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Nehmen wir uns mit den ersten Zeilen dieser Kolumne im neuen Jahr doch wieder kurz(?) Zeit für einen (in diesem Fall sogar recht langen) Nekrolog und gedenken einiger großartiger Künstler, die diese Welt im letzten Jahr verlassen haben: So starb Anfang Februar mit 91 Jahren der US-amerikanische Komponist (und Lehrer an der University of Pennsylvania, wo u.a. Uri Caine sein Student war) George Crumb. Wir legen gleich nochmal seine wundervollen "Metamorphoses" auf.Zur selben Zeit hieß es auch Abschied nehmen von Fred van Hove, Meister des Free Jazz-Pianos und ebenfalls ein großer Lehrer. Weiter beklagen wir den Tod des wunderbaren Klarinettisten Rolf Kühn, genauso wie den von FreeSaxSpiritualist Pharao Sanders und von Funkadelic/Parliament-Gründungsmitglied Calvin Simon. Angelo Badalamenti ist am 5.12. mit 85 gestorben – er schrieb u.a. die Musik zu "Blue Velvet" und "Twin Peaks".Auch vor der SynthieSzene machte Gevatter Tod nicht halt: erst starb Mitte Mai Vangelis (von dem stammt u.a. der "Blade Runner"-Soundtrack), dann trauerte am 26.05. die Welt um Andy Fletcher (Depeche Mode). Wenige Tage später und leider mit deutlich weniger Aufmerksamkeit ging mit 72 der "MIDI-Vater" Dave Smith, Gründer von "Sequential Circuits" und Entwickler des legendären "Prophet 5" (das war der ersteprogrammierbare polyphone Synthesizer). Ohne die Klangmöglichkeiten des P5 hätten Kraftwerk, Depeche Mode, Talking Heads, Gary Numan, Thomas Dolby und New Order, aber auch Prodigy oder einige Pet Shop Boys-Platten wohl ganz anders geklungen (wenn es sie denn überhaupt gegeben hätte). Und Klaus Schulze aus der Esoterik-Klasse der Berliner Schule starb am 4. August. Manuel Göttsching spielte mit Schulze bei Ash Ra Tempel, er starb am 4.12. . Martin Duffy drückte die Tasten bei den unvergesslichen Felt und später natürlich bei Primal Scream, auch sein Leben endete im Dezember. Als Faithless-Sänger und -DJ hat Maxi Jazz seine Spuren in der Dance-Welt hinterlassen, seit dem 23. Dezember gilt "I can’t get no sleep" leider nicht mehr. Ralf "Bummi" Bursy war erst als Sänger bei Keks so eine Art offiziell geduldeter DDR-Proto-Punk, bevor er als Schlagerfuzzi versackte. Er starb im Februar mit 66 Jahren. Auch Taymur Streng ist wahrscheinlich eher den Kennern des DDR-Untergrunds vertraut (als Keyboarder und Sänger bei Neun Tage Alt leistete er im Osten Grundlagenarbeit in Sachen SynthPop/EBM/ColdWave) – er zog im April den Stecker.
Wesentlich mehr Leute nahmen Anteil am Tod des großen Kristof Schreuf. Der Mann hinter Kolossale Jugend und Brüllen starb am 9. November. Da waren im Lauf des Jahres aber schon einige IndieGranden für immer gegangen: "Screaming Trees"-Sänger Mark Lanegan starb am 22.2. mit nur 57, Gitarrist Michael Belfer (Sleepers, Tuxedomoon, Blaine L. Reininger usw.) schaffte die 63 und sein Instrumenten-Kollege Keith Levene (u.v.a. auf etlichen PIL- und Dub Syndicate-Platten zu hören) wurde immerhin 65. Mit Punk-Pionier Wilko Johnson (75) starb Ende November ein weiterer, vor allem auch von anderen Musikern hoch geschätzter GitarrenMann, auch Specials-Sänger Terry Hall ist nicht mehr. Für Schlagzeuger war 2022 offenbar auch kein gutes Jahr, denn gleich am 5.1. starb die Low-Drummerin Mimi Parker mit gerade mal 55. D.H. Peligro (Dead Kennedies) lebt seit dem 28.10. nicht mehr und der Stranglers-Trommler Brian "Jet Black" Duffy war tatsächlich schon 84, als er Anfang Dezember die Sticks für immer weglegte.
