Man lasse diese Namen langsam auf der Zunge zergehen: Miikka Koivisto, Mikko Hakila, Lasse Lindfors und Jussi Ylikoski. Vier Finnen, die - laut Bandinfo - ganz explosive Freaks sein sollen. In der Realität sieht das glücklicherweise anders aus: Inmitten des schneeweißen Interieurs eines Berliner Cafés sitzen vier zurückhaltende, über alle Maßen sympathische Jungs. Sie nennen sich in ihrer Einheit Disco Ensemble, sind dem dänischen Joghurt verfallen und können zwar mit Schokoladenplatten auf dem Brötchen nichts anfangen, dafür aber von ähnlich magischen Momenten zehren. Diese Finnen haben etwas für sich entdeckt.
Das wohlverdiente Bier um Vier darf es heute gerne sein, auch wenn es hier eher nach Prosecco ausschaut. Egal, die Finnen sind da nicht so, das weiß die Welt schon lange. HIM, Apocalyptica, The Rasmus und Lordi sind schließlich auch nicht auf Prosecco. Aber diese Vergleiche sind in diesem Fall eh völlig fehl am Platz, denn bei Disco Ensemble kommt man mit finnischen Musikklischees nicht weit. Die vier Jungspunde aus Helsinki sind Sympathe durch und durch, haben Geschmack und wissen Gutes aus der heimischen Musikszene zu berichten. Ein gutes Bild von dem, was in Helsinkis Indie- und Rockszene derzeit gedeiht und aufblüht, gibt ihrer geschlossenen Meinung nach zum Beispiel Fullsteam ab. Es ist ihr Label daheim und gleichsam die Heimat auserwählter Bands, die - abseits der Vorurteile gegenüber Metal-Finnland - Gutes zu bieten haben:„Es hat sich viel getan in den letzten Jahren“, hält Sänger Miikka fest. „Das musikalische Bild von Helsinki war immer von stupidem Metal geprägt, aber das ist mittlerweile unzureichend. Es geht und gibt viel mehr dort. Es öffnen ständig neue Clubs, in denen Livebands spielen und wo man dann immer wieder richtig gute Bands entdecken kann. Das hat viel mit der langjährigen Arbeit von Fullsteam als Label und Agency zu tun, da bin ich mir ganz sicher.“
Natürlich wurden er und seine drei Weggefährten auch von dieser Aufbauarbeit mitgezogen und musikalisch sozialisiert, auch wenn von Anbeginn drei Größen von außerhalb die Patenschaft von Disco Ensemble auf Lebenszeit übernommen hatten: Refused, Metallica und At The Drive-In. Unfinnisch, aber herrlich!
Müsste man einen gemeinsamen Nenner für das finden, was das Ensemble sich aus der stetig wachsenden Szene und den großen Bands von außerhalb gezogen hat, ist es die Energie. Feurige Kraft und melodiöse Rohheit wollten sie vertonen und legten ihren ersten Versuch davon 2003 mit „Viper Ethics“ vor. Gelungen und gechartet, wenngleich es der Nachfolger „First Aid Kit“ noch vehementer und nachhaltiger treffen sollte. Die Single „We Might Fall Apart“ kennt jeder, der schon mal vor die Tür getreten ist. Im harten Teil der Teenager-Disco schallte es mehrmals vom Tanzflur der Jugend - was natürlich so schlecht nicht ist, aber doch auch irgendwann ausgelutscht. Das nächste Album, allgemeinverbindlich als das schwierigste eingestuft, musste also anders werden. Es sollte mehr hineingesteckt werden und mehr hergeben. Deshalb verließen die Finnen ihr Land und gingen nach Dänemark, um dort den „besten Joghurt der Welt“ (Zitat Miikka) zu essen, „diese widerwärtigen Schokoladentafeln aufs Frühstücksbrötchen zu legen und nicht davon zu kosten“ (Zitat Jussi) und in aller Abgeschiedenheit aufzunehmen. Diese Entdeckungsreise begann anders als die bisherigen Studioausflüge des Ensembles. Es wurde nicht Schlag auf Schlag und Note für Note nacheinander reinge- drückt und zurechtgeschoben, sondern diesmal wurde live im Studio zusammen geholzt. Als Bass und Schlagzeug im ersten Schritt festgehalten wurden, spielten trotzdem immer alle mit. Schlagzeuger Mikko erklärt den Gedanken dahinter:
„Auf dem Computerbildschirm im Studio siehst du jede kleine Ungereimtheit, die beim Spielen zum Klick entsteht. Das kann dich wahnsinnig machen, wenn einzig und allein dein Instrument aufgenommen wird und danach haarspalterisch seziert wird! Bei diesem Album haben wir dies umgangen, in dem wir darauf nicht mehr so krass geachtet haben. Die Schlagzeug- und Bass-Spuren sehen am Bildschirm vielleicht nicht ganz so sauber aus, aber sie verweben sich viel besser. Sie klingen wie eine lebendige Einheit. Ich bin froh, dass wir diesen Weg gegangen sind.“
