Vertraut, und doch anders: Für ihr beeindruckend ungeschminktes zweites Album, ´Afraid Of Tomorrows´, bugsieren die aus Liverpool stammenden Senkrechtstarter The Mysterines ihren facettenreichen Sound im Alternative-Rock-Dunstkreis auf unerforschtes Terrain, gehen aus persönlichen Krisen gestärkt und selbstbewusst hervor und machen so – dem Albumtitel zum Trotz – den Weg frei, um ihre jetzt schon bemerkenswerte Erfolgsgeschichte fortzuschreiben.
Das zweite Album ihrer Band zu schreiben und aufzunehmen, glich für Lia Metcalfe, die Sängerin, Gitarristin und Songwriterin der Mysterines, dem Öffnen der Büchse der Pandora. Trotz des allenthalben positiven Echos, das der fesselnde Erstling ´Reeling´ bei seiner Veröffentlichung vor rund zwei Jahren ausgelöst hatte, trotz einer Top-Ten-Platzierung in den britischen Charts, einer langen Tournee mit Headliner-Konzerten in Großbritannien, auf dem europäischen Festland und in den USA und einer Gastspielreise durch britische Stadien im Vorprogramm der Arctic Monkeys, zogen für die Frontfrau der Band düstere Wolken auf. Bereits der Titel ´Afraid Of Tomorrows´ spiegelt Metcalfes Leben in einer von Angst erfüllten Welt wider, in der für sie an ein "Morgen" lange kaum zu denken war. Inzwischen hat sich das glücklicherweise geändert, doch die Schatten der Vergangenheit haben auf der neuen LP hörbar Spuren hinterlassen. "Die Platte ist durch mehr Zerbrechlichkeit gekennzeichnet und viel persönlicher", gesteht sie beim Video-Call mit der WESTZEIT vor wenigen Wochen. "Es war nicht so, dass ich es darauf angelegt hätte, aber das war die einzige Möglichkeit, all das hinter mir zu lassen, was mich beschäftigte. Es war eine Methode, um zu überleben."Auch deshalb wählte Metcalfe dieses Mal einen anderen Weg, ihre Gefühle in Texte zu übersetzen, und wählte eine stärker beschreibende Form, um Emotionen zu provozieren. Dabei nutzt sie etwa das Bild eines Schrottplatzes, um zu beschreiben, wie unaufgeräumt es eine Zeit lang in ihr ausgesehen hat. Für ihre verschlungenen Geschichten und literarischen Anspielungen findet sie immer wieder überraschende Blickwinkel, aus denen sie die oft, aber nicht ausschließlich autobiografisch inspirierten Inhalte ihrer Songs beleuchtet. "Ich suche in meinen Texten nach nichts Bestimmtem", sagt sie. "Oft weiß man gar nicht, wann es einen trifft, und nicht selten handelt es sich dann um völlig unspezifische Dinge. Aber genau das ist ja das Magische daran! Tom Waits zum Beispiel war schon immer eine große Inspiration für mich, aber gerade seine unsinnigsten Texte packen mich bisweilen am meisten. Oft hat die Bedeutung einer Textzeile ja auch viel damit zu tun, wie man sie rüberbringt. Ich finde allerdings, dass Texte provokant sein und Emotionen transportieren oder die Fantasie ankurbeln sollten. Mark Linkous von Sparklehorse zum Beispiel hat es immer geschafft, externe Bilder und Visuals zu verwenden, um Gefühle zu erzeugen, und auch ich habe mich beim zweiten Album genau darauf konzentriert."
Tatsächlich klingt ´Afraid Of Tomorrows´ weniger wie ein Album, mit dem das Tor zum Pop-Himmel mit Gewalt aufgebrochen werden soll, sondern eher wie eine Platte, die den Mysterines den Weg zu einer langen, fruchtbaren Karriere eben soll. Den lärmenden Grunge-Rock ihres Debütalbums tauschen Metcalfe und ihre Mitstreiter – Bassist George Favager, Gitarrist Callum Thompson und Schlagzeuger Paul Crilly – nun gegen einen wandelbaren Sound ein, mit dem sie im Dunstkreis der Tugenden des Alternative Rock der letzten 30 Jahre düster gestimmte Texte in ebensolche Töne hüllen und dabei weniger auf große Hooks und eingängige Singalongs setzen, sondern eher ihre Psychedelic- und Alternative-Einflüsse in den Fokus rücken, um eine intime Verbindung zu ihrem Publikum herzustellen.
