Textberge aus zwei Jahren Theaterarbeit in Köln, Leipzig, Hamburg, München und Düsseldorf bewältigt, Collagen gefertigt, Musik komponiert – obwohl der Mensch an sich möglicherweise nachlässt, trifft diese Erkenntnis auf Schorsch Kamerun nicht zu. Sein Beitrag zur Sich-Einmischen-Strategie resultiert aus unzähligen Gespräche mit Menschen, die nicht auf den Theaterbühnen standen sondern denen er vor und nach den Projektarbeiten begegnete.
´Lebt euer eigenes Leben, schaut zuerst einmal bei euch vorbei´, heißt eine Zeile in dem Song ´Übereigendarstellerei´. Ist das als Lobgesang auf das eigene Ego oder als Hinweis, nicht zuerst auf andere zu zeigen, gemeint?„Die Zeile meint, dass man nicht versuchen sollte, alles zu erfüllen, wozu man bei der Erreichung von Selbstdarstellungsprofilen aufgefordert wird. Angesprochen wird der Identitätsüberdruck, den man heutzutage zu leisten hat, was idiotisch ist. Der Text fragt nach Entschleunigungsmöglichkeiten. Heute wird zum Beispiel erwartet, gleichzeitig Veganer, guter Handwerker, interessanter Netzwerker usw. zu sein und daneben noch ein spannendes Profil auf sozialen Plattformen zu betreiben. Was dazu führt, dass die Menschen eigentlich nicht mehr nur das machen, was sie eigentlich wollen oder gut können, sondern zig Dinge darüber hinaus. Das ist die Aufforderung unserer Zeit an jeden und jede: origineller Autor zu sein und Blogger, guter Filmemacher und was sonst noch. Im Text kommt etwa vor, dass der Sänger von 'Scooter', H.P. Baxter, plötzlich auch noch Thomas Bernhard- Hörbücher veröffentlicht. Jeder ist Superstar - auf jedem Gebiet. Als Chance ist das vielleicht gar nicht so schlecht, nur resultiert daraus Überforderungsdruck, mit denen auch die Burn-out-Problematik zu tun hat. Vielleicht also eher bei dem bleiben was man wirklich kann und will, ohne immer nur zu reagieren sondern selbst zu agieren. Ich stecke da allerdings genauso mit drin, bei aller Reflexion.“
Was steckt hinter dem Projekt und wie war deine Arbeitsweise?
„Ich habe aus fünf Theaterprojekten der letzten zwei Jahre in Leipzig, Köln, Hamburg, Düsseldorf und München in unzähligen Gesprächen jeweils über sechs, sieben Wochen lang Material gesammelt. Wir haben Fragen diskutiert wie `Wo stehen wir in unserer Gesellschaft? Was muss man da leisten? Warum können wir nicht richtig im falschen Leben leben?` Ich versuche dabei gar nicht erst, der alleinige Autor für meine Stücke zu sein, bei diesen hochkomplexen Themen. Aus den Gesprächen resultieren dann die Texte für Songs und Spielszenen. Eines der drängenden Themen war die `Verwaltung des Selbst`. Oder es ging um die neueren Empörungsstrategien, die wir in den letzten zwei Jahren vermehrt erlebt haben. Aus den geführten Interviews füge ich dann Textcollagen zusammen.“
Wie entsteht die Musik zu den einzelnen Texten?
„Die Musik ist zum Teil komponiert. In den vergangenen Jahren habe ich viel mit Carl Oesterhelt von Freiwillige Selbstkontrolle, der moderne Klassik nebenher schreibt, zusammen gemacht. Er hat mir Stücke geschrieben, die ich mit unterschiedlichen Musikern umgesetzt habe. Einmal zum Beispiel mit einer Saxophonklasse von der Musikhochschule in Leipzig. Ich überlege mir dann die Gesangslinien.“
Wie umfangreich ist das Textmaterial, aus dem du ausgewählt hast?
„Endlos. Ich habe dafür eine Technik entwickelt, mit der ich möglichst schnell durch die Textberge durchharke und sie zu einzelnen Liedern oder Monologen verdichte. Ich mache sozusagen Gedichte aus ganz vielen Gesprächen. Hinzu kommen unterschiedlichste Aktualitäten. Im Schauspielhaus Köln habe ich einmal einen Hilferuf der „Gaza Youth“ aus dem Gaza-Streifen eingebaut. Dieses Pamphlet war wirklich sehr bewegend in seiner offenen Dringlichkeit. In Köln waren auch Aktivisten von `Occupy Wallstreet` beteiligt, in München Leute von einem Bauwagenplatz, was alles mit eingeflossen ist. Die Texte sind eben klassische Zeitdokumente. Manchmal erfinde ich auch selbst Passagen dazu. Aber so weit wie möglich benutze ich Collagenblöcke aus den Gesprächen. Natürlich – es ist reiner Betrug, kann es ja nur sein. (lacht) Was wir als Authentizität, als wahre Nachricht erleben, wird heute eben auch gelenkt zusammengestellt, die Meldungen, die wir empfangen, sind eigentlich auch eine große Collage. Oder welche Bilder sind wirklich wahr? Ein gutes Beispiel dafür ist die letzte Fußball-EM, als Jogi Löw einem Jungen den Ball wegspitzelte und sich danach heraus stellte, dass die ältere Szene lediglich in die Liveberichterstattung hinein geschnitten war.“
Die CD heißt ´Der Mensch lässt nach´. Worin oder wobei lässt er denn nach?
„Im Jahr 1972 gab es den umfangreichen Bericht des 'Club Of Rome' über Wachstumserwartungen und dessen Grenzen. Fakt ist, da lässt sich nichts mehr wachsen wo kein Raum mehr frei ist, man kann höchstens noch verdichten oder versuchen eine andere, bisher allerdings undefinierte Qualität zu erreichen. Wir wurden sozialisiert mit dem Glauben daran, das alles immer größer werden muss. Der Mensch ist ein Synonym für zu schnelles Wachstum unserer Zeit, gleichwohl erlahmt er in seinen Ausdehnungsmöglichkeiten.“
Aktuelle LP (inkl. CD): Der Mensch lässt nach (Buback / Indigo)
Foto: Michelbomichel