Kurz vor Silvester verloren wir mit Vivienne Westwood (81) die zeitlebens aufrechte Aristokratin des Punk, schon im April hatte es mit Pamela "Jordan" Rooke jemandem aus ihrem Dunstkreis erwischt (Jordan hatte Mitte der Siebziger etliche später ikonisch gewordene Punk-Styleskreiert).
Von den vielen Theater- und Kino-Leuten, die im letzten Jahr verstorben sind, müssen wir hier zumindest den FilmAnarchisten Herbert Achternbusch erwähnen, am 10. Januar starb er mit 83. Im Juni verloren wir Jean-Louis Trintignant (91), mir auf ewig nicht nur durch "Drei Farben: Rot" in Erinnerung und auch Nichelle Nichols (Lieutenant Uhura in den "wahren" Star-Trek-Folgen) ist tot. Jean-Luc Godard (81), neben Chabrol und Truffaut der König der "Nouvelle Vague", ist gleichfalls unter den zu Beklagenden, ebenso die glamouröse Schauspielerin Eva Maria Hagen (87), die auch als Interpretin von Liedern ihres Lebenspartners Wolf Biermann zu begeistern wusste. Der Low-Budget-Meister Klaus Lemke lebt auch nicht mehr, genauso wenig der Schauspieler Dieter Mann, der in den 80ern als Intendant des Deutschen Theaters in Berlin Frank Castorf und Heiner Müller Regie-Chancen bot. Wolfgang Kohlhaase, einer der ganz großen deutschen Drehbuchschreiber (u.v.a. "Berlin - Ecke Schönhauser", "Solo Sonny" und "Als wir träumten"), starb am 5.10., am 30.11. dann auch Christiane Hörbiger (84), die einen FilmPreis mal mit den herrlich selbstironischen Worten "Ich danke meinem Maskenbildner" annahm. Und der umstrittene Wiener Blut-und-Fleisch-Aktionist Hermann Nitsch starb - stilecht/prätentiös selbst in der Wahl des Tages seines Ablebens - am Ostermontag, ein gelebtes Orgien-Mysterien-Theater.
Dem im August verstorbenen Michail Gorbatschow haben zumindest wir Ostdeutschen doch so einiges zu verdanken. Inge Viett, die erst als radikaleFrauenrechtlerin Brautmode- und Sex-Shops anzündete, über die Bewegung 2. Juni schließlich zur RAF kam und Anfang der 80er in der DDR untertauchte, starb im Mai, noch immer davon überzeugt, dass ihr Kampf ein gerechter war. Und mit dem Ex-RAF-Verteidiger Christian Ströbele ging am 29.8. einer der letzten prominenten Grünen mit Rückgrat. Auch Hans Magnus Enzensberger hatte Kontakte zur RAF, ohne deren blutige Aktionen gutzuheißen. Ende November starb der "Kursbuch"-Gründer, übrigens kurz nach dem die sova (sozialistische verlagsauslieferung) Insolvenz anmelden musste. Nicht nur für viele unabhängig-widerständige Verlage ist dieser WirtschaftsTod ein großer Verlust.
