‚Dringlichkeit‘ ist ein Stichwort, das in der Musikpresse nahezu inflationär bemüht wird, um Künstler*innen eine besondere Authentizität und Ausdrucksstärke zu bescheinigen. Im Falle des Wuppertalers Tom Taschenmesser, der den Abend im ausverkauften Bumann & Sohn für Nichtseattle eröffnet, kommt man an dieser Vokabel aber tatsächlich schwer vorbei. Mit einer Intensität, wie man sie sonst etwa von Personen wie Tobias Bamborschke (Isolation Berlin) kennt, scheint Tom von Anfang an förmlich das Herz aus dem Leib zu singen. Das gilt in besonderem Maße für den Song „Brügge“, der suggeriert, man könne ruhigen Gewissens aus dem Leben scheiden, wenn man diese Stadt bei Nacht gesehen hat.
Unterstützt wird Tom Taschenmesser am Bass von Markus (Kresin – sonst unter dem Pseudonym Krakus und früher als Teil der Band Darjeeling aktiv) und an der Perkussion, die unter anderem aus einem Hartschalenkoffer mit Ketten besteht, von Maxime (bei Instagram unter dem Alias @laufendercentimeter zu finden). In Ansagen und auf dem Setlist-Zettel bezeichnet Tom seine Mitstreiter*innen übrigens liebevoll als „die Anderen“.Zum Ende des Sets spricht Tom dann sympathischerweise aus, was alle Anwesenden ohnehin schon gewusst oder zumindest geahnt haben dürften, nämlich, dass Nichtseattle eine tolle Liveband seien und man sich daher sehr auf den nun folgenden Auftritt freuen dürfe.
Diesen Vorschusslorbeeren wird die Band um Katharina Kollmann voll und ganz gerecht: Spätestens beim zweiten Song „Schikane“, in dem Katharina am Ende zu spärlicher Instrumentierung „Es sind braune Augen, nein schwarze, dunkel wie meine Wege…“ singt, sollten sich im Publikum die ersten Gänsehautvorfälle ereignet haben – ich weigere mich jedenfalls zu glauben, dass ich der einzige gewesen sein soll.
Aha-Moment des Abends: Als die Band zu Beginn der zweiten Konzerthälfte „Frau sein“ anstimmt, fallen mir erstmals die melodischen Gemeinsamkeiten zu „Junge“ von den Ärzten auf (bitte nicht über mich lachen, wenn Ihr das schon längst vor mir durchschaut hattet). Sollte dies eine bewusste Anspielung sein (und alles andere ist ehrlich gesagt schwer vorstellbar), kann man nur sagen: Chapeau, subtil und genial zugleich!
Das im April 2024 veröffentlichte dritte Nichtseattle-Album „Haus“ bildet auf der aktuellen Tour den eindeutigen Schwerpunkt der Setlist, auf die es in Köln ansonsten nur zwei Songs der Vorgängerplatte „Kommunistenlibido“ („Ein Freund“ und „Die Idee“) geschafft haben. Dramaturgisch betrachtet ist die Reihung der neuen Songs im Konzert der Tracklist des Albums jedoch aus meiner Sicht deutlich überlegen, was vor allem an der Platzierung des Übersongs „Krümel noch da“ liegen dürfte. Während dieser auf Platte schon an Startposition 2 ‚verheizt‘ wird, rutschte er an diesem Abend ins letzte Konzertdrittel und kurz vor „Fleißig“, einen anderen Schlüsseltrack und zugleich finalen Song auf „Haus“. Auch die Auswahl der Titel für den Zugabenblock („Haus aus Papier“ und „Treskowallee“) kann nicht anders als gelungen und wohlbedacht bezeichnet werden.
Was in diesem Text zugunsten der ganzen Setlist-Spoilerei bislang leider noch etwas zu kurz kam, ist die Tatsache, dass nicht nur die fünf (bzw. mit Vorband: acht) Personen auf der Bühne, sondern auch die zahlreich erschienenen Besucher*innen einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zum Gelingen des Abends beitrugen: Im Bumann & Sohn hatte sich ein auffällig aufmerksames und respektvolles Publikum eingefunden, das der Band (bzw. den Bands) wirklich konzentriert zuhören wollte und das auch tat, so dass man mitunter die sprichwörtliche Stecknadel fallen hören zu können glaubte – jedenfalls in den raren Momenten, in denen sowohl die Musik als auch der begeisterte Applaus kurzzeitig verstummt und dem erwartungsfrohen Warten auf den nächsten Song gewichen waren.
Fotos: © Ullrich Maurer
Weitere Infos: https://www.instagram.com/nichtseattle/