interviews kunst cartoon konserven liesmich.txt filmriss dvd cruiser live reviews stripshow lottofoon

CHERRY GLAZERR

Erlaubt ist, was gefällt

CHERRY GLAZERR

Clementine Creevy ist erwachsen geworden. War auf den ersten drei Platten ihrer Band Cherry Glazerr bisweilen juveniler Spaß wichtiger als echter Tiefgang, hat die Amerikanerin die erzwungene Pandemiepause dazu genutzt, in ihrem Leben ein wenig aufzuräumen. In dieser Zeit der Selbstreflexion entstanden die Songs ihres neuen Albums ´I Don’t Want You Anymore´, auf dem sie gemeinsam mit Co-Produzent Yves Rothman (Yves Tumor, Blondshell, Amaarae) angriffslustig die Möglichkeiten entdeckt und ihre Lieder auch klanglich so frei wie nie zuvor in alle erdenklichen klanglichen Richtungen jenseits des Indierock-Horizonts früherer Platten schubst und selbst vor unverschämt poppigen Momenten keine Angst hat.

Clementine Creevy ist gerade einmal 26 Jahre alt, trotzdem gibt es ihre Band Cherry Glazerr inzwischen bereits zehn Jahre. Doch auch wenn die in Los Angeles heimische Musikerin schon zu Highschool-Zeiten losgelegt hat – die Idee, Rockstar zu werden, schwirrt noch viel länger in ihrem Kopf herum.

„Schon als kleines Kind habe ich davon fantasiert, vor vielen, vielen Leuten aufzutreten, und irgendwie war mir schon damals klar: Alright, das ist das, was ich tun will!“, erinnert sie sich WESTZEIT-Interview lachend. Auch wenn sie noch nicht ganz auf dem Rock-Olymp angekommen ist, blickt sie doch zufrieden auf das bislang Erreichte zurück. „Ich denke, ich habe viele Erfahrungen gemacht, die ich zunächst als unbedeutend abgetan habe, aber als ich später daran zurückgedacht habe, wurde mir bewusst, dass es doch ziemlich cool ist, was ich alles schon erreicht habe, und ich bin sehr dankbar für alles: all die Dinge, die Realität geworden sind, die Orte, an denen ich auftreten durfte, die Leute, die ich getroffen habe. Ich will mir einfach weiter etwas aufbauen und Kunst erschaffen – und das ist genau das, was ich schon immer wollte!"

Tatsächlich schienen Cherry Glazerr nach der Veröffentlichung ihres letzten Albums, ´Stuffed & Ready´, und den mitreißenden Konzerten, die folgten, nur noch einen Schritt vom ganz großen Durchbruch entfernt, aber diesen fehlenden Schritt konnte Creevy nicht mehr machen, weil ihr die Pandemie in die Quere kam. Fühlte sie sich damals ausgebremst, oder wie hat sie die Situation wahrgenommen?

„Bevor COVID ausbrach, war ich sehr viel auf Tour gewesen, und es war tatsächlich richtig prima, zu einer Pause gezwungen zu sein“, erinnert sie sich. „Natürlich war es bisweilen schwer, Geld für meinen Unterhalt zusammenzukratzen, aber zum Glück war ich zuvor so viel auf Tour gewesen, dass ich gute Rücklagen hatte. Ständig unterwegs zu sein, war wie eine Sucht für mich gewesen, und deshalb war ich froh, mal auf andere Gedanken kommen zu können und mich ganz auf mich und das Songschreiben fokussieren zu können. Das war eine neue Erfahrung für mich, mir zur Abwechslung mal nicht meine Gesundheit zu ruinieren, weil ich zu jedem Tourneeangebot, ohne darüber nachzudenken, Ja sagte und deshalb einige Jahre lang 200 Shows pro Jahr spielte. Es war wirklich Zeit, ein wenig innezuhalten und mich auf die Dinge zu konzentrieren, die wirklich wichtig sind – die anderen Aspekte der Kunst und des Arbeitsprozesses."

