Wer einen Festivalrückblick nicht unmittelbar nach dem Ereignis verfasst und in der Zwischenzeit vielleicht schon den einen oder anderen Bericht aus fremder Feder zur Kenntnis genommen hat (etwa den ausführlichen „Dreiteiler“ des Kollegen Ullrich Maurer bei unseren Freunden von gaesteliste.de), kann mitunter das Gefühl bekommen, dass über eine Veranstaltung eigentlich schon alles gesagt ist – nur halt noch nicht von allen.
Darum möchte ich im vorliegenden Text mal nicht die Künstler*innen an den Anfang und in den Mittelpunkt stellen, sondern das Team hinter den Kulissen, das ein Festival wie das Orange Blossom Special überhaupt erst möglich macht. Dieses Jahr – zur Jubiläumsausgabe – trat die Crew im Festivalverlauf ungewöhnlich prominent in Erscheinung: Zum Beispiel bei der mittlerweile traditionellen Versteigerung eines von allen Künstler*innen unterschriebenen Bildes im Festivaldesign, deren Erlös Viva con Agua zugutekommt. Am Ende der fröhlichen Bieterei am Sonntagabend stellte sich heraus, dass die OBS-Crewmitglieder zusammengelegt hatten, um ‚Festivalpapa‘ Rembert Stiewe dieses Bild zu schenken – dieses schöne Souvenir hatte er bei den zurückliegenden Festivals nämlich noch nie selbst mit nach Hause nehmen können.Das war aber bei Weitem nicht die einzige Gunstbezeigung, die Rembert an diesem Mai-Wochenende zuteil wurde. Bereits am Sonntagmittag wurde er kurz nach dem ‚regulären‘ Surprise Act (den er wie jedes Jahr akribisch lange vor nahezu allen Beteiligten und Gästen geheim halten konnte) ausnahmsweise einmal selbst zum ‚Opfer‘ einer musikalischen Überraschung, denn Teile des OBS-Teams hatten sich zum Coverprojekt ‚Remembert‘ zusammengeschlossen. Sie gaben auf der Minibühne drei Songs zum Besten: Den Auftakt bildete der Johnny Cash-Song, der dem OBS einst eher zufällig seinen Namen geschenkt hatte. Weiter ging es mit einem Song der Band The Hipsters von der allerersten beim Label Glitterhouse veröffentlichten Single aus dem Jahr 1986. Zu guter Letzt wurde dann „Robots“ von Dan Mangan angestimmt und vom Publikum fleißig mitgesungen – dieser Song hatte sich seit dem Auftritt des Kanadiers bei Ausgabe 15 des Festivals offenbar zu einem crewinternen Lieblingssong gemausert.
Diese drei Lieder werden aber nicht die einzigen Coverversionen sein, die vom OBS 25 dauerhaft im Gedächtnis bleiben dürften: Dem diesjährigen Surprise Act – der derzeit erfolgreichsten Glitterhouse-Band Die Nerven – gelang es zunächst (wie nicht anders zu erwarten gewesen war), ihre düsteren Hymnen auch zur ungewohnten Mittagszeit voll zur Entfaltung zu bringen. Den Schluss ihres Sets bestritt Drummer Kevin dann mit einer Verneigung vor der kurz vor Festivalbeginn verstorbenen Tina Turner, indem er ihren Song „What’s Love Got To Do With It“ sang und dabei auf tatkräftige Unterstützung aus dem Publikum setzen konnte. Während dieser Moment sicherlich zu den emotionalsten des Festivals zählte, erfüllte ein anderes Cover eher unterhaltende und, ähem, „didaktische“ Funktionen. Get Jealous, die am Freitag als erste Band die Mainstage betraten, hatten neben ihren Powerpunk-Eigenkompositionen auch Wir sind Heldens „Denkmal“ auf ihrer Setlist – angeblich vor allem als kleine Deutschlektion für Frontmensch Otto, dessen Muttersprache Niederländisch ist. Nach dem Konzert verriet das Trio dann noch, dass sich Besucher*innen ihrer Konzerte statt dieses Songs manchmal auch auf „Durch den Monsun“ von Tokio Hotel freuen können – na, wenn das kein Grund ist, sich diese Band erneut anzusehen!
