Zum 10-jährigen Jubiläum des Berliner Pop-Kultur Festivals gab es natürlich viel zu feiern. Nicht unbedingt, indem die Kuratoren des Festivals versucht hätten, mit Bezug auf das Programm noch mal eins draufzusetzen (was im Konzept des Festivals sowieso nicht vorgesehen ist), sondern indem die Kontinuität und die Geschichte des Festivals auf vielfältige Weise zelebriert wurde – so etwa mit einer Ausstellung, Vorträgen und Diskursen, einer Präsentation der Festival-Poster seit den Anfängen im Berliner Berghain, mit der Eröffnungsveranstaltung in der Kulturamtsministerin Claudia Roth und Festival-Initiatorin Katja Lucker auf die Historie eingingen und nicht zuletzt einem 170-seitigen Buch, das zusätzlich zum fast ebenso umfangreichen Festival-Guide verteilt wurde, in dem der Zeitplan und die Hintergrund-Infos zu den auftretenden Acts zu finden sind.
v.l.n.r.: Ilgen Nur / Rasco / Lucidvox / Ghost Woman / Arab Strap / Sloe NoonDer Schwerpunkt in diesem Jahr lag auf einer intensiven Zusammenarbeit mit afrikanischen KünstlerInnen, die in allen Spielstätten die musikalische Vielfältigkeit des afrikanischen Kontinents repräsentierten. Vielleicht unabsichtlich ergab sich beim Buchen der Musikacts in diesem Jahr eine Überschneidung mit dem Synästhesie-Festival, das in den letzten Jahren an gleicher Stelle im November stattgefunden hatte – in diesem Jahr aber wegen ausbleibender Fördermittel ausfallen musste. Und so fanden sich dann Acts wie z.B. Arab Strap, The KVB, Ghost Woman oder Plattenbau (um aber wirklich nur die bekanntesten zu nennen) auf dem Spielplan, die ansonsten eher zum Programm des Synästhesie-Festivals gepasst hätten.
Angesichts des Anspruches, möglichst vielseitige Acts aus möglichst vielen unterschiedlichen Nationen mit möglichst hoher weiblicher Beteiligung zu buchen, ist es natürlich schwierig, ansonsten Schwerpunkte zu bilden – aber insbesondere die Beteiligung von gleich drei Acts mit persischem Bezug – nämlich dem Projekt Esfand des iranischen Exilanten Rouzbeh Esfandarnaz und des Neuseeländers Patrick Stewart, das Elektronik-Projekt Stereotype der inzwischen im französischen Exil lebenden iranischen Musikerinnen Meshcut und Xeen und das als Commissioned Work ausgelegte Projekt „animapsyche“ der iranisch-stämmigen Künstlerin Pari Eskandari ließen dann doch aufhorchen.
A propos Commissioned Works. Diese einzigartige Einrichtung, bei der internationale Künstler(innen) extra für das Festival angefertigter Auftragsarbeiten realisieren, gehört ja zu den Stützpfeilern des Pop-Kultur-Konzeptes. Inzwischen gibt es aber mit den multinationalen Residenzen und den sowieso im Rahmen des Festivals entstehenden Kollaborationen verschiedenster Künstler aus verschiedenen Disziplinen weitere Plattformen, die das einzigartige Crossover-Flair des Festivals betonen – womit sich das Pop-Kultur Festival immer weiter von anderen, kommerziell ausgerichteten, konventionellen Festivals absetzt. Das, was es im Spätsommer in der Berliner Kulturbrauerei zu sehen gibt, gibt es ansonsten eben nicht zu sehen.
Ein faszinierendes Beispiel für diese Welt-umspannenden Projekte war zum Beispiel eine Produktion im mit ihrer ungewöhnlichen Bühnenbreite für solcherlei Sachen am besten geeigneten Spielstätte Palais. Hier trafen die irisch/japanische Musikerin ermhoi im Rahmen einer Berlin-Tokyo-Residency mit ihrer aus der Japanerin Utena Kobayashi und die kanadisch/japanischen Musikerin Julia Shortreed bestehenden Band Black Boboi auf die in Berlin lebenden Performance Künstlerinnen Rosa Anschütz und Eddna und entwickelten ein wahrlich einzigartiges Sound-Universum als Folklore, Ambient-Electronica, Indie-Rock, Klassik und nicht zuletzt liturgischer Note – und kamen somit zu einer faszinierenden Synthese, wie sie ansonsten im „normalen Leben“ eben unmöglich zu leisten gewesen wäre.
Ein weiterer Kernpunkt des Festivals ist seit einigen Jahren die Einbindung des Nachwuchs-Programmes (das auch dazu beiträgt, die FOMO-Problematik des Festivals zu entzerren). Auch hier gab es dann Sachen zu entdecken, die in Zukunft sicherlich noch eine gewisse Rolle spielen werden – so etwa der Afro-Pop der in Tansania aufgewachsenen Deutsch-Kolumbianischen Künstlerin Daada, die mit ihrer Show mindestens drei Kulturkreise miteinander verband. Dann war da noch das Projekt Schnallo der deutsch/amerikanischen Künstlerin Kimi Recor mit dem sie ihrem Idol, der wegweisenden Band Malaria, mit Glampop-Flair auf äußerst charmante, psychedelische und erstaunlich zugänglichen Weise Tribut zollte. Und nicht zuletzt das Indie-Pop-Projekt Sloe Noon der Songwriterin Anna Olivia Böke, das – zumindest bei dem Auftritt im Frannz-Garten - so ziemlich die komplette aktuelle Grunge- und Indie-Rock Konkurrenz an die Wand spielten.
