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TRAUMZEIT FESTIVAL 2023 (16.-18.06.2023, Landschaftspark Nord, Duisburg)

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Außergewöhnlich ist die Industriekultur-Szenerie im Landschaftspark Nord in Duisburg das ganze Jahr über, einzigartig aber wird sie dann, wenn zwischen all den Stahlkonstruktionen, Kesseln, Rohrleitungen und Schornsteinen des alten Hüttenwerks in Duisburg-Meiderich das Traumzeit-Festival für drei Tage zum Leben erwacht. 9000 Gäste waren dieses Mal dabei, um bei bestem Wetter und in betont relaxter, friedlicher Atmosphäre ein nicht nur wegen des Eröffnungsauftritts des Knappenchors Rheinland betont kontrastreiches Programm aus Indierock, Post-Punk, Singer/Songwritern, Folk, Hip-Hop und Elektro zu entdecken. Wir werfen einen Blick zurück auf 13 (subjektive) Glanzlichter.

Der erste Act des Wochenendes ist gleich der erste Höhepunkt. Lokalmatadorin Stina Holmquist hatte sich eine Woche zuvor bereits bei den Ruhr Games im Landschaftspark warmgespielt und hat auch auf der Traumzeit-Hochofenbühne das Publikum vom ersten Ton an auf ihrer Seite. Ihre ungewöhnliche Mehrgenerationen-Band und den leicht bluesigen Americana-Touch ihrer elegischen Piano-Pop-Nummern mit kühlem nordischen Flair hat sie inzwischen gegen Mitstreiter ihres Alters und einen spürbar moderneren Sound eingetauscht, und das zeigt Wirkung. Mit einem Klanggewand, bei dem inzwischen Synths wichtiger sind als die Posaune, rückt sie ein Stück weit näher an den Zeitgeist heran und unterstreicht so beeindruckend selbstbewusst und ambitioniert, dass sie bereit ist für den nächsten Schritt.

Vor dem imponierenden Backdrop der Gieshalle tauchen danach Glass Beams ab in eine Weg vernebelter Psychedelia. Auf den Spuren der sagenhaften Khruangbin fasziniert das aus Melbourne stammende, hinter kunstvoll gestalteten Gesichtsmasken versteckte Trio mit einem Spagat zwischen fernöstlichen und westlichen Klangideen und sorgt mit seinem genrebiegenden Sound für eine hypnotische Atmosphäre, der man sich nur schwer entziehen kann.

Mit leichtfüßiger Nonchalance überzeugt danach Sorcha Richardson auf der Hochofenbühne. Ohne Angst vor einer gewissen Selbstironie (ihr aktuelles zweites Album heißt ´Smiling Like An Idiot´) verpackt die Irin kluge Gedanken in poetisch umwehte Texte, die sie gemeinsam mit ihren vier Mitstreitern in Alternative-Pop-Songs kleidet, die bisweilen minimalistisch anmuten, aber dennoch durch ein Auge fürs Details bestechen und hier und da auch Platz für ein wenig Americana-Twang lassen.

Im wahrsten Sinne des Wortes einzigartig ist danach der Auftritt von Martin Kohlstedt in der Gieshalle. Zehn Minuten vor der eigentlichen Anfangszeit nimmt der Tausendsassa bereits Platz an seinem „Ufo“ aus verschiedenen akustischen und elektronischen Tasteninstrumenten und legt sofort los. Tatsächlich hat man schnell das Gefühl, dass er anders als viele andere Acts nicht der Selbstpromotion wegen nach Duisburg gekommen ist: Der Mann will einfach nur spielen. Auch die erste Ansage hält er knapp, weil „ich gerade im Flow bin“, wie er erklärt. Lichttechnisch wirkungsvoll unterstützt, entführt uns Kohlstedt mit seinem komplett improvisierten Set in eine Welt filmischer Grandezza und sorgt so für einen ungewöhnlichen Kontrapunkt zum restlichen Festivalgeschehen.