Bassist Lasse nickt und verweist auch gleich auf den Herrn, dem sie diese Herangehensweise mitunter zu verdanken haben:
„Pelle hat immer gesagt Egal was wir aufnehmen, ihr müsst alle mitspielen. Denn ich kann doch nicht sagen, ob der Drum-Part cool ist, wenn ich nicht weiß, wie er im Zusammenspiel mit den anderen Instrumenten klingt! Pelle ging es um ein einheitliches Gefühl – und genau darum ging es uns auch.“
Der Kontextualist Pelle heißt mit Nachnamen selbstverständlich Gunnerfeldt und ist u.a. aufgrund seiner The Hives-, Robocop Kraus- und Fireside-Aktivitäten alles andere als ein Unbekannter. Gitarrist Jussi, der während der Aufnahmen in einem Meer aus Verstärkern baden und abtauchen konnte, nennt Produzent Pelle nur „diesen starken, stillen Typen“, der immens wichtig für des Ensembles neusten Streich „Magic Recoveries“ war. Natürlich aufgrund seiner Erfahrungen, aber auch als dieser präzise, zielstrebige Tüftler. Gunnerfeldt ist kein spiritueller Produzenten-Freigeist, der sich in anderen Bands selbstverwirklichen muss, sondern einer, der seinen eingeforderten Input bringt, still beobachtet und sich immer dann zurücknimmt, wenn es an der Zeit ist.
„Was ich sehr an ihm schätze“, so ergänzt Sänger Miikka, „ist seine Sensibilität dafür, sofort zu merken, wann er sich besser zurückziehen sollte. Das können nicht viele seiner Zunft – obwohl es doch eigentlich so verdammt wichtig ist, dass Produzenten auch mal ihre Klappe halten.“
Von nicht zu unterschätzender Wichtigkeit war für Miikka aber auch die Zeit davor, also die drei Jahre, die zwischen „First Aid Kit“ und dem neuen Album liegen. Denn die Zeit und das, was man in ihr erlebt, aufsaugt und neu entdeckt, beeinflusst Sound und Songs. Die Zeit wird somit verantwortlich für das Gefühl, die Art und Weise, die Intensität dessen, was aus ihr hervorgeht.
„Wir haben in dieser Zeit auch erst lernen müssen, was es bedeutet, in einer Band zu sein.“
In einer Band wie dieser zu sein heißt, dass man durch höchste Höhen fliegt, in tiefsten Tiefen auf Grund läuft und auch mal im Alltagstrott versumpft. Es ist ein ständiger Wechsel zwischen Extremen, der aber immer eine Konstante hat: das gemeinsame Erleben. Das sind Grenzgänge, auf denen man einmalige Entdeckungen machen kann. Mikkos erstaunlicher Fund ist – auch wenn er sich etwas scheut dies zuzugeben – die Erkenntnis, „dass unser neues Album erwachsen klingt. Es klingt größer und ist viel ausgereifter. Aber genau das wollten wir erreichen.“
Das mutet seltsam an, denn da will jemand nicht nur freiwillig erwachsen werden, sondern auch noch erwachsen klingen. Aber Kollege Lasse stärkt Mikko den Rücken:
„Jetzt mag man denken, dass wir unser eigenes Album eigentlich selbst voll langweilig finden müssten. Aber nein, wir finden es viel aufregender, interessanter, abenteuerlicher und vielseitiger als alles, was wir bisher gemacht haben.“
Und im Grunde leuchtet dies auch ein, denn Disco Ensemble sind in die Breite und Tiefe gegangen und haben so neue Räume für sich entdeckt. Räume, die an Extreme grenzen, aber weiterführen und etwas Magisches zurückgeben.
„Der Albumtitel“, holt Miikka abschließend noch einmal aus, „fasst all dies schön zusammen und zeigt, was es bedeutet, eine Platte zu machen. Denn es ist ja immer eine mentale Achterbahnfahrt, wenn du es mit Kunst im Allgemeinen zu tun hat. Du durchkurvst harte Zeiten, die dich fertig machen, aber dann entdeckst du urplötzlich einen dieser magischen Momente für dich. Die können klein und nichtig erscheinen, sind für dich aber riesig. „Magic Recoveries“ ist deshalb als eine Metapher für Songwriting, für das Leben in einer Band, aber auch für dein eigenes persönliches Leben zu verstehen.”
Eine Metapher für Grenzgänge also, für das Gesunden an Neuentdeck-tem und für die unerklärlichen Dinge im Leben. Hier hört man, dass die sympathischen Finnen das Erwachsenwerden auf ihre eigene explosive Weise entdeckt haben.
Aktuelles Album: Magic Recoveries (Universal)
Foto: Ville Juurikkala