(Diogenes, 240 S., 18,00 Euro)
Zunächst mal ist dieses ein sehr schönes Buch, schön im gestalterischen und haptischen Sinne, aber auch ganz praktisch durch seine handliche Größe, das Lesebändchen und den lesefreundlichen Satz aus einer feinen Garamond. Schön (wenn man das als literaturästhetische Kategorie gelten lassen möchte) aber auch vom Inhalt her. Wenngleich die hier beschriebene Welt nur sehr bedingt er- bzw. anstrebenswert ist. Denn: "Die Welt ist im Wasser versunken." Irgendwie ist Berlin aber nicht in den Fluten untergegangen, sondern dank einer immens hohen Mauer eine Art Insel im Ozean. Es leben dort allerdings nur noch fünf Menschen: Friedrich, Wilhelm, Alexander, Else und Lola. Letztere erzählt die Geschichte aus ihrer Perspektive und weil das erste Kapitel recht kurz ist und einen schönen Vorgeschmack auf Stil und "Sound" des Textes bietet, zitieren wir hier mal frech komplett: "Es gibt keinen Anfang. Es gibt kein Ende. / Wir sind die Ewigen. Es gab uns immer. Es wird uns immer geben. / Wir sind an den Ort gebunden. Der Ort ist an uns gebunden. Es gab ihn immer. Es wird ihn immer geben. Wir garantieren ihn. Er garantiert uns. Es gibt keinen Anfang. Es gibt kein Ende." Das zweite Kapitel geht dann auf der nächste Seite so los: "Natürlich stimmt das nicht. Natürlich gibt es einen Anfang. Der Anfang liegt im Dunkeln. Der Anfang liegt im Sumpf." Kurze Sätze mit seltsamen Untertönen, surreal, latent angsteinflößend und doch irgendwie majestätisch. Und (s.o.) auch einfach "schön". Lola berichtet also von ihren Erlebnissen in der Stadt und im "ungesicherten Gebiet", sie ist eine jener fünf "Ewigen", die wohl in einer Art Kreislauf irgendwann "entschwinden" und als Kleinkind gleichen Namens neu in die Gruppe kommen. Als Ersatz? Als Fortsetzung? Ein bizarres, dennoch höchst fesselndes setting. "Im Sommer kommen die Schiffe." Darauf "Fremde", für die bzw. mit denen die "Ewigen" pseudo-religiöse Rituale feiern. Dabei regt sich bei manchen der Ewigen der menschliche(?) Drang nach Freiheit, in unterschiedlicher Form – Flucht über den grauen Ozean (den man hinter den riesigen Mauern nur vermuten kann) ist da eine Option. Die Alpen werden doch kein Mythos sein? Schließlich gibt es Bilder und Karten in der Bibliothek. Der scheinbar unendliche Kreis, der "Ewigen"Zyklus muss doch zu durchbrechen sein? Liebe wäre auch eine Möglichkeit. Das (nur vermeintlich spielerisch leichte) Einflechten realer (heutiger) Probleme verleiht dem Roman eine zusätzliche Dimension (die Berliner Mauer und die z.T. furchtbaren Geschehnisse beim Versuch, selbige zu überwinden, ist da nur die naheliegendste und doch sehr geschickt verbaute Assoziation), der Text bleibt aber wundervoll und wundersam entrückt. In ihn einzutauchen, war eine der große LeseErfahrungen dieses Sommers.Weitere Infos: www.diogenes.ch/leser/titel/anne-reinecke/hinter-den-mauern-der-ozean-9783257073164