Puh – nach so vielen Toten brauchen wir dringend was Fröhliches. Vielleicht die "Summer Nights – The Lost Portuguese Session" von NICK GARRIE? Der PsychHippie (legendär durch sein obskures Album "The Nightmare Of J.B. Stanislas" – s. dazu u.a. WZ 07/19) trägt mit entrückter Stimme zu Gitarren-, Mandolinen-(?), Akkordeon- und sonstigen sanft-melancholischen Klängen fabelhaften BreitwandPop vor. Sagte ich gerade "melancholisch"? Naja, fröhlich-melancholisch – so wie französische Straßenmusik. Aus Portugal. Von einem Briten. 4
Garrie wurde und wird gerade auch von Leuten verehrt, die selbst wundervolle Songschreiber und Musiker sind, u.a. auch vom BMX BANDITen Duglas T. Stewart. Der Schotte hat mit seiner Band die "Music For The Film "Dreaded Light" " (beide Tapete) eingespielt – auch ein feines Stück purer PopKunst. Mal mit zittrigen Gesängen ("Long Forgotten Summers"), mal mit verwischten Anklängen an seltsame TrashPop-Highlights wie "Time To Say Goodbye" oder "Rivers Of Babylon". Jedenfalls meine ich derlei hier und da heraus zuhören. Mysteriös. 4
Neben dem von Tapete befindet sich direkt das Bureau B. Von dort kommen nicht nur 2 neue re-issues von MARTIN REV-Alben ("To Live" von 2003 und "Les Nymphes" von 2008 – beides Musterbeispiele eines ebenso abgedreht-psychedelischen wie experimentell-elektronischen Post-Suicide-PopVerständnisses, deshalb: 2 x 4), sondern auch sehr gut hörbare "Cheapo Sounds". Deren minimalistisch-warme Strukturen verfertigte Stefan Schwander aka. HARMONIOUS THELONIOUS einzig mit einem Elektron-Monomachine-Synth - Ziel war dabei "eine Wave-Platte mit dem Verständnis von Techno" zu kreieren. Hat geklappt. 4
Geistesverwandt hierzu ist "Leave Me Alone" (alle Bureau B). Wieder ein Einzeltäter (Detlef Weinrich aka. TOLOUSE LOW TRAX), wieder sehr minimalistisch, Rhythmus-orientiert. Wieder voller vertrackter Kleinigkeiten, die durch das HörBild flattern - der musikalische Setzkasten ist bei weitem voller als der auf dem Cover. Vielleicht nicht ganz so genial wie das letzte Album ("Jumping Dead Leafs" - WZ-Olymp 09/20), aber immer noch sehr prima. 4
Etwas versonnener, aber ebenfalls sehr elektronisch kommt uns JOHANNES MOTSCHMANN. Der klassisch ausgebildete Komponist hat gemeinsam mit dem (Musik)Informatiker Thomas Hummel das Software-Projekt AION entworfen, das mithilfe einer KI "nicht nur kohärente Musikstücke, sondern eben auch Emotionen" erzeugt. Für "AION2" (Springstoff) wurden vom Johannes Motschmann Trio bzw. vom renommierten Ensemble Modern eingespielte Liveaufnahmen durch die software gejagt und das Ergebnis wirkt für Ambient zu theoretisch-ambitioniert, zugleich aber zu verträumt-zugänglich, um als "ernste" Avantgarde zu gelten. Man kann sich bekanntlich aber auch zwischen den Stühlen wohl fühlen. 4
VLADISLAV DELAYs "Whistleblower" (Keplar) bestach schon bei seiner Erstveröffentlichung 2007 auf Huume durch Konsequenz. Für die 2LP-Neuausgabe seines AvantAmbient-Meisterwerks hat der Finne ganz neue Mixe erstellt, die ich gern frakturierte Fraktale nennen möchte: zersplitterte Selbstähnlichkeit. 5
Ich habe (vor vielen Jahren) selbst lange genug an Synthesizern und Bandmaschinen herumgeschraubt und -gedreht, als dass ich mir den Spaß, den RUMPELN beim Herstellen seiner LP "Noise Means Noise" (Echokammer) hatte, nicht bestens vorstellen kann. Endlose loop-Knoten aus Hämmern, Brummen und Zischen – klassischer Stoff, allerdings ohne die spätpubertäre Verbissenheit einiger Genrekollegen, sondern voller Humor und Ironie. Das merkt man an der Frische des dargereichten Lärms ebenso wie an dessen lustigen Titeln: "Die Gruppenaktivitäten im Klassenzimmer werden durch Gespräche und Zigarettenrauch gestört", "Tiere im Krieg" oder "Bitte keine Sportgeräte" (das zugleich klanglich auch sehr(!) bissig ist). Besonders prima (und somit in der Liga des Projektnamens spielend): "Noise Cancelling Cancelling"! 5
