Nein, auch wenn die Presse oftmals noch darauf zurückgreift: Tocotronic anno 2013 ist weder Hamburger Schule, noch sind die vier Musiker (stetig) Teil einer Jugendbewegung, oder kommen in Adidas-Jacken daher. Tocotronic ist nun 20 Jahre alt, erwachsen, und musikalisch eher den Beatles & Stones zugeneigt... In einer Zeit, in der Bäume nackt dastehen, kleidet ein latentes Jubilieren den hiesigen Blätterwald: Die ursprünglich hamburgische Formation Tocotronic feiert Jubiläen. Einerseits gibt es ein erfrischendes, in analoger Studiotechnik eingespieltes 10. Studioalbum, während die gesamte Band - wie oben erwähnt - nunmehr 20 Jahre auf dem Buckel hat!
Kurz vor der letzten Zeitenwende empfingen die inzwischen nach Berlin emigrierten Original-Stammkräfte Dirk von Lowtzow (Worte), Jan Müller (Bass), Hanseat Arne Zank (Schlagzeug) und Rick McPhail (seit gut 7 Jahren festes Bandmitglied; Gitarre) im Homestudio des Letztgenannten die Journaille, um bezüglich des neuen Epos´ Rede und Antwort zu stehen. Vom morbiden Charme der Lyrik auf ´Wie wir leben wollen´ ist in den legendären Gemäuern nichts zu bemerken. Ganz im Gegenteil. Ein sehr gelöst wirkender von Lowtzow begrüßt eine Besucherin, bevor er sich den Journalisten widmet. Müller kommt etwas schüchterner daher. Zank und Hausherr McPhail warten derweil bereits Zigaretten-rauchend im Übungsraum, wo der Westzeit ein guter Platz zwischen den Instrumenten generiert wird. Nicht unerwartet dreht sich die Konversation weder um Jugendbewegungen noch um Indie-Musik-Schemata. Tocotronic 2013 steht vielmehr für Studio-Rock und psychedelische Anleihen. Der Albumtitel ´Wie wir leben wollen´ ist von den Musikern dezidiert nicht als Fragesatz formuliert. Er ist vielmehr so gemeint, dass man von der Kunst unter Umständen lernen kann, wie man leben möchte. Vielleicht ist diese Kunst dann auch politisch. Was genau als Lebenswunsch verstanden werden könnte, wurde in 99 Thesen abgehandelt, die dem CD-Info beigegeben wurden. Die aber subjektiv nicht als Diskussionsstoff taugen. Wünsche wie nach einem Leben ´Anders als die Anderen´, ´Mit ausgedehnter Seele“´, ´Eingewickelt in ein Tuch´ oder ´Als Prinzessinnen´ würden sicher recht ergebnislose, hanebüchene Sinnbilder projizieren. Realer erscheinen da Überlegungen zum Entstehungsbild der Tracks. In ´Exil´ singt von Lowtzow ´Exil vom Malestream´. Musikalisch als auch textlich schimmern hier latent die Rolling Stones durch...McPhail: „Dirk kam aus einem Restaurant, als er Berichte über die Stones-Platte `Exile On Main Street´ wahrnahm... Außer dem Titel und den `uh uuuhs´ haben wir aber, glaub ich, nichts geklaut.“
Einfach, gut. Muss denn fortwährend ein hochgradig intellektueller Background bestehen, um gute Songs zu erschaffen? Marginalien? Nein, schließlich wurden vor den Aufnahmen zum Longplayer Beatles- und Beach Boys-Platten auf ihren psychedelischen Pop-Appeal hin geprüft. Godards Studie darüber, wie eine Rockband musiziert, wurde bestaunt. Heraus kam ein Werk, dass scheinbar eine Melange aus deutscher Lyrik, Schlager, Westcoast-Romantik und psychedelischer Wahrnehmung impliziert.
McPhail: „Wir hören zwischendurch gern psychedelische Rockmusik, z.B. die Wiederveröffentlichungen der Westcoast-Art-Band Zombies, oder „Sgt. Pepper“ von den Beatles. Und wir wollten eine richtige Studioplatte machen, weil die letzten zwei Scheiben sehr nahtlos mit Livesachen verbunden waren.“
Zank: „Bereits vor den Aufnahmen wussten wir genau, was wir mit den Instrumenten machen wollten. Wir hatten vorab Arrangements gekürzt, umgeschrieben.“
Letztendlich wurde auf diese Weise einem außergewöhnlichen Werk Leben eingehaucht, wenngleich die Lyrik doch sehr morbide zu sein scheint (siehe CD-Review).
McPhail lacht. „Wir sind eine Gruftie-Band!“
Sarkasmus? Ironie? Ein seichter Spaß. Oder ein Versuch, die eigene Lyrik nicht erklären zu müssen.
McPhail: „Unsere Texte sind kein Dadaismus...“
Zank: „... und kein schubidu. Gut geschriebene Rockmusik soll sich schließlich reimen! Manchmal ist es schwierig, selbst etwas dazu zu sagen. Man zerredet vielleicht die liebenswürdige, schillernde, ambivalente Magie, den Zauber, den das Werk haben kann.“
Keine Angst, ´Wie wir leben wollen´ hat eine besondere Magie, und tatsächlich braucht diese auch nicht erklärt zu werden. Kurz: Glück-wunsch, Tocotronic, zur wunderbaren 10. Studioplatte zum 20jährigen Bandjubiläum!
Aktuelles Album: Wie wir leben wollen (Universal)
Weitere Infos: www.tocotronic.de Foto: Michel Petersohn