und schöner Schriftsteller. Aber er war auch sehr erratisch, obsessiv und gewalttätig – und letztlich ließ sie ihn dann am Altar stehen. Reggie war derjenige von Geraldine's Charakteren, mit dem sie am längsten liiert war. Er schrieb ihr immer wieder Briefe, um sie eifersüchtig zu machen. Beispielsweise schrieb er ihr von einer Affäre mit einer 'Lady K.' - wobei sich dann herausstellte, dass es sich dabei um ein Boot handelte. Als er dann schließlich eine andere Frau fand schrieb Reggie Geraldine einen Brief, in dem er davon berichtet, dass er im Leben weitergekommen sei und jemanden anderen getroffen habe, aber immer noch an sie – Miss Flower - denke, wenn er mit dieser Frau – Marilyn – zusammen sei. Das tat mir dann richtig leid für Marilyn."
Zweifelsohne entfernt sich Emiliana Torrini mit dem „Miss Flower“-Projekt weiter als jemals zuvor von ihren üblichen Arbeitsweisen – schon gar, indem sie sie bereit ist, ihr Ego hintanzustellen und sich in die Welt einer anderen Person hineinzuversetzen. Das führte dann vielleicht nicht zum persönlichsten Album ihrer bisherigen Laufbahn – aber sicherlich zu jenem, auf dem sie sich am eindrucksvollsten als Geschichtenerzählerin präsentiert.
Aktuelles Album: Miss Flower (Grönland / Rough Trade)
Weitere Infos: https://emilianatorrini.com/ Foto: Dean Rogers