Ebenfalls sehr eindringlich und sehr experimentierfreudig, wenn auch nicht ganz so lustig, ist der(?) "Gibbon" (Carton), den die Pariserin TATIANA PARIS als "sort of duet" betrachtet. Ein Duett für Radiokassettenspieler und Sologitarre. Vielleicht noch mit einigen Effekten garniert, aber an sich sehr pur. Zwischen Ambient und Avantgarde, mal verzerrt, mal glasklar, mal mit StimmSchleifen, mal mit NoiseBrocken. Spannend. 4
Auch (aber auf eine ganz und gar andere Weise) Gitarren-betont sind die "Coffin Nails" (TBC) von Tim Scott McConnell, der als LEDFOOT behauptet, Erfinder des Gothic Blues zu sein. Das lassen wir einfach mal so stehen. Auch wenn ich normalerweise so gar kein Freund von Mainstream-orientiertem US-Rock bin, muss ich zugeben, dass mich diese weitgehend akustischen Sargnägel durchaus hier und da zu mehr als einem Fußspitzenwippen verleiten. "Nobody produces this shit...I just play" schrieb der inzwischen in Norwegen lebende Stiefelträger ins booklet. Und "recorded and mixed in two days...live...straight to tape...no edits, no punching in...just me" auch. Gar nicht so schlecht. 4
Jedenfalls im Vergleich zu den gruseligen "Sandclocks of Eternity" (At Mango’s) von einer als Iren verkleideten BayernBand namens ROBESPIERRE. Schlimmer KeltenFolk, schauriger ProgRock und furchtbarer Mainstream(Pseudo)Metal als Classic Rock verpackt. Wieso macht man sowas? 1
Das es anders geht, beweist der Bananafishbones-Abkömmling DREIVIERTELBLUT mit "Plié" (Millaphon). In (schwer verständlicher) oberbayerischer Mundart grummelt man meist in tiefen Lagen von "Insomnia" und "Raunacht" oder berichtet "Om (Do Schneibts)". Musikalisch reicht das von TwangGitarren bis zu ReggaeVibes, von stark gesetztem DuoGesang im OffBeat bis zu zarten TrompetenMelodien und von AkkordeonTunes bis zu Bass-Klarinetten-Tönen und MoogSounds. Und das im Sinne einer Verneigung vor bayerischer Volksmusik. Feine Sache, wirklich! 4
Als nordisch-ironische ElektroVersion davon könnte man VAN DER BRÜGGE ansprechen (läge nur eben völlig falsch). Das Hamburg/Düsseldorfer all-star-Trio weiß: "Du hast doch noch Zeit" (Misitunes). Am Start sind hier Pascal Fuhlbrügge (der wird neuerdings immer als "Hausmeister der Hamburger Schule" vorgestellt), der D-dorfer "Kiesgroup"-Dichter Vander und der "Bürgermeister der Nacht" Franz Büchner. Moralphilosophie, (Klein)Kriminalität und Tierwohl, verhandelt zwischen Dance Floor und Chill-Out-Area. 4
Schon "Unity", das nach ihrem jahrelangem Schweigen zumindest von mir mit einiger Überraschung wahrgenommene neue Album von NINA HAGEN, an sich ist ziemlich prima, aber der Remix, den die Dresdener ElektroPopper ÄTNA von "Gib Mir Deine Liebe" (beides Grönland) angefertigt haben, schlägt alles. Konsequent zerhackt und mit neuem MachtGroove zusammengesetzt ist das mehr als gelungen (das zugehörige Video übrigens ebenso!). 5
Etwas mehr erhofft hatte ich mir ehrlich gesagt von LADYTRONs "Time’s Arrow" (Cooking Vinyl). Dabei ist das vertraute ShoeGazeElektroDisco-KlangDesign (stoisch durchstampfende drum-Linien, zitternde Synth-Begleitung, ElektroAkkordWände – angerichtet in einem riesigen HallRaum) nach wie vor nicht schlecht. Und auch Helen Marnies Gesang ist noch immer ebenso unterkühlt-leiernd wie kindlich-knatschig. Dennoch fehlt mir hier auch beim x-ten Durchlauf das wirklich zwingende Element. Dieser Zeitpfeil scheint mir beinahe ein wenig beliebig. 3
Ganz zum Schluss noch ein kleiner Hinweis auf das dritte Album des Brasilianers JOÃO SELVA. "Passarinho" (Underdog) ist angenehm elektrifizierter "Vintage Tropical", rhythmisch souverän, soundtechnisch über jeden Zweifel erhaben und mit seinem portugiesischen SchmachtGesang einfach wirklich schön anzuhören. 4
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