Im Presseinfo heißt es, dass Creevy in dieser Phase ihr Leben genau unter die Lupe genommen hat. Was waren die wichtigsten Lektionen, die sie dabei gelernt hat?

„Ich tendiere in Beziehungen dazu, mich selbst zu verleugnen und zu verlieren“, antwortet sie nach kurzem Nachdenken. „Ich war in ein paar Beziehungen, in denen ich mich meinem Gegenüber zu sehr angepasst hatte. Mir wurde bewusst, dass ich mir Gedanken machen sollte, was bei mir falsch läuft, dass ich das ständig tue, mich in die Menschen zu verwandeln, die ich date. Inzwischen weiß ich, warum ich das getan habe, und ich habe gelernt, es nicht mehr zu tun: Es ging für mich einfach darum, Selbstbewusstsein aufzubauen. Dass mir das gelungen ist, lag sicherlich auch an der langen Zeit, die ich während der Pandemie allein verbracht habe."

All das kann man auch in den Songs auf Creevys neuem Album mit dem vielsagenden Titel ´I Don’t Want You Anymore´ fühlen und hören, denn ihre menschliche Wandlung hat auch deutliche Spuren in ihrer Musik hinterlassen.

„Die Ausführung war dieses Mal komplett anders, weil ich viel geduldiger war und mir richtig viel Zeit gelassen habe“, erzählt sie. „Bei der Entstehung dieser Platte ging es mir darum, viele schöne Melodien zu finden und viel Raum zu lassen, während besonders an den beiden vorangegangenen Platten sehr viele verschiedene Leute beteiligt waren und es viel stärker um das Handwerkliche ging, darum, die Songs zu perfektionieren und aus ihnen makellos strukturierte kleine Pop-Rock-Nummern zu machen. Ich war sehr zufrieden damit, aber diese neue Platte ist ganz anders. Sie ist in gewisser Weise viel unstrukturierter, weil ich nicht das Gefühl hatte, dass ich mich an bestimmte Vorgaben halten musste. Es waren einfach Yves und ich, zusammen in einem Raum. Das war für mich etwas ganz Besonderes, weil es dieses Mal ausschließlich um meine Ideen ging, denn Yves hat mir keine Vorschriften gemacht, alles drehte sich um diese gewisse Atmosphäre, die mir vorschwebte.“

Auf dem neuen Album ist deshalb stilistisch alles erlaubt, was Creevy gefällt, das unterstreicht sie gleich zu Beginn der Platte, wenn mit der leisen Akustiknummer ´Addicated To Love´ und dem treibenden Synth-Pop von ´Bad Habit´ zwei Nummern aufeinanderprallen, die textlich wie klanglich die entgegengesetzten Enden eines breiten Spektrums abbilden.

„Ich denke zwar schon, dass ich inzwischen meinen Sound gefunden habe, aber ich habe nie das Gefühl, einem bestimmten Genre verpflichtet zu sein“, sagt Creevy. „Ich vertraue darauf, dass alles trotzdem einen Zusammenhang hat, weil alles aus der gleichen Quelle, vom gleichen Ort kommt! Ich mache einfach das, was sich in dem Moment richtig anfühlt."

Aktuelles Album: I Don't Want You Anymore (Secretly Canadian / Cargo)


Weitere Infos: www.cherryglazerr.com Foto: Maddy Rotman

Auch von Interesse
› Interview › SASAMI - Es kommt auf die Zutaten an (2022-02-03) ‹‹
› Interview › WEIHNACHTSVERLOSUNG 2017 - (2017-12-01) ‹‹
› Tonträger › Rock & Pop › CHERRY GLAZERR - I Don’t Want You Anymore (2023-10-01) ‹‹
› Tonträger › Rock & Pop › SASAMI - Squeeze (2022-02-01) ‹‹


Oktober 2023
BLUSH ALWAYS
CHERRY GLAZERR
IDA MAE
MAPLE GLIDER
MICK FLANNERY
PUBLIC IMAGE LTD.
SLOW PULP
WOLF & MOON
‹‹September November››