Überwiegend leisere Töne wurden anschließend von Philine Sonny auf der Hauptbühne und von Lightning Jules auf der Minibühne angeschlagen. Philine, die mit Nachnamen eigentlich Bernsdorf heißt und aus Unna stammt, machte keinen Hehl daraus, dass ihre Stimmung an diesem Tag nicht die beste war, was sie allerdings keineswegs davon abhielt, auf der Bühne „abzuliefern“, wie es dann immer so schrecklich heißt, und damit eindrucksvoll zu beweisen, dass sie nach ihrem Auftritt im Vorjahr völlig zurecht erneut und diesmal auf die größere Bühne eingeladen wurde.
Wer sich zum Indiepop von Lightning Jules der Tagträumerei hingegeben hatte, wurde von Love’n’Joy und Odd Couple wieder ordentlich wachgerüttelt. Insbesondere Love’n’Joy überzeugten mit ihrem Mix aus psychedelischer Rockmusik und melodieverliebtem (Exil-)Britpop, so dass sich etwaige Befürchtungen, die drei Ukrainer seien lediglich aus musikfernen Gründen als „nette Geste“ nach Beverungen eingeladen worden, schnell in Luft aufgelöst haben dürften.
Husten hatten es nach der krankheitsbedingten Absage im Vorjahr nun zwar endlich vollzählig zum OBS und auf die Bühne geschafft, Sänger Gisbert zu Knyphausen war aber leider auch in diesem Jahr angeschlagen. Seine Stimme klang während des Konzertes ungewohnt dünn, hielt aber glücklicherweise durch, so dass das Publikum die Band zwar leider nicht in Bestform erleben konnte (diese Gelegenheit gab es dann zum Beispiel rund drei Wochen später auf dem Duisburger Traumzeit-Festival), den Abschluss des ersten Festivaltages aber sicherlich trotzdem sehr genoss.
Eine Komplettabsage gab es aber leider auch 2023 wieder zu verschmerzen, denn Malva musste ihren Auftritt zum Start des zweiten Tages aus gesundheitlichen Gründen canceln – zur Freude aller jedoch früh genug, um die Festivalplaner in die Lage zu versetzen, kurzfristig für passenden ‚Ersatz‘ zu sorgen. Den Slot übernahm die Band – um nicht zu sagen: das Orchester – Loki aus Paderborn, die sich nach ihrem Auftritt direkt wieder auf den Weg in ihre Heimatstadt machen musste, um dort abends ein weiteres Konzert zu spielen. Es gab sicherlich nicht wenige Festivalbesucher*innen, die durchaus ambitioniert gewesen wären, die Band als frischgebackene Fans direkt dorthin zu begleiten – wenn auf dem OBS nicht so ein hervorragendes Alternativprogramm gewartet hätte…
Weiter ging es auf der Hauptbühne mit dem Kinderkollektiv Tiny Wolves, das dieses Jahr einen vollwertigen Timeslot füllen durfte – unter anderem mit dem zweiten Wir sind Helden-Cover des Wochenendes („Wenn es passiert“) und dem mittlerweile auch in dieser Version zum Klassiker avancierenden Tom Petty-Hit „Free Fallin‘“. Der Weg mancher Sänger*innen dürfte dann direkt von der großen vor die kleine Bühne geführt haben, wo Deniz (Jaspersen) und Ove (Thomsen) nicht nur die jüngsten Festivalbesucher*innen zu begeistern wussten. Das dürfte natürlich auch daran gelegen haben, dass beide Musiker mit ihren jeweiligen Hauptprojekten auch ältere Semester adressieren. Eines davon – Jaspersens Band Herrenmagazin – feierte ein paar Stunden später auf der Mainstage dann sogar ein umjubeltes Live-Comeback nach längerer Pause. Mittags rahmten die beiden Sets von Deniz & Ove den Auftritt der Kölner Band Kratzen ein, der hierzu ein düster-diametral entgegengesetztes Kontrastprogramm bildete und zu dieser Uhrzeit bei strahlendem Sonnenschein ein wenig deplatziert wirkte – das lag aber keineswegs an der souverän aufspielenden Band, sondern wahrscheinlich hauptsächlich an subjektivem Empfinden.