Auf der großen Bühne am Cowperplatz zeigen danach dEUS, warum sie seit inzwischen mehr als drei Jahrzehnten als lebende Legenden gelten. Die Belgier treffen zwischen Exzentrik und Eingängigkeit genau den richtigen Ton und faszinieren dabei mit einer schwer in Worte zu fassenden Melange aus Ambition und Lässigkeit, die man derzeit in dieser Perfektion sonst höchstens noch von Nick Cave geboten bekommt. Dass die Band von der Bühne aus auf eine Szenerie blickt, die fast dem Cover ihres Albums ´The Pocket Revolution´ entspricht, ist das i-Tüpfelchen.

Zu Beginn des zweiten Festivaltages ist gleich der Auftritt von Blush Always etwas ganz Besonderes, und das nicht nur, weil Mastermind Katja Seiffert in Duisburg aufgewachsen ist, früher oft und gerne Zeit im Landschaftspark verbracht hat und mit dem Gastspiel beim Traumzeit Festival für sie ein Wunsch in Erfüllung geht – auch musikalisch setzt das jetzt in Leipzig heimische Quartett ein dickes Ausrufezeichen. Mit leidenschaftlichen Self-Empowerment-Songs tragen Blush Always den Sound des 90er-Jahre-Indierock ins Hier und Jetzt und bestechen dabei nicht nur mit unwiderstehlichen Melodien und großer Dringlichkeit, sondern klingen anders als viele ihrer Peers auch wie eine Band, deren Liebe zur Musik größer ist als der Wunsch, berühmt zu werden. Vielleicht auch deshalb sind Snail Mail, Soccer Mommy oder Beabadoobee hier treffende Referenzen, gleichzeitig schwingt aber immer auch die Unbestechlichkeit von Sonic Youth oder Pavement mit, bis nach 45 fabelhaften Minuten nichts mehr bleibt, außer die Tage rückwärts zu zählen, bis Ende September endlich das Blush-Always-Debütalbum ´You Deserve Romance´ erscheint!

In der Kategorie „Bands, von denen wir noch viel hören werden“ spielen auch Temmis ganz vorne mit. Auf den Spuren von Die Nerven oder Drangsal zeigt das aus Tübingen stammende Quartett mit beeindruckender Selbstverständlichkeit, dass sich scheinbare Gegensätze nicht ausschließen müssen: Ein in England verwurzelter Post-Punk-Sound trifft deshalb auf deutsche Texte zwischen Liebe und Tragödie, ein Hang zur Romantik auf ein Faible fürs Makabre, und auch sonst reicht das Spektrum von sanft bis brachial. Dass die Band von der Welle der Begeisterung, die ihr für diesen wirklich aufregenden Auftritt verdientermaßen entgegenschwappt, offenbar selbst etwas überrascht ist, macht sie nur noch sympathischer.

Die beste Sendezeit auf der großen Bühne gehört derweil Interpol. Mehr als 20 Jahre liegt die Veröffentlichung ihres viel geliebten Debütalbums ´Turn On The Bright Lights´ inzwischen zurück, und trotz aller Qualitäten präsentieren sich die New Yorker Post-Punk-Heroen in Duisburg auch wie eine Band, die sich auf ihre alten Erfolge verlassen kann. Folglich machen im Landschaftspark nicht die Songs des jüngsten Albums ´The Other Side Of Make Believe´ den Löwenanteil des Programms aus, sondern die alten Heuler der ersten drei Platten. Nicht, dass sich deswegen jemand im Publikum beschweren würde, zumal in Sachen sonnenbebrillter Coolness Interpol auch nach all den Jahren niemand so schnell etwas vormacht.