Hatte die Band bei den Songs für ´Reeling´ absichtlich noch Raum für kreative Geistesblitze im Studio gelassen, hatte sie dieses Mal deutlich explizitere Vorstellungen davon, wie das zweite Album klingen sollte. "Wir haben dieses Mal sehr viel Zeit auf die Demos verwendet und sehr hart daran gearbeitet, weil es uns wichtig war, die Ideen zu verdichten, die wir auf der Platte abbilden wollten", erklärt Metcalfe. "Die Richtung, die wir einschlagen wollten, war bereits in diesen Demos angelegt." Unterstützung fanden die vier bei Starproduzent John Congleton, einem ausgewiesenen Experten für Platten zwischen Kunst und Kommerz, der in der Vergangenheit Acts wie St. Vincent, Angel Olsen oder Sharon Van Etten auf ihrem Weg zu höheren Zielen begleitet hatte. Er bestärkte The Mysterines, die in den Demos angedachten Ideen unbeirrt weiterzuverfolgen, und half der Band, diese Ideen bestmöglich auszuformulieren und umzusetzen, oder wie Metcalfe es ausdrückt: "Die Zusammenarbeit mit John kann man vielleicht so beschreiben: Wir haben eine Skizze auf einer Leinwand mitgebracht, und er hat uns die richtigen Werkzeuge an die Hand gegeben, um sie fertigzustellen."
Da Congleton dort inzwischen lebt und arbeitet, wurde das Album in Los Angeles in seinem just eröffneten neuen Studio eingespielt, und auch wenn es auf den ersten Blick vielleicht nicht offensichtlich ist, entpuppte sich die immer etwas unwirklich erscheinende Glitzer-Stadt als genau der richtige Ort, um die von Paranoia geprägte Stimmung einzufangen, die den Mysterines für das Album vorschwebte. Die Inspiration für den Song ´Stray´ fanden The Mysterines dagegen auf der anderen Seite der USA. Die Nummer entstand unter dem Eindruck der 2022er-Dokumenation ´Meet Me In The Bathroom´, einem packenden Portrait des New Yorker Musikerzirkels um The Strokes, Interpol und die Yeah Yeah Yeahs zu Beginn des neuen Jahrtausends. "Mit dem Song haben wir versucht zu emulieren, was wir in der Dokumentation gesehen haben", erklärt Metcalfe ihren Ansatz. "Es war für uns total faszinierend, einen solch intimen Einblick in die damalige New Yorker Szene zu erhalten und die enormen Höhenflüge einiger unserer liebsten Bands mitzuerleben, aber auch die Widrigkeiten, mit denen sie zu kämpfen hatten. Besonders Karen O zu sehen, war ein großer Ansporn für mich."
Bei solchen Inspirationen ist es natürlich nicht verwunderlich, dass auch The Mysterines nie die Bodenhaftung verlieren. Natürlich erhofft sich Metcalfe, dass ´Afraid Of Tomorrows´ ihrer Band neue Türen öffnen wird, aber gefragt nach ihren Ambitionen, ihren Wünschen und Hoffnungen, gibt sie sich betont bescheiden. "Erfolg ist für uns, wenn wir etwas erschaffen, auf das wir stolz sind", sagt sie. "Wenn man das erreicht, kommt alles andere von allein. Viele Platten zu verkaufen oder auf Tour mit den Arctics zu gehen, ist natürlich toll und wir sind sehr dankbar dafür, aber der wahre Erfolg kommt von innen."
Aktuelles Album: Afraid Of Tomorrows (Fiction Records/Universal)
Weitere Infos: www.themysterines.com Foto: Steve Gullick