Es ist in heutigen Zeiten eine geradezu revolutionäre Idee: ein Festival, bei dem tatsächlich der Musik das Hauptaugenmerk gilt! In Zeiten, in denen kommerzielle Gedanken oder die Furcht, irgendjemandem auf die Füße zu treten, zu entweder langweiligen oder stilistisch haarsträubenden Line-ups führt, zeigen die Veranstalter der Feinen Gesellschaft beim ersten Etepetete-Festival nach drei Jahren Pandemiepause, wie leicht es sein kann, die meisten der immer vielfältiger werdenden Wünsche und Anforderungen an ein Festival zu erfüllen, indem sie einfach dem eigenen Geschmack vertrauen. Ohne großes Beiwerk, das von der Musik ablenken könnte, begeistern an diesem Freitagabend im Dortmunder FZW im fliegenden Wechsel auf zwei Bühnen fünf Newcomeracts (der sechste, nothhingspecial, musste leider kurzfristig absagen), die allesamt Headliner der Herzen sind und bei allem Facettenreichtum dennoch bequem unter das Indierock-Banner passen.
Den Anfang macht – auch da dürfen andere Festival-Booker gern mal die Öhrchen spitzen – die einzige Band mit einem Mann am Mikro: Peter The Human Boy aus Österreich verbreiten schon um kurz nach 20.00 Uhr beste Laune, wenn sie betont entspannt federleichten Dream-Pop auf soulige Grooves prallen lassen und ihnen die Freude am eigenen Tun bei jedem Ton ins Gesicht geschrieben steht. Dass sie nach einem Abstecher nach Süddeutschland tags zuvor die meisten ihrer Ansagen mit schwäbischem Akzent würzen, findet niemand lustiger als die Band selbst, aber offenbar wollen Peter Mathis und die Seinen nicht nur als hoffnungslos romantisch und melancholisch-gefühlsbetont gelten, sondern auch noch als liebenswert schrullig. Eine deutlich kürzere Anreise hatten die Lokalmatadore Sloe Noon mit Sängerin und Gitarristin Anna Olive, die sich nicht nur über eine rappelvolle FZW-Bar, sondern auch noch über ein Geburtstagsständchen des Publikums für Bassist Dennis Mielke freuen dürfen. Seine Texte zwischen Desillusionierung und träumerischem Weitblick vertont das Dortmunder Quartett mit Wurzeln in Brighton mit klassisch-effektbeladenem Shoegaze-Pop, der zwischen The Sundays und Wolf Alice alles abdeckt, was das Genre in den letzten 30 Jahren spannend gemacht hat und deshalb an diesem Abend Spätgeborenen und Resthaarträgern gleichermaßen ein Lächeln ins Gesicht zaubert. Danach wurde es auch im Club richtig eng, und der Grund dafür ist Philine Sonny, die 45 Minuten lang keinen Zweifel daran ließ, warum sie derzeit all den anderen hiesigen Phoebe-Bridgers-Wannabes gleich mehrere Schritte voraus ist. Denn obwohl ihre Selbstfindungssongs zwischen Solo-Folk-Modus und ohrwurmigem Indie-Rock-Wumms mit Band gar nicht so wahnsinnig außergewöhnlich sind, agiert die junge Musikerin auf der Bühne mit einer solch sagenhaften Lässigkeit, die nie unpassend oder aufgesetzt wirkt, dass es wirklich schwerfällt, bei diesem Auftritt nicht hin und weg zu sein. Passend zum Namen treten Chillera danach deutlich reservierter auf und drücken dem Khruangbin’schen Erfolgsmodell selbstbewusst ihren Stempel auf. Die drei jungen Frauen aus Odessa brauchen – außer einem verständlicherweise emotionalen Statement zur desolaten Lage in ihrer ukrainischen Heimat und einem Dank an das Publikum, das mit Supporter-Tickets oder per Spendenbox am Konzertabend Music Saves UA, die Hilfskampagne für Kriegs-Leidtragende der Musikindustrie in der Ukraine, unterstützen – keine Worte und waren mit ihren effektschwangeren, entschleunigten Instrumentals an der Schnittstelle von Surf-Rock, Dub-Rhythmen und Funk trotz einiger etwas zu sehr ausufernden Nummern die Entdeckung des Abends. Die längste Anreise hatten derweil Sara Ammendolia und ihre Band Her Skin, die eigens den Weg aus Italien nach Dortmund angetreten hatten. Cat Power, Iron & Wine und Laura Marling leuchten im Hintergrund, wenn sie melancholische Texte und zerbrechliche Melodien mischt und dabei keine Probleme hat, mit leisen Solonummern genauso zu glänzen wie mit vor punkiger Energie sprühenden Nummern, bei denen ihre drei Mitstreiter auch in puncto Posing ihre Rockstar-Fantasien ausleben können, während Sara selbst amüsiert vor ihrem Pedalboard kniet. Die Zugaberufe am Ende kommen für sie überraschend, sind nach dem feinen Auftritt aber auch wirklich verdient, denn ganz ehrlich: Schöner und emotionaler hätte das Etepetete-Festival 2023 kaum enden können!Weitere Infos: feineshows.de