Klett-Cotta, 667 S., 28,00 EUR
Bei der Leipziger pop-up-Messe, die im März weniger Ersatz denn wundervolle Alternativlösung für die eigentliche (und wieder wegen Corona abgesagte) Buchmesse war, fiel mir am Stand des Stuttgarter Klett-Cotta-Verlags dieser Wälzer in die Hand, über den ich wenige Wochen vorher eine neugierig machende Rezension in der ZEIT gelesen hatte. Der sich selbst als Anarchist verstehende und seinerzeit bei Occupy Wall Street aktive Anthropologe Graeber verstarb 2020 mit nur 59 Jahren, da war das englische Original dieses Buchs gerade fertig geworden. Sein Freund, der Archäologe Wengrow, führt die gemeinsame Arbeit fort. Und die besteht vor allem darin, tradierte Geschichtsbilder und -entwicklungen zu hinterfragen; die europazentristische Brille ebenso abzulegen wie jedwede (auch sublime) westliche Arroganz. Und den Blick auf (zumindest jenseits von Spezialistenzirkeln) noch viel zu unbekannte Persönlichkeiten zu richten, wie z.B. auf Kondiaronk, einen Huronen-Häuptling (eigentlich eher -Staatsmann) aus dem 17. Jahrhundert, der die obrigkeitshörigen Kolonialisten mit spöttischem Erstaunen betrachtete und zeitlebens (nicht zu Unrecht) davon überzeugt war, dass deren Gier nach materiellem Besitz lächerlich und ihre Lebensweise dumm und geistlos im wahrsten Sinne des Wortes ist (und der nebenbei auf seiner Europareise etliche französische Geistesgrößen mit seiner intellektuellen Brillanz und rhetorischem Können nicht nur verblüffte, sondern auch beeinflusste). Überhaupt dienen die prä-kolumbianischen Völker Amerikas oft als Beispiel für die Gesellschaftstheorien von Graeber und Wengrow. Die beiden arbeiten sich dabei vor allem an Hierarchien und der Frage der sozialen Freiheit ab, die sie in drei wesentlichen Grundprinzipien erkennen: "(1) die Freiheit, seine Umgebung zu verlassen und an einen anderen Ort zu ziehen, (2) die Freiheit, die Befehle anderer zu ignorieren oder zu missachten und (3) die Freiheit, völlig neue soziale Realitäten zu schaffen oder sich zwischen verschiedenen sozialen Realitäten hin- und herzubewegen." Klassische Geschichtsschreibung geht von einer Tendenz "zum Höheren" aus und macht die Entwicklungsstufen mehrheitlich an verwendeten Materialien (Stein, Bronze, Eisen) oder technologisch bedingten Umbrüchen (Neolithische Revolution, Industrielle Revolution) fest, die Autoren fragen sich hingegen: "Was ist schief gegangen mit dem Projekt der Aufklärung? … Und warum enden wohlmeinende Versuche, die Probleme der Gesellschaft zu lösen, so oft damit, dass alles noch schlimmer wird?" Ihr seht, hier werden hochinteressante Fragen gegen den Strich diskutiert, eingeübte Denkschemata aufgebrochen und Dinge erzählt, von denen man noch nie gehört hat. Zwar sehr ausufernd und immer mal wieder auch redundant, nicht wirklich leicht lesbar (deshalb auch die Verspätung bei der Rezension) und mit einem anstrengenden (aber notwendigen) Fußnotenapparat und unfassbar umfangreichem Literaturverzeichnis ausgestattet, ist dieses Buch trotzdem nichts anderes als eine Sensation!Weitere Infos: www.klett-cotta.de/buch/Geschichte/Anfaenge/414379
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