Das JazzJahr 2021 fangen wir mit einer kleinen Orgie an. Noch dazu mit einer, die mit Jazz im engeren Sinn gar nicht so viel zu tun hat – aber seit wann scheren wir uns hier in dieser launigen Kolumne um Genre-Zuweisungen? Und seit wann hätten wir etwas gegen eine anständige Orgie einzuwenden? Also: KASPER AGNAS malträtiert auf "Grain" (Haphazard) ganz allein und ausschließlich seine E-Gitarre. Stellenweise klingt der hallgeschwängerte Overkill aus verflochtenen Arpeggien wie Viny Reilly (The Durutti Column) auf MDMA (und ohne dessen melancholisch-poetische Note). Manchmal auch sehr reduziert, dann wieder fast wie eine durch diverse Effektkaskaden gejagte Akustische – immer aber (bei aller Sparsamkeit im Materialmix) ziemlich spannend. 4 Mit LUCIO CAPECE & WERNER DAFELDECKER spielten am 31.05.19 zwei Granden der Improvisierten TonKunst ein bemerkenswertes 45-Minuten-set für den Münchner "Offene Ohren e.V.": Capece mit Bassklarinette und "slide saxophone" sowie dem immer wieder neu auf den Aufführungsort angepassten Spezialaufbau aus "mini-speakers with feedback and room amplification" und Dafeldecker mit seinem extravaganten Kontrabass. Das Resultat trägt den sprechenden Titel "Iteration"(Another Timbre) und ist genau das – eine Annäherung an etwas schwer Greifbares, eine Wiederholung gleicher, zumindest aber ähnlicher Prozeduren mit dem Ziel, einem abstrakten Ergebnis stetig näher zu kommen. Große Ruhe, schwierige Frequenzen, gegen Ende vermehrtes SchaltkreisZwitschern - eine anstrengende, aber sehr lohnenswerte Exkursion in Freie Gefilde. 5 Bei der ebenfalls knapp 3/4stündigen "Kakuan Suite" (We Insist!) vom italienischem TRIO PIPELINE übernimmt eine bb-(bzw. bei zwei Stücken auch eine Alt-)Klarinette die melodische Führung im sonst sehr freien setting von Kontrabass und Schlagzeug. 4 Dass Martin Brandlmayr und Nicholas Bussmann ihr musikalisches Zusammenwirken KAPITAL BAND 1 nennen, ist HumorBeweis und politisches statement zugleich. Was auch der Titel ihres dritten Albums unterstreicht, denn das heißt ganz unironisch "Internationale Solidarität" (Ni Vu Ni Connu) und ist – wen wundert’s bei dieser Besetzung? - ganz prima. Bussmann bedient zu Brandlmayrs sensibel-sprödem drumming ein monströses "robot controlled piano" und das Miteinander von gern mal sehr drängenden, dann wieder stoisch repetierten TastenTönen und freien Fell/BeckenKlopfereien gerinnt zu einem wieder an der magische 3/4 Stunde-Grenze kratzenden GesamtKunstWerk. 5 Die Idee genreübergreifender Gesamtkunst hat NICHOLAS BUSSMANN auch zu einem Text-Buch-Musik-Performance-Video-Installations-Projekt inspiriert, das eigentlich zwei sind. "The News Trilogy / Revolution Songs in an AI Environment" (T--p/Sub Jam) enthält auf der A-Seite KlangKunst für Chöre. Beim ersten Stück lässt Bussmann den "Shanghai News Choir" einen aus diversen Zeitungsmeldungen verschränkten "News Blues" intonieren, deklamieren, singen; danach tut der "Cottbusser Chor" (sic!) Ähnliches als Trilogie. Auf der LP-Rückseite ertönt zunächst unter dem Titel "1871" eine vom vorhin schon mal vorgestellten RoboterKlavier gespielte und dabei allmählich immer wilder variierte (vor 20 Jahren hätte man gesagt "dekonstruierte") "Internationale", dann folgen von "1917" bis "1980" weitere RevolutionsLieder – eine faszinierende, im separat erscheinenden "Instructions"-Buch neben anderen Arbeiten näher erläuterte KlangInstallation! 