Am Sonntag wird es schon am frühen Nachmittag in der Gieshalle richtig eng, und das aus gutem Grund. Die Österreicher Sharktank sorgen jenseits aller Genregedanken mit einer nicht nur wegen der mitgebrachten aufblasbaren Figuren im Bühnenhintergrund quietschbunten Show für ein fulminantes Festivalhighlight, das für Atempausen kaum Zeit lässt. Irgendwo zwischen The Go! Team, Chumbawamba und Rage Against The Machine findet die Band ihren Crossoversound zwischen Indie, Pop und Hip-Hop, der auf Kopf, Herz und Tanzbein gleichzeitig zielt und offenbar auch generationsübergreifend funktioniert: Selten war die „Kindertribüne“ hinter dem Mischpult voller als bei diesem Auftritt.

Für das Quartett Lime Garden, das die Brighton-Festspiele an diesem Sonntag auf dem Traumzeit eröffnet, erweist sich die Hauptbühne im Anschluss zwar als etwas zu groß, ob ihres ergebnisoffenen Blicks auf die Tradition des Girl-Group-Sounds und des Indierock wird aber trotzdem schnell klar, warum diese vier Damen in ihrer Heimat bereits eine Menge Staub aufgewirbelt haben. Ganz nebenbei staubt Gitarristin Leila Deeley auch noch den Preis für das coolste Auftreten der drei Festivaltage ab – und muss dafür gar nicht mal viel tun.

Grundsympathisch geben sich Arxx. Das ebenfalls auch aus Brighton stammende Duo hat vor Kurzem beim Grand Hotel Van Cleef angedockt und kann jetzt sein Glück kaum fassen, vor vollem Haus in der Gieshalle zu spielen. Verwunderlich ist die Kulisse allerdings nicht, denn hier treffen in klassischer White Stripes’scher „Wer braucht schon mehr als Gitarre und Schlagzeug?“-Manier urwüchsige Garagenrock-Energie auf feine Pop-Hooks. Leidenschaftliches Empowerment in Töne gegossen!

Caroline Rose wirkt zunächst nicht so, als sei sie besonders glücklich. Sichtlich lustlos (und genervt vom klanglichen Geballer der zeitgleich auf der Hochofenbühne auftretenden dritten Brightoner Band Ditz, das auf den Cowperplatz herüberschwappte), wirkt die Amerikanerin anfangs ziemlich lustlos. Ein verschüttetes Bier (das sie sehr theatralisch selbst mit einem Handtuch aufwischt) und die Entdeckung, dass man über die Boxen im Bühnengraben dem Publikum ganz nahe sein kann, sorgen dann allerdings dafür, dass sich das Blatt wendet. Obwohl ihr Sound, mit dem sie zuletzt den Weg von Country und Folk zum Mainstream-Poprock gefunden hatte, an diesem Festivalwochenende ein wenig aus dem Rahmen fällt: Spätestens bei ´Bikini´ ganz am Schluss kann niemand mehr still stehen.

In der Gieshalle unterstreicht danach Betterov, dass ihm in Deutschland so schnell niemand etwas vormacht, wenn es darum geht, einer Melange aus Indierock, Post-Punk und Pop Noir den eigenen Stempel aufzudrücken. Bemerkenswert authentisch und mit einem tollen Gespür für Texte zwischen Poesie und Realismus passt hier einfach alles, und auch wenn einige vor der Bühne 60 Minuten lang sehnsüchtig auf die Großtat ´Dussmann´ warten, sind hier eigentlich alle Songs (Genre-)Hits. Hammer!

Danach hätten noch Querbeat auf der Hauptbühne auf uns gewartet, aber weil man gehen soll, wenn’s am schönsten ist, waren Betterov für uns der perfekte Abschluss eines Festival, bei dem „Traumzeit“ der Name und auch gleichzeitig das Fazit war.

Oben: Stina Holmquist | Sorcha Richardson | Martin Kohlstedt | Blush Always

Mitte: Temmis | Interpol | Lime Garden

Unten: Sharktank | Caroline Rose | Betterov
Weitere Infos: www.traumzeit-festival.de


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