Zeitgleich las die Autorin Christina Bacher auf dem nahegelegenen Reiterhof aus ihrem Buch „Ein Schiff für den Frieden“, einer Biografie des Cap Anamur-Gründers Rupert Neudeck. Das ist nur ein Beispiel dafür, wie es dem OBS dieses Jahr wieder gelang, auch fernab der Musik ein dem ‚Geist‘ des Festivals entsprechendes, buntes Rahmenprogramm von Nistkastenbau bis Upcycling anzubieten.
Während am Samstagnachmittag beim OBS Palila mit ihrem schnörkellosen Indierock die Hauptbühne bespielten, wurde in Köln und Dortmund die deutsche Fußballmeisterschaft der Herren entschieden – der Ausgang ist bekannt, darum konnte sich glücklich schätzen, wer als BVB-Fan der Devise „Bundesliga aus, OBS an“ gefolgt war. Hier wurden stattdessen von Lasse Paulus, der einen Hälfte des samstäglichen Walking Acts Schreng Schreng & La La, die wirklich weltbewegenden Fragen gestellt: „Weiß jemand, wie der Bremer SV gespielt hat?“ Gemeinsam mit ihm trotzte auch die andere Hälfte des Duos, OBS-Stammgast Jörkk Mechenbier, vor der wie jedes Jahr mit dem aktuellen Festival-Artwork verzierten Hauswand neben dem Ausgang des Geländes der unbarmherzigen Nachmittagshitze und sang mit gewohnter Imbrunst.
An gleicher Stelle – und bei ähnlich kreislaufunfreundlicher Wetterlage – konnte man am Sonntag Garda, den ersten ‚Secret Walking Act‘ der OBS-Geschichte, bewundern. Die Dresdner Band, die zuletzt 2019 mit einem Streicherensemble auf der OBS-Hauptbühne aufgetreten war, überzeugte jedoch nicht nur mit feinem Indiepop irgendwo zwischen Bright Eyes und Get Well Soon, sondern auch mit einer ordentlichen Portion Selbstironie: „Wir haben die drei Jahre Pandemie genutzt und einen neuen Song geschrieben…“ Das darf die Band für meinen Geschmack gerne wieder öfter tun, denn ihr Überraschungsbesuch zählte zu den absoluten musikalischen Highlights des Wochenendes.
Der dritte Walking Act des diesjährigen OBS, Gregor McEwan, war schon am Freitag an verschiedenen Ecken vor und auf dem Festivalgelände aufgetreten und hatte samstags dann für seinen Besuch am Meet & Greet-Stand extra ein paar Rollmöpse als „Katerfrühstück to go“ mitgebracht – mindestens geruchlich sicherlich ein eher zweifelhafter Genuss, aber es fanden sich dennoch dankbare Abnehmer*innen.
Der späte Samstagnachmittag und frühe Abend gehörte zwei Abräumern des Festivals, von denen man sicherlich noch an anderer (aber ganz bestimmt auch nochmal an dieser Stelle) hören wird: Die Schweizer Band Saitün euphorisierte das Publikum zunächst mit ihrem weltgewandten Fusion-Rock und löste danach OBS-typische Wanderbewegungen aus, die den geneigten Festivalgast erst zum Merch (wo es zum Beispiel exklusive handgemachte Bandshirts mit Strass-Steinchen zu erwerben gab) und dann zum Meet & Greet-Stand führen. Der erlebte beim Besuch von Saitün eine der längsten Warteschlangen des Wochenendes. Auch AfroDiziac, der die Minibühne mit zwei energiegeladenen Sets zum Beben brachte, gewann die Herzen des OBS-Publikums im Sturm. Zwei Dinge dürften daher so gut wie sicher sein: dass man ihn in Beverungen bald noch einmal wiedersieht, und dass er sich dann auf der Hauptbühne voll entfalten können wird.