5 Für andere, aber ebenfalls sehr fordernde Experimente mit den Möglichkeiten der menschlichen Stimme interessieren sich RANDI PONTOPPIDAN & THOMAS BUCKNER. Ihre "Voicescapes" (Chant) bestehen aus Schnipseln von Husten, Singen, Schnalzen, Krächzen uvm., nicht selten durch "live electronic processing" weiter verfremdet. Sicher (auch) nichts für ungeübte Ohren. 3 Es gibt aber natürlich auch 2021 zugänglichere Jazzerein, auch und gerade im Vocal Jazz. Etwa das um ein Klaviertrio mit gelegentlicher Gitarren- oder Sax-Begleitung gebaute "House Of Mirrors" (Sunnyside) der DeutschAmerikanerin KRISTIANA ROEMER. 3 Musikalisch (etwas) gewagter, aber trotzdem alles andere als experimentell ist "InSight" (Jazzsick) vom Duo MÜLLERMICHALKE. Stefan Michalkes groovy Fender Rhodes trifft hier auf die nicht wirklich volle, aber dennoch sehr ausdrucksstarke Stimme von Eva Müller. Andere Stücke leben von zarten KeyboardTupfen (z.B. das intime "La Gare") und der alte Gassenhauer "Besame mucho" kommt in einer angenehm freien Bearbeitung: der zarte Gesang wird hier von einem stimmungsvollen Akkordeon, einer traurigen Geige und sogar etwas human beatboxing begleitet. Was erstaunlicherweise sehr gut in das jazzige Setting passt. 4 Wer nicht weiß, was ein Umelied ist, kann das aus dem booklet zur CD "Die Umelieder-Kollektion" (Rabbit Hill) lernen. RUEDI HÄUSERMANN (fl, cl, bsax und "örgeli"), MARCO KÄPPELI (dr, AsaChan, xyl) und CLAUDE MEIER (b, ac.bg) entlehnten die Titel ihrer 11 Stücke dem Werk des großartigen Daniil Charms, schon das verdient Beachtung und Anerkennung! Musikalisch ist die Sammlung bunt und zwar nicht unbedingt gefällig, aber auch nicht übermäßig anstrengend. Ausgehend von einfachen Melodiebögen werden die Ideen gewendet und gedreht, gestreckt und verschoben, gestaucht und wieder geglättet... Sehr gute Unterhaltung! 4 Deutlich akademischer, doch nicht zu verkopft streicht der sinnig TWENTY FINGERS DUO benannte Geige/Cello-2er von Lora Kmieliauskaitė und Arnas Kmieliauskas (welch wunderbare Namen!) auf "Performa" (Music Information Centre Lithuania) die Saiten. Man interpretiert sechs zwischen Elegie und Strenge pendelnde Kompositionen zeitgenössischer litauischer TonSetzer, die die Möglichkeiten der Instrumente und der SpielTechnik, aber auch die des Hörers ausloten. Sehr edel verpackt ist das Ganze auch noch! 4 Wieder anders verstehen MØSTER! Jazz, denn "Dust Breathing" (Hubro) ist zu zumindest gleichen Teilen auch Post- und NoiseRock. Ein epischer 15-Minüter (na gut, nicht ganz, aber 13:48 Min. sind schon nicht schlecht) eröffnet den Reigen, dann folgt ein ziemlich hektisches Stück ProgRockJazz und bevor es zu den drei das Gesamtkonzept schlüssig zusammenfassenden Teilen der "Organ Of Bodies"-Suite geht, erklingt noch das Feedback-schwangere Intermezzo "Ausculptation". Hier sind einfach Könner am Werk – das spricht aus jeder einzelnen Note. 5 Und von einer geglückten Verquickung aus AfroPop und Jazz können wir auch noch berichten. Der französische Sänger und Gitarrist DAVID WALTERS hat für "Nocturne" (Heavenly Sweetness) mit Vincent Segfal (clo), Ballaké Sissoko (kora) und Roger Raspail (perc) elf leichte, aber niemals banale Songs eingespielt. Einige davon (etwa das Falsettgesungene "Carioca" oder auch die rap-lines z.B. in "Freedom") bleiben noch sehr lange im Ohr. Ein sehr willkommenes (gedämpftes) Licht im FebruarDunkel. 4
Fear No Jazz
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