Aber auch die etablierten Acts lieferten ordentlich ab: Die Pop-Kultur-Veteranen von Arab Strap spielten eine der besten Shows ihrer gerade laufenden Tour. The KVB zeigten im Palais, was sich mit ordentlichen Background-Projektionen in Sachen E- und New-Pop noch alles reißen lässt (und überzeugten auch dieses Mal als die konsequentesten Verfechter der Verbindung von Architektur und Musik). Das inzwischen zum Duo konvertierte Psych-Rock Projekt Ghost Woman präsentierte im Kesselhaus eine radikal reduzierte Version ihres Tuns, bei der erst im Live-Kontext deutlich wurde, wohin der kanadische Mastermind Evan Uschenko und seine belgische Drummerin Ille van Dessel mit dem letzten Album „Hindsight is 50/60“ (auf dem Uschenko als Songwriter bewusst auf konventionelle Songstrukturen und insbesondere Melodien verzichtet hatte) überhaupt hin wollten. Ilgen Nur präsentierte ebenfalls im Palais eine eigentlich recht ordentliche Rock-Show – die indes von technischen Problemen geplagt waren. Die Alt-Rocker Swell Maps versuchten (allerdings vergeblich) vergessen zu machen, dass die inzwischen verstorbenen Bandgründer Nikki Sudden und Epic Soundtracks die Band im Alter von 18 Jahren 1980 zu früh aufgelöst hatten.
Der Finne Jaako Eino Kalevi hielt hingegen auf sympathisch/unterhaltsame Weise mit seiner Bassistin die Fahne des E-Pop hoch, die in den vergangenen Jahren ja eigentlich von jungen Damen geschwungen wurde. Die Berliner Intitution Plattenbau ist das Spielkind des manischen Frontmannes Lewis Lloyd, der damit eigentlich die kühle Ästhetik des 80er Club-Sounds anstrebt, in dem Fall aber zusammen mit Jesper Munk, Sally Brown und Brandon Walsh den Frannz-Club mit einer brachialen, wilden Postpunk-Show zum kochen brachte. Ein besonderes Kudos geht noch an die Allstar-Superband The Morning Stars, in der sich Barbara Morgenstern, Alex Paulick von Kreidler sowie Felix Müller-Wrobal und Sebastian Vogel von Kante die Tasten und Saiten in die Hand gaben und mit brillanten Songs und ansteckender Lebensfreude neugierig auf ein erstes, gerade in Entstehung befindliches Album machten.
Alle Acts zu erwähnen geht schon alleine deswegen nicht, weil es unmöglich ist, alle zu sehen. Deswegen an dieser Stelle noch ein paar musikalisch Highlights aus subjektiver Sicht: Das aus russischen Exilantinnen bestehende No-Wave-Projekt Lucidvox zeigte, dass es den Damen zum Glück nicht darum gegangen sein konnte, ihren brachial/archaischen Postpunkt DIY-Sound in den letzten 7 Jahren seit ihrem ersten Gastspiel auf dem Pop-Kultur Festival weiterzuentwickeln. Die Berliner Allround-Künstlerin Fee Aviv, die ebenfalls in Berlin lebende Elektronik-Künstlerin Jamie Krasner a.k.a. James K, die britische Avant-Garde-Songwriterin und Schauspielerin Keeley Forsyth und die Multiinstrumentalistin und Songwriterin Valentina Veil mit ihrem Projekt VV & The Void setzten neue Maßstäbe in Sachen Darkwave – zumindest optisch, denn zu sehen gab es bei allen betreffenden Acts außer Kunstnebel und Schattenrissen so gut wie nichts. Dafür gefielen diese dank höchst unterschiedlicher Gewichtung mit ihren musikalischen Darbietungen. Das israelische Trio Rasco begeisterte im Frannz-Club mit einem wilden Mix aus Surf-, Trash-, Psychedelia- und Grunge-Pop – mit Texten auf Hebräisch. Die irische Songwriterin Ashley Abbedeen belegte in der Panda Platforma Spielstätte mit ihrem Projekt Hotgirl die Sparte des songorientierten Indie-Rock (die ansonsten ja gerne von den Herren der Schöpfung für sich reklamiert wird). Das kanadische Duo Pillow Fite überzeugte schließlich als einzige Singer/Songwriter-Act des Festivals mit „lesbischen Folk-Songs“ (wie Gitarrist Aaron Green die Songs seiner Freundin Art Ross umschrieb).
Was nach wie vor nicht so gut funktioniert, ist der Versuch, den Nachtleben-Faktor Berlins mit DJ-Sets zu integrieren. Während sich regelmäßig lange Warteschlangen zum Einlass in den nicht ins Festival eingebundenen Soda-Club bildeten, wurden die im Kesselhaus zwischen den Live-Acts eingebundenen DJ-Sets und sogar die mit großem Produktionsaufwand im Palais präsentierte Show der Londoner Djane Taylah Elaine von den Festivalgängern eher spärlich besucht.
Wenn es um ein Fazit der 10. Ausgabe des Pop-Kultur Festivals gehen sollt, so ließe sich sagen, dass es in diesem Jahr nicht um das Ausloben einzelner Highlights gehen konnte, sondern um eine Würdigung des ganzen Festivals an sich als einen inzwischen unverzichtbaren Bestandteil des Kulturbetriebs im internationalen Melting-Pot Berlin. Eine in diesem Jahr besonders reibungslos agierende Organisation und eine Festival-App, von an sich das Reeperbahn-Festival besser mal orientieren sollte und Eiscreme für mau (sofern man früh genug da war) rundeten das Festival-Erlebnis wirklich angenehm ab.
Weitere Infos: www.pop-kultur.berlin/festival/