Nach bzw. zwischen so viel Performance-Power hatten die unaufgeregten Schotten von Wrest einen eher schweren Stand, erwiesen sich aber sowohl musikalisch als auch menschlich als im Wortsinn (nicht im „Kleiner Bruder von...“-Sinn) ‚nettes‘ Gegengewicht.
Nach dem bereits erwähnten Auftritt von Herrenmagazin war der späte Samstagabend fest in belgischer Hand: Zunächst feierten die Whispering Sons um Fenne Kuppens eine schwarze Postpunk-Messe, dann sorgten The Haunted Youth mit ihren Wave-Hymnen für eine würdige Abschlusszeremonie des zweiten Festivaltages.
Vergleicht man die Line Ups der drei Tage, so könnte der Sonntag als Zugeständnis an langjährige OBS-Besucher*innen interpretiert werden, welche die ursprüngliche musikalische Ausrichtung zwar vermissen (und mit mancher Booking-Entscheidung hadern), auf ihr Lieblingsfestival aber verständlicherweise trotzdem keinesfalls verzichten möchten. Diese Festivalgäste wurden am letzten Tag einmal auf sehr konventionelle Weise (durch die Deslondes) und einmal in zeitgemäß aktualisierter Form (durch Lera Lynn) an die Americana-Wurzeln der Veranstaltung erinnert.
Daneben gab es streichergetränkte Teehausmusik (Hotel Rimini) und alten Indiefolk-(Honig-)Wein in neuen Schläuchen (Accidental Bird), der aber durchaus zu gefallen wusste und keineswegs geschichtsvergessen war: Irgendwie hatte es sogar der immerwährende „Golden Circle“ wieder auf die Setlist geschafft...
Die Hauruck-Fraktion kam dagegen bei Fire Horse und Thumper voll auf ihre Kosten, bevor zur Prime Time dann Thees Uhlmann nach zahlreichen missglückten Versuchen endlich seine langerwartete OBS-Premiere feiern durfte. Das Konzert brauchte ein wenig Anlaufzeit, doch spätestens als Thees ein paar Tomte-Klassiker in angenehm reduziertem Gewand aus dem Hut zauberte, hatte er zumindest große Teile des Publikums auf seiner Seite. Den hörenswerten Schlussakkord lieferte anschließend A.S. Fanning, während dessen Auftritt man mal an Adam Green, häufiger jedoch an Nick Cave oder Madrugada denken musste.
Abschließend sei hier noch die Geschichte eines Festivalbesuchers erwähnt, der nicht nur äußerst passenderweise während des Jubiläums-OBS seinen 25. Geburtstag feiern konnte, sondern sich auch noch aus einem anderen Grund förmlich in das Gedächtnis zahlreicher Festivalgäste und Künstler*innen „eingebrannt“ haben dürfte: Aus Holzresten fertigte er nämlich im Vorfeld des Festivals äußerst schicke Untersetzer, in die er jeweils einen Namen aus dem OBS-Line Up im passenden Corporate Design eingravierte. Diese ließ er sich mit bemerkenswerter Ausdauer und Konsequenz von den jeweiligen Künstler*innen signieren, jedoch nicht, um sich diese Sammlung daheim in eine Vitrine zu stellen oder um damit in irgendwelchen Internetauktionshäusern Kohle zu scheffeln – nein: Diese kreisrunden Kunstwerke landeten am Ende des Festivals wie schon das Auktionsbild ebenfalls bei Rembert Stiewe und werden ihn an etwas erinnern, für das er hoffentlich niemals eine Gedächtnisstütze brauchen wird: Das Orange Blossom – seine Künstler*innen, seine Crew und sein Publikum gleichermaßen – ist einfach „special“.
Foto: Das OBS-’Familienfoto’ 2023, © Ullrich Maurer
Weitere Infos: orangeblossomspecial.de/